Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 19.12.2023 – W 4 K 20.2092
Titel:

Erfolgreiche Klage eines Nachbarn gegen eine seinen den Gebietserhaltungsanspruch verletzende Baugenehmigung zur Errichtung eines Bankverwaltungsgebäudes auf dem Nachbargrundstück in einem Mischgebiet

Normenketten:
BauGB § 34
BauNVO § 6
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Die Dominanz der durch die von der Beigeladenen geplanten gewerblichen Betriebe ergibt sich daher bereits aus der massiven Größe der gewerblichen Nutzfläche. Daneben wird das Vorherrschen der gewerblichen Nutzung aus dem erheblich überwiegenden Anteil der gewerblich genutzten Geschossflächen gegenüber dem Anteil der der Wohnnutzung dienenden Geschossflächen deutlich. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Baugenehmigung zur Errichtung eines Bankverwaltungsgebäudes mit Tiefgarage, Gebietserhaltungsanspruch, „Kippen“ eines (faktischen) Mischgebiets in Gewerbegebiet, gewerbliche Nutzung, Festsetzungen des Bebauungsplans, Bebauungsplan, Baugenehmigung, Anfechtungsklage, Mischgebiet, Nachbarschutz, Augenschein
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.08.2025 – 9 ZB 24.355
Fundstelle:
BeckRS 2023, 57117

Tenor

I.Der Bescheid des Beklagten vom 23. November 2020 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 23. Mai 2023 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 22. November 2023 wird aufgehoben. 
II.Der Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen. 
III.Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Bankverwaltungsgebäudes.
2
1. Die Beigeladene betreibt auf dem im westlichen Bereich bereits mit einem Bankgebäude bebauten Grundstück Fl.Nr. …2 der Gemarkung B* … (Vorhabengrundstück) ein Bankgeschäft. Das im Eigentum des Klägers stehende Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung B* … (* …tstraße …, … … … … … …*) grenzt in westlicher und nördlicher Richtung unmittelbar an das Vorhabengrundstück an und weist entlang dieser Grenze Wohnbebauung auf.
3
Die vorgenannten Grundstücke liegen im Geltungsbereich des seit dem 27. Mai 1995 rechtsverbindlichen Bebauungsplans „…“ der Stadt … … … … …, der für den maßgeblichen Bereich ein Mischgebiet festsetzt. Hinsichtlich der weiteren zeichnerischen und textlichen Festsetzungen des vorgenannten Bebauungsplans wird auf diesen Bezug genommen.
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Unter dem 3. August 2020 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines Verwaltungsgebäudes im nördlichen Bereich des Vorhabengrundstücks, welches aus drei Gebäudeteilen bestehen, im Erdgeschoss eine Tiefgarage, Technik- und Archivräume und in den Obergeschossen Büroräume unterbringen soll. Daneben beantragte sie Befreiungserteilungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans bezüglich der Überschreitung von Baulinien, Baugrenzen und der Traufhöhe. Hinsichtlich der Einzelheiten des geplanten Vorhabens wird auf die mit dem Bauantrag eingereichten Planunterlagen Bezug genommen.
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2. Mit Bescheid vom 23. November 2020, dem Kläger zugestellt am 28. November 2020, erteilte das Landratsamt Rhön-Grabfeld der Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung zur Errichtung des „Verwaltungsgebäudes Bankareal“ auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 und gewährte die beantragten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans „…“ wegen der Überschreitung der nördlichen Baulinie und südöstlichen Baugrenze sowie der Traufhöhe im Bereich der dreigeschossigen Gebäudeteile.
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Mit Bescheid vom 23. Mai 2023 ergänzte das Landratsamt Rhön-Grabfeld die Baugenehmigung vom 23. November 2020 um eine weitere Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Geschossigkeit (Ziffer I) sowie um immissionsschutzrechtliche Nebenbestimmungen (Ziffer II).
