Titel:
Erfolglose Klagen gegen Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts
Normenkette:
FreizügG/EU § 2 Abs. 7
Leitsätze:
1. Eine typische Fallkonstellation für den Versuch einer missbräuchlichen Erlangung des Freizügigkeitsrechts ist das nur formale Eingehen von Ehen ohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen (Scheinehe). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Vorliegen eines formalen Bandes der Ehe – und damit einhergehend der Verweis auf eine erfolgte Scheidung im Bundesgebiet – ist im Rahmen des § 2 Abs. 7 S. 2 FreizügG/EU und der Frage einer Scheinehe nicht maßgeblich, da auf den Zweck des Nachzugs zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft abzustellen ist (Anschluss an BayVGH BeckRS 2021, 22532). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung, Familienangehörige aus Drittstaat, Scheinehe, Totalfälschung der Eheurkunde, Freizügigkeit, eheliche Lebensgemeinschaft, Scheidung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.06.2025 – 19 ZB 23.859
Fundstelle:
BeckRS 2023, 56923
Tenor
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Verfahren zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Verlustfeststellungsbescheides sowie die Verpflichtung der Beklagten zur Ausstellung einer Aufenthaltskarte, hilfsweise der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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Die Klägerin ist eine am … 1993 geborene pakistanische Staatsangehörige.
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Sie reiste am 11. April 2017 in das Bundesgebiet ein, meldete sich am 13. April 2017 gemeinsam mit dem rumänischen Staatsangehörigen … bei der Stadt … an und beantragte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu sonstigen Zwecken (Angehörige eines EUBürgers, § 5 Abs. 1 FreizügG/EU). Dabei legte sie eine rumänische Heiratsurkunde mit Apostille sowie beglaubigter deutscher Übersetzung vor. Aus der Urkunde geht insbesondere hervor, dass die Klägerin Herrn … am … in … (Kreis …*) geheiratet habe. Am 27. August 2018 wurde der Klägerin eine vom 13. April 2017 bis zum 12. April 2022 gültige Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt.
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Seitens der damals aktenführenden Ausländerbehörde wurde im Ausländerzentralregister der Klägerin unter dem 29. Mai 2017 vermerkt, dass die Klägerin nach ihren Angaben im November 2014 ein eineinhalbmonatiges Arbeitsvisum für Polen erhalten habe, wohin sie eingereist sei, ohne in der Folge zu arbeiten. Während ihres illegalen Aufenthalts habe sie Herrn … im März 2016 kennengelernt. Er habe in Polen seinen Urlaub verbracht. Im November 2016 sei sie zu Herrn … nach Rumänien gezogen. Die Heirat sei am … erfolgt; am 11. April 2017 seien die Eheleute von Rumänien nach … zugezogen. Die Verständigung erfolge in englischer Sprache. Die Klägerin sei aufgefordert worden, Hochzeitsfotos vorzulegen. Bei ihrer Vorsprache am 23. Mai 2017 habe sie erklärt, dass keinerlei Fotos vorhanden seien.
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Im Rahmen einer schriftlichen Ehegattenbefragung vom 22. Juni 2017 gab die Klägerin insbesondere an, sie habe ihren Ehemann in … geheiratet. Ihr Ehemann habe den Hochzeitsring gekauft; die Eheringe seien nicht graviert und sie und ihr Ehemann würden die Ringe nicht täglich tragen. Bis zur Ausreise habe sie in … gelebt. Am 26. Juni 2017 erklärte sie zudem, Herr … sei im Mai 2017 nach Rumänien gefahren, um dort wegen Geldmangels die Eheringe zu verkaufen.
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Am 18. Oktober 2017 sprach die Klägerin ohne Herrn … vor und erklärte insbesondere, sie habe mit diesem bis zum 24. September 2017 zusammen in … gelebt. Herr … habe sich zuletzt vom 28. August 2017 bis zum 23. September 2017 in Rumänien aufgehalten. Nach einer Auseinandersetzung sei er ab dem 25. September 2017 nicht mehr nach Hause gekommen, auch auf seinem Handy sei er nicht zu erreichen.
