Titel:
Ausreisefrist, Abschiebungshindernis, Verfahrenskostenhilfeantrag, Durchführbarkeit der Abschiebung, Geplante Abschiebung, Abschiebungserschwerung, Abschiebungsverbot, Schriftformerfordernis, Aufenthaltsbeendigung, Vollziehbar Ausreisepflichtige, Beschwerdegericht, Betroffenheit, Freiheitsentziehung, Persönliche Anhörung, Algerische Staatsangehörige, Elektronisches Dokument, Sitzungspolizei, Kosten des Beschwerdeverfahrens, Verwaltungsgerichte, Kostenentscheidung
Schlagworte:
Ausreisegewahrsam, Abschiebung, Asylverfahren, Klageabweisung, Verfahrenskostenhilfe, Flugunwilligkeit, Ermessensausübung
Vorinstanz:
AG Haßfurt vom 17.02.2023 – 9 XIV 1/23 (B)
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 09.09.2025 – XIII ZB 40/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 57448
Tenor
1. Die Beschwerde des Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Haßfurt vom 17.02.2023, Az. 09 XIV 1/23 (B), wird zurückgewiesen.
2. Der Verfahrenskostenhilfeantrag des Betroffenen vom 23.02.2023 wird zurückgewiesen.
3. Der Betroffene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
4. Der Gegenstandwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Betroffene ist algerischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 09.08.2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 06.09.2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erstmals die Anerkennung als Asylberechtigter. Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 05.10.2021 abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Betroffene wurde zudem aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte ihm die Abschiebung nach Algerien binnen 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens an. Gegen diesen Bescheid erhob der Betroffene am 18.10.2021 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg. Der Antrag wurde mit Beschluss vom 09.12.2021 abgewiesen. Der Betroffene ist seit dem 28.01.2022 vollziehbar ausreisepflichtig. Er hat die Ausreisepflicht von 30 Tagen ungenutzt verstreichen lassen und keine Anstalten zu freiwilliger Ausreise unternommen.
2
Mit Beschluss vom 17.02.2023, Az. 09 XIV 1/23 (B), ordnete das Amtsgericht Haßfurt gegen den Betroffenen den Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Rücküberstellung gemäß § 62b AufenthG bis zum Ablauf des 23.02.2023 an (vgl. Bl. 17 – 21 d.A.).
3
Hiergegen wendet sich der Betroffene mit Anwaltschriftsatz vom 23.02.2023. Er beantragte festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat und beantragte überdies die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von RA … (vgl. Bl. 24 d.A.). Zur Begründung trug der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit des Verfahrens vor, weil bei der Anhörung zwei Vorführbeamte der PI Haßfurt zugegen gewesen seien. Zudem sei der Haftantrag per Fax und nicht wie von § 14b FamFG gefordert als elektronisches Dokument übermittelt worden. Dem Gericht habe außerdem nicht die vollständige (Ausländer-)Akte vorgelegen und es fehle an einer erkennbaren Ermessensabwägung, weswegen die Haftanordnung rechtswidrig sei (vgl. Bl. 48 – 49, 67 – 68 d.A.).
4
Die für den 23.02.2023 geplante Abschiebung des Betroffenen scheiterte, weil der Flugkapitän infolge der vom Betroffenen geäußerten absoluten Flugunwilligkeit dessen Beförderung verweigerte. Der Betroffene wurde daher am 23.02.2023 ins Inland entlassen.
5
Der Beschwerde half das Amtsgericht Haßfurt mit Beschluss vom 21.03.2023 nicht ab (vgl. Bl. 42 d.A.).
6
Die gemäß §§ 58 ff., 415 ff FamFG i.V.m. § 106 Abs. 2 AufenthG zulässige Fortsetzungsfeststellungsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
7
Das Amtsgericht Haßfurt hat zu Recht gemäß § 62b Abs. 1 S. 1 AufenthG i.V.m. §§ 416, 417 Abs. 1, Abs. 2, 420 Abs. 1 S. 1, 421, 422 Abs. 2 S. 1 FamFG den Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung bis zu deren Vollzug, längstens jedoch bis zum Ablauf des 23.02.2023 angeordnet. Die angefochtene Entscheidung ist nicht zu beanstanden.
8
1. Der Antrag der beteiligten Behörde vom 13.02.2023 auf Ausreisegewahrsam gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG ist zulässig. Er erfüllt die Voraussetzungen des § 417 FamFG, insbesondere wurde er ordnungsgemäß gestellt und enthält die gemäß § 417 Abs. 2 FamFG erforderliche Begründung.