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Mit weiterem Bescheid vom 22. November 2023 genehmigte das Landratsamt Rhön-Grabfeld die beantragte Tektur über die Änderung der Zufahrtssituation, die ausweislich der eingereichten Tekturvorlagen die Verlegung des Ein- und Ausfahrtsbereich zur geplanten Tiefgarage auf die Ostseite vorsieht.
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Hinsichtlich der Begründungen wird auf den Inhalt der vorbezeichneten Bescheide des Landratsamtes Rhön-Grabfeld vom 23. November 2020, 23. Mai 2023 und 22. November 2023 Bezug genommen.
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3. Mit Schriftsätzen seines Bevollmächtigten vom 17. Dezember 2020 – eingegangen bei Gericht am selben Tag – und 14. Juni 2023 – eingegangen bei Gericht am 15. Juni 2023 – ließ der Kläger gegen die Bescheide vom 23. November 2020 (W 4 K 20.2092) und vom 23. Mai 2023 (W 4 K 23.831) Klage erheben und zuletzt sinngemäß beantragen:
Der Bescheid des Beklagten vom 23. November 2020 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 23. Mai 2023 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 22. November 2023 wird aufgehoben.
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Klagebegründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Baugenehmigung verletze den Kläger in seinem Gebietserhaltungsanspruch, weil das ausgewiesene Mischgebiet nur drei Wohnhäuser zähle, die gewerbliche Nutzung dominiere und der Gebietscharakter durch die Zulassung des geplanten Vorhabens in ein Gewerbegebiet kippe. Ferner sei der Baugenehmigungsbescheid in nachbarrechtlich relevanter Art zu unbestimmt. Die erteilten Befreiungen verletzten den Kläger in ihn schützenden Rechten, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlägen und die einschlägigen Festsetzungen des Bebauungsplans drittschützenden Charakter aufwiesen. Außerdem überschreite das Vorhaben die festgesetzte Geschossflächenzahl und erweise sich als rücksichtslos. Die straßenmäßige Erschließung und der nördlich seines Anwesens geplante Aufenthalts- und Sitzbereich stellten für den Kläger infolge der aus dem Ein- und Ausfahrtsverkehr sowie dem Gesprächslärm herrührenden Immissionen eine unzumutbare Beeinträchtigung dar. Schließlich werde unter dem Deckmantel einer Ergänzung bzw. Tektur vorliegend ein neues Bauvorhaben genehmigt.
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4. Mit Schriftsätzen vom 17. Mai 2021 (W 4 K 20.2092) und 22. Juni 2023 (W 4 K 23.831) beantragte das Landratsamt Rhön-Grabfeld für den Beklagten,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Vorhaben der Beigeladenen entspreche der Gebietsart des festgesetzten Mischgebiets. Weiterhin seien die von den Befreiungen tangierten Festsetzungen nicht nachbarschützend. Das Vorhaben sei auch nicht rücksichtslos, da angesichts dessen Lage im nördlichen Bereich des Vorhabengrundstücks, der Einhaltung von Abstandsflächen und der im Schritttempo erfolgenden Zufahrt nicht von unzumutbaren Belastungen auszugehen sei. Außerdem sei der Zu- und Abfahrtsverkehr zum Schutz der Nachbarn auf die Tageszeit beschränkt und vollständig auf die Ostseite verlegt worden. Im Übrigen bliebe die Kubatur des Gebäudes unverändert.
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5. Mit Beschluss vom 17. Dezember 2020 (W 4 K 20.2092) und 16. Juni 2023 (W 4 K 23.831) wurde die Bauherrin zum Verfahren beigeladen, die zuletzt beantragen ließ,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Bebauungsplangebiet verliere durch die Realisierung des Vorhabens nicht den Mischgebietscharakter. Im Rahmen der erforderlichen Einzelfallbetrachtung zur Prüfung des Bestehens eines ausgewogenen Verhältnisses sei hier das dem einschlägigen Bebauungsplan zugrundeliegende Planungskonzept, das die Erweiterung der bestehenden Bankfiliale vorsehe, zu berücksichtigen. Zudem befänden sich im östlichen Bereich des Vorhabengrundstücks unbebaute Flächen, auf denen eine mehrgeschossige Wohnbebauung verwirklicht werden könne.