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Herr … ist laut Ermittlungsbericht der Bundespolizeiinspektion … vom 4. Juni 2019 bereits am 1. Januar 2016 in das Bundesgebiet eingereist und wurde am 10. März 2017 (also etwa einen Monat vor Einreise der Klägerin) durch die Bundespolizeiinspektion … wegen Erschleichens von Leistungen angezeigt, wobei er im Zug von … nach … angetroffen worden war. Es wird ein Ermittlungsverfahren gegen Herrn … wegen Urkundsdelikten, nach § 9 FreizügG/EU sowie Beihilfe zu unerlaubter Einreise und unerlaubtem Aufenthalt geführt; der Ausgang des Verfahrens ist nicht bekannt. Die Vorwürfe stehen im Zusammenhang mit dem gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusen von Ausländern, indem rumänische und indische Personen zum Erhalt eines Freizügigkeitsrechts vorgeben, Eheleute zu sein und total gefälschte rumänische Heiratsdokumente vorlegen. Nach den Angaben im Ermittlungsbericht sei Herr … bei der Zugkontrolle im Nahbereich der betreffenden indischen Schleuserorganisation aus … angetroffen worden, zudem sei bei einer Durchsuchung einer Schleuserwohnung in … ein Handy gefunden worden, auf dem unter anderem ein Foto der rumänischen Identitätskarte von Herrn … gespeichert gewesen sei.
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Das Büro des Verbindungsbeamten der Bundespolizei bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien teilte mit Mail vom 21. Mai 2019 mit, dass Herr … in Rumänien als ledig registriert sei und die Personalien der Klägerin in den rumänischen Datenbanken nicht erfasst seien.
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Das gegen die Klägerin u.a. wegen Verstoßes gegen § 9 FreizügG/EU, unerlaubter Einreise und unerlaubtem Aufenthalt geführte Ermittlungsverfahren wurde am 17. Oktober 2021 durch die Staatsanwaltschaft … nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt.
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Gegen die Klägerin wurde wegen vorsätzlichem Inverkehrbringen von für den Verzehr durch den Menschen ungeeigneten Lebensmitteln eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30 EUR verhängt (Amtsgericht … vom 4. Dezember 2019).
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Mit Schreiben vom 12. April 2022 beantragte der Bevollmächtigte der Klägerin die Erteilung einer Aufenthaltskarte, hilfsweise einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG. Insoweit teilte er mit, dass die Eheleute seit Oktober 2017 getrennt lebten und die Klägerin am 30. April 2021 ein Ehescheidungsverfahren eingeleitet habe. Dieses sei noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Die Klägerin habe ein eigenständiges Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU erworben.
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Mit Schreiben vom 18. Mai 2022 hörte die Beklagte die Klägerin zu der beabsichtigten Verlustfeststellung, den hiermit verbundenen ausländerrechtlichen Annexmaßnahmen sowie der Versagung einer Aufenthaltskarte bzw. Aufenthaltserlaubnis an. Der Bevollmächtigte der Klägerin nahm mit Schreiben vom 8. Juni 2022 und 12. Juli 2022 Stellung und forderte die Beklagte insbesondere dazu auf, darzulegen, warum die vorgelegte Heiratsurkunde gefälscht sei. Weder die Stadt … noch das mit dem Scheidungsverfahren betraute Amtsgericht – Familiengericht – … hätten jemals Zweifel an der Echtheit der Urkunde geäußert. Es fehlten eindeutige Feststellungen zur Unechtheit der Urkunde; die Annahme der Beklagten beruhe lediglich auf einer Schlussfolgerung. Die Klägerin bestreite die Unechtheit der Urkunde und habe auch keinen Vorsatz hinsichtlich der Unechtheit der Urkunde sowie der Apostille gehabt. Sie sei davon ausgegangen, dass sie mit ihrem Ehemann in Rumänien beim Standesamt gewesen sei und dort die Ehe geschlossen habe. Um alle Papiere habe sich der Ehemann gekümmert. Wenn ihr bewusst gewesen sei, dass keine wirksame Eheschließung vorliege und die Urkunde gefälscht gewesen sei, würde sie in Deutschland kein Scheidungsverfahren durchgeführt haben.