9
a) Der Antrag wurde ordnungsgemäß gestellt. Dem steht nicht entgegen, dass die Behörde den Antrag per Fax und nicht als elektronisches Dokument an das Amtsgericht Haßfurt übermittelt hat. Entgegen der Ansicht der Beschwerdebegründung steht der Wirksamkeit des Antrags die Formvorschrift des § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG nicht entgegen. Vielmehr findet bei Anträgen nach § 417 FamFG § 14b Abs. 2 S. 1 FamFG Anwendung.
10
Gemäß § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG sind bei Gericht schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen durch einen Rechtsanwalt, durch einen Notar, durch eine Behörde oder durch eine juristische Person des öffentlichen Rechts als elektronisches Dokument zu übermitteln. Allerdings ist die Pflicht zur elektronischen Übermittlung gemäß § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG auf Anträge und Erklärungen beschränkt, welche nach dem Gesetz zwingend schriftlich (i.S.d. § 126 BGB) einzureichen sind (vgl. Zöller, ZPO, 34. Auflage 2022, § 14b FamFG Rn. 1 m.w.N.). Bereits nach dem Wortlaut sind vom Anwendungsbereich des § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG nur „schriftliche“ Anträge und Erklärungen umfasst. Die Verwendung der Bezeichnung „schriftlich“ im Rahmen einer Norm ist als Schriftform im Sinne des § 126 BGB zu verstehen. Entsprechendes ergibt sich aus der Systematik des § 14b FamFG. Ginge man davon aus, dass von § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG auch sonstige, z.B. in Textform gehaltene Erklärungen und Anträge umfasst werden, würde der Anwendungsbereich des § 14b Abs. 2 FamFG völlig leerlaufen. Im Gegensatz zur Regelung des § 130d ZPO wurde in § 14 FamFG der zweite Absatz im Rahmen der letzten Gesetzesänderung vom 05.10.2021 allerdings bewusst eingefügt.
11
§ 417 FamFG enthält für Ausreisegewahrsamsanträge kein zwingendes Schriftformerfordernis i.S.v. § 126 BGB, welches die Anwendung des § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG bedingen würde. Insbesondere ergibt sich ein solches nicht aus § 23 FamFG. Zwar „soll“ gemäß § 23 Abs. 1 S. 4 FamFG der verfahrensleitende Antrag unterschrieben werden, eine zwingende Formvorschrift ist hierdurch allerdings nicht angeordnet (vgl. hierzu auch Zöller, 34. Auflage, § 23 Rn. 5 m.w.N.). Der per Fax am 13.02.2023 eingereichte Antrag stellt somit einen ordnungsgemäßen Antrag i.S.v. § 417 FamFG dar. b)
12
Der Antrag enthält auch die gemäß § 417 Abs. 2 FamFG erforderliche Begründung. Der Antrag der Regierung von Unterfranken vom 13.02.2023 enthält Tatsachen zur Identität des Betroffenen, zum gewöhnlichen Aufenthaltsort, zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung, zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung sowie zur Verlassenspflicht sowie zu den Voraussetzungen und Durchsetzbarkeit der Abschiebung.
13
2. Der Antrag der beteiligten Behörde vom 13.02.2023 auf Ausreisegewahrsam gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG ist auch begründet. Die Voraussetzungen für die Anordnung des Ausreisegewahrsam lagen und liegen vor. Die Voraussetzungen des § 62b Abs. 1 AufenthG sind erfüllt. Danach kann ein Ausländer zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung auf richterliche Anordnung bis zu zehn Tage in Gewahrsam genommen werden, wenn (1.) die Ausreisefrist abgelaufen ist, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich, (2.) feststeht, dass die Abschiebung innerhalb dieser Frist durchgeführt werden kann und (3.) der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Das wird vermutet, wenn er (a) seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten verletzt hat, (b) über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat, (c) wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben oder (d) die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat. Dies gilt nicht, wenn der Ausländer glaubhaft macht oder wenn offensichtlich ist, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will.
14
a) Die Ausreisefrist ist um über ein Jahr und damit erheblich überschritten. Der Betroffene, der ohne Weiteres hätte freiwillig ausreisen können, war nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert.
15
b) Der Betroffene konnte innerhalb der Zehntagesfrist abgeschoben werden, da die Abschiebung nach Algerien für den 23.02.2023 vorbereitet worden ist. Die Abschiebung ist nur deshalb gescheitert, weil der Betroffene – bereits im Flugzeug sitzend – gegenüber der Flugcrew und dem Piloten absolute Flugunwilligkeit angegeben hat, woraufhin der Flugkapitän die Beförderung des Betroffenen verweigert hat.