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6. Mit Bescheid vom 28. Januar 2022 erteilte das Landratsamt Rhön-Grabfeld der Beigeladenen eine weitere Baugenehmigung zur Errichtung einer Lagerhalle auf dem Vorhabengrundstück. Hiergegen ließ der Kläger die unter dem Aktenzeichen W 4 K 22.336 geführte Klage erheben.
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7. Aufgrund Beschlusses vom 29. Juni 2022 hat das Gericht im Verfahren W 4 K 20.2092 Beweis erhoben durch die Einnahme eines Augenscheins über die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Vorhabengrundstücks, welcher am 22. November 2022 durchgeführt worden ist. Diesbezüglich wird auf das Protokoll über den Augenschein und die dort gefertigten Lichtbilder Bezug genommen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren und in den Verfahren W 4 K 22.336 und W 4 K 23.831, auf die beigezogenen Behördenakten sowie auf das Protokoll über die öffentliche mündliche Verhandlung am 19. Dezember 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat Erfolg.
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1. Nach vorgenommener Verbindung der in sachlichem Zusammenhang stehenden Verfahren W 4 K 20.2092 und W 4 K 23.831 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung sowie der zulässigen klageändernden Einbeziehung der Tekturgenehmigung des Landratsamtes Rhön-Grabfeld vom 22. November 2023 (vgl. S. 3 ff. des Protokolls über die mündliche Verhandlung am 19.12.2023), umfasst der Streitgegenstand im vorliegenden Verfahren den Baugenehmigungsbescheid des Landratsamtes Rhön-Grabfeld vom 23. November 2020 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 23. Mai 2023 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 22. November 2023, dessen Aufhebung der Kläger als Nachbar begehrt.
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Die von ihm aus diesem Grund erhobene Anfechtungsklage ist zulässig und begründet. Denn der streitgegenständliche Genehmigungsbescheid vom 23. November 2020 in Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 23. Mai 2023 und der Tekturgenehmigung vom 22. November 2023 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2. Die auf die Aufhebung einer erteilten Baugenehmigung gerichtete Anfechtungsklage eines Dritten – wie hier des Klägers als Nachbar – hat nur dann Erfolg, wenn der angefochtene Genehmigungsbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Es genügt nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Vorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2023 – 15 CS 23.1816 – juris Rn. 18).
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Daneben muss sich die Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung aus einer Verletzung von Vorschriften ergeben, die im einschlägigen Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (vgl. BayVGH, B.v. 21.7.2020 – 2 ZB 17.1309 – juris Rn. 4). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren jedoch nicht zu prüfen war, trifft die Genehmigung insoweit keine Regelung und ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtsschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen dessen Ausführung zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96 – juris Rn. 3; VG Würzburg, U.v. 27.6.2023 – W 4 K 22.1417 – juris Rn. 18).
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Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Vorgaben, der dem Gericht vorliegenden Planunterlagen sowie der örtlichen und baulichen Verhältnisse vor Ort, von denen sich das Gericht im Rahmen des am 22. November 2022 durchgeführten Augenscheins überzeugen konnte, verstößt die streitgegenständliche Baugenehmigung zum Neubau eines Verwaltungsgebäudes mit Tiefgarage und Stellplätzen gegen im einschlägigen Genehmigungsverfahren zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften, die auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
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Denn das Vorhaben der Beigeladenen verletzt den Kläger in seinem Gebietserhaltungsanspruch.