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Mit Bescheid vom 14. Oktober 2022 wurde das Nichtbestehen des Rechts der Klägerin auf Einreise und Aufenthalt für die Bundesrepublik Deutschland festgestellt (Ziffer 1). Die Wirkungen der Verlustfeststellung und einer gegebenenfalls durchzuführenden Abschiebung wurden auf die Dauer von vier Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung befristet (Ziffer 2). Die Klägerin wurde zur Ausreise innerhalb einer Frist von einem Monat nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheids aufgefordert (Ziffer 3). Andernfalls wurde die Abschiebung insbesondere nach Pakistan angedroht (Ziffer 4).
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Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, der Verlust des bei der Klägerin bestehenden Freizügigkeitsrechts sei nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festzustellen. Der Anwendungsbereich des § 2 Abs. 7 Satz 1 FreizügG/EU sei eröffnet, weil die Klägerin nach den polizeilichen Ermittlungen nicht mit Herrn … verheiratet sei und bei der Anmeldung sowie bei der Beantragung des Aufenthaltstitels eine gefälschte Heiratsurkunde verwendet habe. Im Übrigen habe sie sich während ihres Aufenthalts nicht rechtstreu verhalten. Sie unterliege als pakistanische Staatsangehörige der Visumpflicht und sei ohne Visum, mithin nach § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unerlaubt eingereist. Überdies habe sie den Verstoß gegen das Lebensmittelrecht begangen. Ein Daueraufenthaltsrecht habe die Klägerin nicht erworben. Das beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eröffnete Ermessen sei ein intendiertes. Die Behörde dürfe somit nur in besonderen Ausnahmefällen von der Rechtsfolge der Verlustfeststellung absehen. Ein solcher Ausnahmefall sei vorliegend nicht erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot habe § 7 Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 FreizügG/EU zur Grundlage und werde im Ermessenswege auf vier Jahre befristet. Die Klägerin habe bewusst das Bestehen einer Ehe mit einem rumänischen Mann vorgetäuscht, um in den Geltungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes zu fallen. Bei diesem Vorgehen ließe sich in ihrer Persönlichkeit eine kriminelle Energie eindeutig erkennen. Die Klägerin habe eine gefälschte Urkunde verwendet, um den Anschein einer freizügigkeitsberechtigten Person zu erwecken. Eine in Zukunft rechtmäßige Ausübung des Freizügigkeitsrechts sei bei ihr nicht denkbar. Die Klägerin habe die Fälschung der Urkunde bestritten und sich auch sonst im Bundesgebiet nicht rechtstreu verhalten. Aufgrund ihres langjährigen Aufenthalts in Pakistan sei eine Integration in die dortigen Lebensverhältnisse in zumutbarer Weise möglich; schutzwürdige Bindungen zum Bundesgebiet habe die Klägerin hingegen nicht. Zuletzt sei auch der Gesetzeszweck des FreizügG/EU, die Zuwanderung von Unionsbürgern und deren Angehörigen zu steuern und zu begrenzen, zu berücksichtigen.
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Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung beruhten auf § 7 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 FreizügG/EU.
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Die Klägerin hat am 14. November 2022 Klage erhoben und beantragt,
Der Bescheid der Beklagten vom 14.10.2022, mit dem das Nichtbestehen des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland festgestellt worden ist, ist aufzuheben.
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Zur Begründung wird ausgeführt, die abgeurteilte Straftat rechtfertige eine Verlustfeststellung nicht. Von der Klägerin gehe keine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung aus. Auch die Annahme der Beklagten, dass die Klägerin in Rumänien nicht geheiratet habe und gegenüber den deutschen Ausländerbehörden insoweit Täuschungshandlungen begangen habe, sei unzutreffend.
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Die Beklagte beantragt
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Zur Begründung verweist sie auf den streitgegenständlichen Bescheid und ergänzt, dass für die in der Klagebegründung angegebenen Behauptungen keine substantiierten Ausführungen gemacht worden und schon gar keine belastbaren Nachweise erfolgt seien.