16
c) Dass der Betroffene die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird, wird jedenfalls nach § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3d vermutet, da er die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat. Zudem hat der Betroffene – obwohl er mehrfach zur Passpflicht belehrt wurde – keine originalen Identitätsdokumente vorgelegt oder Bemühungen nachgewiesen, sich derartige nachweise zu beschaffen, wodurch er die behördlichen Maßnahmen zu einer Aufenthaltsbeendigung erschwert hat (§ 62b Abs. 1 S. 1 Nr. 3a AufenthG).
17
d) Dass der Betroffene sich der Abschiebung nicht entziehen werde, hat er weder glaubhaft gemacht noch ist dies offensichtlich.
18
e) Abschiebehindernisse i.S.d. §§ 58 ff. AufenthG sind nicht ersichtlich und werden vom Betroffenen auch nicht geltend gemacht.
19
3. Mildere Mittel als die Anordnung des Ausreisegewahrsams zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung sind nicht ersichtlich. Die Verhängung von Meldeauflagen oder die Verfügung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, wären in Anbetracht des bisherigen Verhaltens des Betroffenen (fortgesetzte Verletzung von Mitwirkungspflichten) offensichtlich nicht geeignet, die Abschiebung des Betroffenen nach Algerien sicherzustellen. Die Annahme, der Betroffene würde freiwillig ausreisen, ist fernliegend, da er von dieser Möglichkeit bisher über einen erheblichen Zeitraum keinen Gebrauch gemacht hat und auch im Übrigen kein Vortrag dazu erfolgt, dass eine Ausreise konkret geplant sei. Es steht konkret zu befürchten, dass der Betroffene sich der Abschiebung nach Algerien entziehen würde.
20
Zudem ist kein Umstand erkennbar, der gegen die Verhältnismäßigkeit der Gewahrsamsanordnung im Übrigen spricht, insbesondere ist auch die Dauer von sieben Tagen nicht unverhältnismäßig lang.
21
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist unter Berücksichtigung aller Umstände gewahrt.
22
4. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft gemäß § 72 Abs. 4 AufenthG ist, soweit erforderlich, erteilt.
23
5. Entgegen dem Beschwerdevorbringen lag dem Amtsgericht die Ausländerakte in vollständiger Form vor. So erklärte die zuständige Richterin, dass die Ausländerakte seit 13.02.2023 in kompletten Umfang vorlag (vgl. Bl. 59 d.A.), was durch den E-Mail-Verkehr belegt wurde (Bl. 60 ff. d.A.). Ausweislich des Beschlusses hat das Gericht auch von dem ihm zustehenden Ermessen im Einzelfall Gebrauch gemacht: So hat es ausgeführt, dass das staatliche Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen überwiegt, weil der Betroffene seit 28.01.2022 vollziehbar ausreisepflichtig ist und aktuell auch über keine Duldung mehr verfügt, was aus Sicht der Kammer eine nachvollziehbare und ausreichende Ermessensausübung darstellt.
24
6. Auch liegt – entgegen dem Beschwerdevorbringen – kein Verstoß gegen den Nichtöffentlichkeitsgrundsatz aufgrund der Anwesenheit von zwei Vorführbeamten der Polizeiinspektion ... vor. Die Anwesenheit der Vorführbeamten war vielmehr notwendig, um eine Flucht des Betroffenen zu verhindern und die Sitzung ordnungsgemäß durchführen zu können. Das Gericht hat sich dabei der beiden Polizeibeamten in Amtshilfe zur Durchsetzung der ihm zustehenden Sitzungspolizei bedient, sodass diese berechtigt waren an der nichtöffentlichen Sitzung teilzunehmen.
25
7. Einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen durch die Beschwerdekammer bedurfte es nicht. Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG kann das Beschwerdegericht von der Durchführung einzelner Verfahrenshandlungen absehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG räumt auch in einem Ausreisegewahrsamsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen, etwa wenn die erstinstanzliche Anhörung des Betroffenen nur kurze Zeit zurückliegt, sich nach dem Akteninhalt keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder rechtliche Gesichtspunkte ergeben, das Beschwerdegericht das in den Akten dokumentierte Ergebnis der erstinstanzlichen Anhörung nicht abweichend werten will und es auf den persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Betroffenen nicht ankommt. Das ist vorliegend der Fall; der Betroffene wurde am 17.02.2023 durch das Amtsgericht Haßfurt persönlich angehört – seine dortigen Angaben wurden berücksichtigt, neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten.
26
Der gemäß den §§ 68 Abs. 3 S. 1 FamFG, 114 ff. ZPO statthafte Antrag auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ...für das Beschwerdeverfahren ist mangels Erfolgsaussicht der Rechtsverteidigung aus den vorgenannten Gründen zurückzuweisen.
27
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
28
Die Festsetzung des Geschäftswertes beruht auf § 36 Abs. 3 GNotKG.