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Geht man dem Vortrag des Beklagten und der Beigeladenen folgend von der Wirksamkeit des seit dem 27. Mai 1995 rechtsverbindlichen Bebauungsplans „…“ der Stadt … … aus, folgt die Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs aus einem Verstoß gegen dessen Mischgebietsfestsetzung (2.1.). Aber auch bei unterstellter Unwirksamkeit des Bebauungsplans und einer Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB, wäre eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs anzunehmen (2.2.). Im hiesigen Verfahren kann deshalb dahinstehen, ob der Bebauungsplan „…“ infolge fehlender Darstellung der Flurstücke und Bestandsgebäude (vgl. § 1 Abs. 2 PlanZV) zu unbestimmt und daher unwirksam ist.
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2.1. Die Wirksamkeit des Bebauungsplans „…“ zugrunde gelegt, ist der dem Kläger zustehende Gebietserhaltungsanspruch (2.1.1.) deshalb verletzt, weil das Vorhaben der Beigeladenen mit dem Charakter des festgesetzten Mischgebiets unvereinbar ist (2.1.2. und 2.1.3.).
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2.1.1. Der Gebietserhaltungsanspruch gewährt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben in diesem Gebiet zur Wehr zu setzen und zwar unabhängig davon, ob die zugelassene gebietswidrige Nutzung sie selbst unzumutbar beeinträchtigt oder nicht (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2015 – 2 ZB 14.1164 – juris Rn. 14). Der weitreichend nachbarschützend wirkende Anspruch beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Grundstücke in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist (vgl. BVerwG, B.v. 18.12.2007 – 4 B 55/07 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 7.8.2023 – 15 CS 23.1179 – juris Rn. 29).
28
Der Bebauungsplan „…“ weist für das Vorhabengrundstück, das Grundstück des Klägers und den näheren Umgriff ein Mischgebiet aus. Gemäß § 6 Abs. 1 BauNVO dienen Mischgebiete dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Mangels ausdrücklicher Normierung eines Rangverhältnisses stehen Wohnen und gewerbliche Nutzung gleichrangig und gleichwertig nebeneinander. In dieser sowohl qualitativ als auch quantitativ zu verstehenden Durchmischung der beiden Nutzungsarten liegt die in § 6 Abs. 1 BauNVO normativ bestimmte besondere Funktion des Mischgebiets, die sich dadurch von den anderen Baugebietstypen der Baunutzungsverordnung unterscheidet (vgl. BVerwG, B.v. 11.4.1996 – 4 B 51/96 – juris Rn. 5 ff.; BayVGH, B.v. 21.10.2022 – 1 CS 22.1917 – juris Rn. 12).
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Führt die Verwirklichung eines zur Genehmigung gestellten Vorhabens dazu, dass die mischgebietstypischen Hauptnutzungsarten Wohnen und nicht wesentlich störendes Gewerbe entweder qualitativ oder quantitativ nicht mehr ausreichend gemischt sind und sich hierdurch die Eigenart des Mischgebietstyps verändert – z.B. durch ein „Kippen“ des Mischgebiets in ein Gewerbegebiet –, kann der Nachbar eine Rechtsbeeinträchtigung unter dem Aspekt des Gebietserhaltungsanspruchs geltend machen (vgl. hierzu etwa BVerwG, B.v. 11.4.1996 – 4 B 51/96 – juris Rn. 6; BayVGH, B. v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 34; Söfker in Ernst/Zinkhahn/Bielenberg/Krautzberger, BauNVO, 147. EL Stand: 08/2022, § 6 Rn. 53).