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Mit Ergänzungsbescheid vom 23. November 2022 ergänzte die Beklagte den Bescheid vom 14. Oktober 2022 um folgende Ziffern:
„2.1. Die weitere Ausstellung einer Aufenthaltskarte wird abgelehnt.
2.2. Die Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels wird abgelehnt.“
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Zur Begründung führte sie aus, es sei noch über den Antrag der Klägerin vom 12. April 2022 hinsichtlich der weiteren Ausstellung einer Aufenthaltskarte bzw. hilfsweise der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG zu entscheiden. Die Klägerin erfülle aufgrund der bloßen Scheinehe nicht die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht, weswegen der Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte abgelehnt werde. Dem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG stehe bereits entgegen, dass es sich bei der Norm um eine Verlängerungsvorschrift handele, die Klägerin jedoch nie im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sei. Zudem habe sie aufgrund ihrer unerlaubten Einreise, der falschen Angaben bei der Melde- und Ausländerbehörde zur Erlangung einer Aufenthaltskarte und der Verwendung einer falschen oder gefälschten Eheurkunde ein beachtliches Ausweisungsinteresse verwirklicht, welches der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstehe.
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Die Klägerin hat am 23. Dezember 2022 weitere Klage erhoben und beantragt,
I. Der Ergänzungsbescheid der Beklagten vom 23.11.2022, zugestellt am 23.11.2022, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine weitere Aufenthaltskarte auszustellen.
III. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die beigezogene Behördenakte sowie die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässigen Klagen, die gemäß § 93 Satz 1 VwGO zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden wurden, bleiben in der Sache ohne Erfolg.
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Sowohl die in dem angegriffenen Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 2022 verfügte Verlustfeststellung, die Ausreiseaufforderung unter Androhung der Abschiebung sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot als auch die mit Ergänzungsbescheid vom 23. November 2022 ausgesprochene Ablehnung der Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltskarte bzw. eines Aufenthaltstitels erweisen sich als rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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Die in Ziffer 1 nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung gemäß § 2 Abs. 7 FreizügG/EU stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22.14 – juris Rn. 11) als rechtmäßig dar.
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Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU kann das Nichtbestehen des Rechts nach Absatz 1 festgestellt werden, wenn feststeht, dass die betreffende Person das Vorliegen einer Voraussetzung für dieses Recht durch die Verwendung von gefälschten oder verfälschten Dokumenten oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht hat (Satz 1). Das Nichtbestehen des Rechts nach Absatz 1 kann bei einem Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger ist, außerdem festgestellt werden, wenn feststeht, dass er dem Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachzieht oder ihn nicht zu diesem Zweck begleitet (Satz 2).
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Es liegen hier die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU vor, weil zur Überzeugung der Kammer feststeht, dass die Klägerin als Drittstaatsangehörige dem rumänischen Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft in das Bundesgebiet begleitet hat oder ihm zu diesem Zweck nachgezogen ist. Ein solches „Begleiten“ oder „Nachziehen“ ist zwar grundsätzlich weit zu verstehen und setzt neben dem Bestehen eines formalen Bandes der Ehe im Wesentlichen nur voraus, dass sich die Eheleute im selben Mitgliedstaat aufhalten (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. März 2019 – 1 C 9.18 –, juris Rn. 21 m.w.N.), bedarf aus unionsrechtlicher Sicht jedoch einer einschränkenden Auslegung, soweit das Freizügigkeitsrecht missbräuchlich erlangt werden soll. Nach Art. 35 der RL 2004/38/EG können die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen erlassen, die notwendig sind, um das Freizügigkeitsrecht im Fall von Rechtsmissbrauch oder Betrug – wie z.B. durch Eingehung von Scheinehen – verweigern, aufheben oder widerrufen zu können. Typische Fallkonstellationen sind u.a. das nur formale Eingehen von Ehen ohne das Ziel, eine familiäre Lebensgemeinschaft zu führen (vgl. BR-Drs. 461/12 S. 12f; BT-Drs. 17/10746 S. 9). Scheinehen als Beispielsfall rechtsmissbräuchlichen Verhaltens werden in der Kommissionsmitteilung für die Auslegung der RL 2004/38/EG (vgl. KOM(2009) 313, endg. v. 2.7.2009) und in Erwägungsgrund Nr. 28 der RL 2004/38/EG als Ehen definiert, die lediglich zu dem Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurden. Demgegenüber ist das Vorliegen eines formalen Bandes der Ehe – und damit einhergehend der Verweis auf eine erfolgte Scheidung im Bundesgebiet (wie auch hier vorgetragen) – im Rahmen des § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU und der Frage einer Scheinehe nicht maßgeblich, da auf den Zweck des Nachzugs zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft abzustellen ist (BayVGH, B.v. 10.8.2021 – 19 ZB 21.1142 –, juris Rn. 17).