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2.1.2. Eine zur Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs führende Veränderung des Mischgebietscharakters ist nicht bereits anzunehmen, wenn die Hauptnutzungsarten nicht zu genau oder annährend gleichen Anteilen vertreten sind, sondern erst, wenn eine der beiden Nutzungsarten nach Anzahl und/oder Umfang beherrschend oder übergewichtig in Erscheinung tritt und damit ein deutliches Übergewicht über die andere Nutzung gewinnt (vgl. BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 4 C 34/86 – BVerwGE 79, 309-318 Rn. 19; BayVGH, U.v. 16.9.2019 – 2 N 17.2477 – juris Rn. 40). Zur Beurteilung eines solchen Übergewichts ist stets eine Bewertung aller für die quantitative Beurteilung in Frage kommenden tatsächlichen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Die Störung des gebotenen quantitativen Mischverhältnisses kann sich zum Beispiel aus einem übermäßig großen Anteil einer Nutzungsart an der Grundfläche des Baugebiets, einem Missverhältnis der Geschossflächen oder der Zahl der eigenständigen gewerblichen Betriebe im Verhältnis zu den vorhandenen Wohngebäuden, oder auch erst aus mehreren solcher Merkmale zusammen ergeben (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 4 C 34/86 – BVerwGE 79, 309-318 Rn. 19; BayVGH, B.v. 30.6.2022 – 2 NE 22.1132 -juris Rn. 16; B.v. 30.4.2020 – 15 ZB 19.1349 – juris Rn. 8).
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2.1.3. Vor dem Hintergrund dieser rechtlichen Vorgaben, der eingereichten Planunterlagen und der im gerichtlichen Augenschein gewonnen Eindrücke und Erkenntnisse über die örtlichen Gegebenheiten wird nach Ansicht der erkennenden Kammer sowohl die qualitative als auch die quantitative Durchmischung des festgesetzten Mischgebiets infolge der Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen erheblich gestört.
32
Wird das Vorhaben der Beigeladenen wie genehmigt verwirklicht, findet auf dem Vorhabengrundstück keinerlei Wohnnutzung, sondern ausschließlich gewerbliche Nutzung statt. Der bereits im bestehenden Bankgebäude ausgeübte gewerbliche Betrieb soll durch die Errichtung und Nutzung des geplanten Verwaltungsgebäudes, welches aus drei Gebäudeteilen bestehen, im Erdgeschoss eine Tiefgarage, Technik- und Archivräume und in den Obergeschossen Büroräume unterbringen soll, erweitert werden (vgl. hierzu Bl. 134-138 der Behördenakte Az.: 20200864). Ausweislich der vorgelegten Planunterlagen wird das Baugrundstück einer rein gewerblichen Nutzung zugeführt. In diesem Zusammenhang ist im hier gegebenen Fall insbesondere zu beachten, dass das mit dem Bebauungsplan „…“ ausgewiesene Mischgebiet (ca. 6000 m²) neben dem das Baugebiet nahezu vollständig einnehmenden Vorhabengrundstück (ca. 4560 m²) nur noch die vergleichsweise kleinen Grundstücke Fl.Nrn. …, …2 und …3 (insgesamt ca. 738 m²; mit Wohnhäusern bebaut) sowie einen Teilbereich des Grundstücks Fl.Nr. …2 (ca. 702 m²; Straßenzug …straße, teilweise unbebaut) umfasst (vgl. Bebauungsplan „…“; Luftbilder BayernAtlas).
33
Die Dominanz der durch die von der Beigeladenen geplanten gewerblichen Betriebe ergibt sich daher bereits aus der massiven Größe der gewerblichen Nutzfläche. Daneben wird das Vorherrschen der gewerblichen Nutzung aus dem erheblich überwiegenden Anteil der gewerblich genutzten Geschossflächen gegenüber dem Anteil der der Wohnnutzung dienenden Geschossflächen deutlich. Da sowohl das bereits bestehende Bankgebäude als auch das drei- bzw. viergeschossig geplante Verwaltungsgebäude, das ausweislich der eingereichten Planunterlagen eine Geschossfläche von 2.574 m² erreicht (vgl. Bl. 66 der Behördenakte Az.: …*), ausschließlich gewerblich genutzt werden, steht die dieser Nutzungsart zugeführte Geschossfläche in einem deutlichen Missverhältnis zu den vorhandenen wohnlich genutzten Geschossflächen auf den drei mit Wohnhäusern bebauten Grundstücken Fl.Nrn. …, …2 und …3.
34
Der Vortrag der Beigeladenen, sie habe mit der eingereichten „Bebauungsstudie Gewerbe- und Wohnbebauung“ (vgl. Bl. 88-99 der Behördenakte Az.: …*) ein ausgewogenes Verhältnis der Nutzungsarten nachgewiesen, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Die Illustration der Flächenaufteilung in dem durch den Bebauungsplan ausgewiesenen Gebiet ist weder nachvollziehbar noch aussagekräftig. Entgegen der Darstellung im „Flächennachweis …“ (vgl. Bl. 96 der Behördenakte Az.: …*) kann der südliche Gebietsteil einer so geplanten und hierin dargestellten Wohnnutzung nicht zugeführt werden. Der Flächennachweis lässt die sich auf den nicht im Eigentum der Beigeladenen befindlichen Grundstücken gelegenen Wohngebäude (Fl.Nrn. …, …3 und …2) und die mit Bescheid vom 28. Januar 2022 genehmigte Lagerhalle (vgl. Bl. 12 und 17 der Behördenakte Az.: …*) vollkommen unberücksichtigt. Dieser Teilbereich kann einer dem Flächennachweis entsprechenden Wohnbebauung aus vorstehenden Gründen überhaupt nicht zugeführt werden. Auch eine Realisierung von Wohngebäuden im östlichen Bereich scheidet aus, da diese Fläche ausweislich der eingereichten Plan- und Tekturunterlagen für den Ausbau der (gemäß der Kfz.-Stellplatz-Satzung der Stadt … … … … … vom 7. Mai 2007) 42 erforderlichen Stellplätze sowie des Ein- und Ausfahrtsbereichs zur Tiefgarage vorgesehen ist (vgl. Bl. 121 der Behördenakte Az.: …; Bl. 6 f. der Behördenakte Az.: …-Ä01).
35
Soweit die Beigeladene vorträgt, die im Bebauungsplan vorgesehenen Bebauungsmöglichkeiten würden den Maßstab für die Bewertung bilden, inwieweit ein Ausgleich zwischen den beiden Nutzungsarten im Baugebiet geschaffen werden könne, ist dem entgegenzuhalten, dass lediglich freie Bauflächen berücksichtigungsfähig sind, auf denen Gebäude der einen oder der anderen Nutzungsart errichtet und hierdurch ein Ausgleich für ein hinsichtlich der vorhandenen Bebauung bestehendes Ungleichgewicht geschaffen werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 26.3.2018 – 1 ZB 16.589 – juris Rn. 6; B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 35). Denn einem Eigentümer eines im Baugebiet liegenden und bereits bebauten Grundstücks kann eine die Bebauungsmöglichkeiten des Bebauungsplans vollständig ausfüllende und zur Schaffung eines Ausgleichs erforderliche Nutzung seines Grundstücks nicht „aufgezwungen“ werden. Der Einwand der Beigeladenen verfängt vor diesem Hintergrund nicht.
36
Unter Berücksichtigung dieser Aspekte, der eingereichten Planunterlagen, sowie der beengten örtlichen Verhältnisse im Bereich des Vorhabengrundstücks, die sich im gerichtlichen Augenschein zeigten (vgl. Lichtbilder Augenschein, Bl. 99 ff. der Gerichtsakte), geht die erkennende Kammer davon aus, dass ein angemessener Ausgleich zwischen Wohn- und gewerblicher Nutzung i.S.v. § 6 Abs. 1 BauNVO nur dadurch erreicht werden könnte, dass in den gewerblichen Bauten auch Wohnungen vorgesehen werden.
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Aus diesen Gründen würde das Mischgebiet infolge der Zulassung des Vorhabens der Beigeladenen seinen Gebietscharakter einbüßen und in ein Gewerbegebiet „umkippen“.
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Der Kläger kann sich daher mit Erfolg auf eine Verletzung des ihn schützenden Gebietserhaltungsanspruchs berufen.