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Im vorliegenden Fall ist von einer Scheinehe der Klägerin und Herrn … auszugehen, die von Anfang an nur zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts seitens der drittstaatsangehörigen Klägerin geschlossen wurde. Dies ergibt sich aus der Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls. Zum einen hat die Klägerin im Rahmen ihrer schriftlichen Ehegattenbefragung schon widersprüchliche Angaben über wichtige, sie und Herrn … betreffende Informationen gemacht (vgl. insoweit auch den ausdrücklich ausgeführten zweiten Anhaltspunkt für das Bestehen einer Scheinehe in der o.g. Kommissionsmitteilung vom 2.7.2009). So gab sie in dem schriftlichen Ehegattenbefragungs-Formular vom 22. Juli 2017 an, die Eheschließung habe in … stattgefunden (Frage 2); die vorgelegte Eheurkunde weist jedoch …, Kreis …, als Ort der Eheschließung aus. Weiterhin beantwortete sie die Fragen nach den Eheringen (Fragen 5 bis 7) dahingehend, dass sie und ihr Ehemann ihre Ringe nicht täglich tragen würden, die Ringe nicht graviert seien und ihr Mann diese gekauft habe. Bereits am 26. Juni 2017 gab sie hingegen an, ihr Ehemann sei im Mai nach Rumänien gefahren, um wegen Geldmangels die Eheringe zu verkaufen. Die Frage nach den Namen und Geburtsdaten der Schwiegereltern bzw. Geschwistern des Herrn … (Frage 23) beantwortete sie mit „No“. Sie habe diese in Polen in einem Shopping-Center kennengelernt (Frage 24). Während sich die Klägerin laut Ehegattenbefragung bis zu ihrer Ausreise in Bukarest aufgehalten haben will (Frage 14), wurde Herr … laut Ermittlungsbericht der Bundespolizeiinspektion … vom 4. Juni 2019 am 10. März 2017 und damit etwa drei Wochen nach der Eheschließung im Bundesgebiet angetroffen, wo er im Zug durch die Bundespolizeiinspektion … wegen Erschleichens von Leistungen aufgegriffen wurde.
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Für das Vorliegen einer bloßen Scheinehe spricht weiterhin der Umstand, dass sich Herr … nicht nur vor der Einreise der Klägerin (zumindest zeitweilig) nicht bei dieser aufgehalten hat, sondern auch, dass nach deren Einreise und der gemeinsamen Vorsprache bei der damals zuständigen Ausländerbehörde am 13. April 2017 bis zu der verlautbarten „Trennung“ am 24. September 2017 nur wenige Monate vergangen sind und sich Herr … in diesem kurzen Zeitraum bereits nach Aussage der Klägerin selbst im Mai 2017 sowie vom 28. August 2017 bis zum 23. September 2017 in Rumänien aufgehalten hat. Hierzu kommt, dass der auf den 1. Mai 2017 datierte Untermietvertrag über die Wohnung in …, unter der die Klägerin und Herr … sich angemeldet hatten, allein auf den Namen der Klägerin geschlossen worden ist und dementsprechend die Wohnraumbescheinigung vom 5. Mai 2017 nur die Unterschrift der Klägerin als Mieterin aufweist, obwohl in diesem Dokument sie und Herr … als Mieter aufgeführt sind. In der Vorsprache am 18. Oktober 2016 gab die Klägerin auch an, ihr Lohn werde auf das Postbank-Konto ihres Mannes überwiesen. Sie besitze hierfür die Kontokarte und hebe das Geld in bar ab, damit ihr Mann nicht darüber verfügen könne; sie wisse nicht, ob er eine eigene zweite Konto-Karte besitze. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen kam nach Auffassung der Kammer Herrn … die vereinbarungsgemäße Rolle zu, im Bundesgebiet als Ehemann anfangs die vermeintlich gemeinsamen Angelegenheiten (Aufenthaltsrecht, Wohnung, Konto) zu regeln, dies aber lediglich zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der Klägerin.