39
2.2. Aber auch bei unterstellter Unwirksamkeit des Bebauungsplans „…“ und Beurteilung der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB, steht dem Kläger der geltend gemachte Gebietserhaltungsanspruch (2.2.1.) hinsichtlich eines faktischen Mischgebiets (2.2.2. und 2.2.3.) zu.
40
2.2.1. Aus der in der Regelung des § 34 Abs. 2 BauGB seinen Niederschlag findenden Gleichstellung geplanter und faktischer Baugebiete folgt, dass der Grundsatz, dass sich ein Nachbar im Plangebiet auch dann gegen die Zulassung einer gebietswidrigen Nutzung wenden kann, wenn er durch sie selbst nicht unzumutbar beeinträchtigt wird (siehe hierzu 2.1.), auch auf den Nachbarschutz in einem faktischen Baugebiet übertragbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 22.12.2011 – 4 B 32/11 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 10.10.2019 – 9 CS 19.1468 – juris Rn. 18). In räumlicher Hinsicht ist der Gebietserhaltungsanspruch in diesem Fall auf die Grundstücke begrenzt, die zur näheren Umgebung des Baugrundstücks zählen (vgl. BayVGH, B.v. 26.5.2008 – 1 CS 08.881 – juris Rn. 28).
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Als nähere Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB ist der Bereich anzusehen, innerhalb dessen sich einerseits das Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 – IV C 9.77 – BVerwGE 55, 369 ff). Wie weit die gegenseitige Prägung reicht, ist eine Frage des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BVerwG, B. v. 20.81998 – 4 B 79/98 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 8.2.2022 – 2 ZB 20.1803 – juris Rn. 4). Die Grenzen sind dabei nicht schematisch, sondern nach der jeweiligen tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist. Diese kann beispielsweise so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen (vgl. BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74/03 – juris Rn. 2; BayVGH, B. v. 9.2.2023 – 9 ZB 22.1947 – juris Rn. 7). Auch einer Straße kann wegen ihrer Breite und hohen Verkehrsbelastung trennende Wirkung bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung zukommen (vgl. BVerwG, U.v. 15.12.1994 – 4 C 13/93 – juris Rn. 15). Daneben können topografische Besonderheiten, wie Böschungen, dazu führen, dass auch unmittelbar angrenzende Grundstücke nicht mehr der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB zuzurechnen sind (vgl. BayVGH, U.v. 7.12.2000 – 2 B 99.3407 – juris Rn. 17; Spannowsky in BeckOK, BauGB, 60. Ed. Stand: 1.10.2023, § 34 Rn. 32.2).
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2.2.2. Nach diesem Maßstab würde die nähere Umgebung des zur Realisierung des streitgegenständlichen Vorhabens vorgesehenen Grundstücks, zu der auch das klägerische Anwesen gehört, in etwa dem Geltungsbereich des (unterstellt) unwirksamen Bebauungsplans entsprechen, der im Süden durch die die Ortsdurchfahrt bildende und daher stark frequentierte …tstraße (Fl.Nr. …1) und im Osten durch die …straße (Fl.Nr. …2), welcher aufgrund ihrer Breite und der Andersartigkeit der Bebauungsstruktur (aufgelockerte Bebauung) auf der gegenüberliegenden Straßenseite trennende Wirkung zukommt (vgl. Lichtbilder Augenschein, Bl. 99 ff. der Gerichtsakte; Luftbilder BayernAtlas), begrenzt wird. Die sich nördlich jenseits der Straße … …weg (Fl.Nr. …21) befindlichen Grundstücke sind unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort, von denen sich die erkennende Kammer im gerichtlichen Augenschein ein Bild machen konnte, nicht mehr der näheren Umgebung zuzurechnen. Denn der Böschung und der hieraus resultierenden Höhendifferenz kommt eine einschneidende Wirkung zu, was insbesondere der Augenschein zeigte (vgl. Lichtbilder Augenschein, Rückseite Bl. 100 und Bl. 101 der Gerichtsakte). Nach Westen schließt der die nähere Umgebung bildende Umgriff mit dem sich auf dem Vorhabengrundstück befindlichen Bestandsgebäude ab, sodass der maßgebende Bereich an der westlichen Grenze des Baugrundstücks endet. Dem bereits vorhandenen Bankgebäude kommt aufgrund seiner Ausmaße und Massivität und der zur westlich angrenzenden Wohnbebauung deutlich abweichenden Nutzungsstruktur eine trennende Wirkung zu (vgl. Lichtbilder Augenschein, Bl. 99 und 101 der Gerichtsakte).
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Gerade der am 22. November 2022 durchgeführte Augenscheintermin hat verdeutlicht, dass der Bereich der näheren Umgebung aufgrund der tatsächlich vorhandenen topografischen und städtebaulichen Verhältnisse örtlich begrenzt ist, weil er aufgrund der lokalen Gegebenheiten wie eine „Insel“ in Erscheinung tritt. Folglich umfasst der Bereich der näheren Umgebung vorliegend die Grundstücke Fl.Nrn. …2, …, …3 und …2.
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2.2.3. Die in diesem Bereich tatsächlich vorhandene Nutzungsstruktur entspricht ausweislich der dem Gericht vorliegenden Lagepläne und Luftbilder sowie der im Rahmen des Augenscheins gewonnenen Erkenntnisse der eines Mischgebiets. Bezüglich des Charakters eines Mischgebiets wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen unter 2.1.1. verwiesen.
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So hat insbesondere der gerichtliche Augenschein ergeben, dass sich in dem oben als maßgeblich bezeichneten Bereich neben drei Wohngebäuden mit Nebenanlagen, das bereits bestehende und betrieblich genutzte Bankgebäude der Beigeladenen findet. Daneben waren auf dem Vorhabengrundstück drei kleinere Baukörper zu sehen, die ausweislich des Vortrags der Beigeladenen in der Vergangenheit als Lager- und Geschäftsgebäude genutzt wurden und im Rahmen der Ausführung des streitigen Bauvorhabens vollständig abgerissen und zurückgebaut werden sollen (vgl. Lichtbilder Augenschein, Bl 99 ff. der Gerichtsakte, Bl. 131 ff. der Gerichtsakte). Dennoch dominiert das tatsächlich vorhandene Gewerbe im maßgeblichen Umgriff angesichts der auf dem Grundstück der Beigeladenen vorhandenen freien Baufläche nicht so stark, dass es im oben dargelegten Sinne „übergewichtig“ erscheint (vgl. Lichtbilder Augenschein, Bl. 99 ff. der Gerichtsakte; Luftbilder BayernAtlas). Demgemäß entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem Mischgebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO).
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Da die Eigenart der näheren Umgebung aufgrund der besonderen örtlichen Gegebenheiten nahezu dem Geltungsbereich des Bebauungsplans „…“ entsprechen würde und der maßgebliche Bereich als faktisches Mischgebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO) zu werten wäre, würden die Ausführungen unter 2.1. – auf diese wird zur Vermeidung von Wiederholungen insoweit Bezug genommen – zur Veränderung der Gebietsart und Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs bei Zulassung des streitgegenständlichen Vorhabens unverändert auch im Falle der Annahme der Unwirksamkeit des Bebauungsplans gelten, sodass es einer abschließende Klärung dieser Frage nicht bedarf.
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2.3. Da sich der streitgegenständliche Baugenehmigungsbescheid vom 23. November 2020 in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 23. Mai 2023 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 22. November 2023 bereits aus den dargelegten Gründen als rechtswidrig erweist, war auf die übrigen Einwände der Beteiligten nicht mehr einzugehen und der streitbefangene Genehmigungsbescheid daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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3. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Da die Beigeladene einen eigenen Antrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko ausgesetzt hat, können ihr gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ebenfalls Kosten auferlegt werden.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.