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Dafür spricht zuletzt auch die fehlende Registrierung der Klägerin in Rumänien sowie die Registrierung des Herrn … als „ledig“ (so die Mitteilung des Büros des Verbindungsbeamten der Bundespolizei bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien vom 21. Mai 2019). Das Fehlen einer registrierten Eheschließung in Rumänien ist Beleg dafür, dass eine ernsthafte und auf Dauer angelegte Bindung zwischen der Klägerin und Herrn … von Anfang an nicht gewollt war und die „unter der Hand“ erfolgte Eheschließung lediglich den Zweck hatte, die entsprechenden Dokumente zu erhalten, mithilfe derer die Klägerin im Bundesgebiet ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht vorgeben konnte.
33
Nach alledem ergibt sich aus der Gesamtschau der vorgenannten Umstände, dass die Klägerin Herrn … nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft in das Bundesgebiet begleitet hat; die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU liegen damit vor.
34
Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung ist im Rahmen der nach § 114 Satz 1 VwGO eingeschränkten Überprüfung nicht zu beanstanden. Die Beklagte ist im angefochtenen Bescheid zutreffend davon ausgegangen, dass ihr ein intendiertes Ermessen zusteht. Im Falle des Vorliegens einer Scheinehe ist zur effektiven Bekämpfung des Missbrauchs des Freizügigkeitsrechts nur in besonderen Ausnahmefällen von der Rechtsfolge der Verlustfeststellung abzusehen (so auch Dienelt in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 2 Rn. 174). Weiterhin ist die Beklagte beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass im Fall der Klägerin ein solcher Ausnahmefall nicht vorliegt.
35
Ist die Verlustfeststellung rechtsfehlerfrei, so sind auch die Ausreiseaufforderung in Ziffer 3 und die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4 des Bescheides rechtmäßig. Die Ausreiseaufforderung findet ihre Grundlage in § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Rechtsgrundlage der Abschiebungsandrohung ist § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU. Danach soll im Bescheid die Abschiebung angedroht werden. Die gesetzte Ausreisefrist von einem Monat entspricht der gesetzgeberischen Mindestfrist nach § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU. Die Frist ist auch angemessen, da kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich ist, dass die Klägerin einen längeren Zeitraum zur Vorbereitung ihrer Ausreise und der Regelung entsprechender Angelegenheiten benötigt.
36
Das in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids festgesetzte und befristete Einreiseverbot für die Dauer von vier Jahren nach Ausreise ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU kann Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen das Nichtbestehen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU festgestellt worden ist, untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Gesichtspunkte (§ 7 Abs. 2 Satz 4 FreizügG/EU) festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU).
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Im vorliegenden Fall hat die Beklagte das Einreise- und Aufenthaltsverbot ermessensfehlerfrei angeordnet und auf vier Jahre ab Ausreise befristet. Sie hat zutreffend in ihre Entscheidung eingestellt, dass die Klägerin bewusst das Bestehen einer gelebten ehelichen Lebensgemeinschaft mit einen EU-Bürger vorgetäuscht hat, um in den Geltungsbereich des FreizügG/EU zu fallen. Weiterhin hat die Beklagte zu Recht die kriminelle Energie sowie das auch ansonsten nicht durchgängig rechtstreue Verhalten der Klägerin mit in die Fristbemessung einfließen lassen. Zuletzt wurden auch der langjährige Aufenthalt der Klägerin in Pakistan und ihre fehlenden schützenswerten Bindungen im Bundesgebiet zutreffend berücksichtigt.
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Auch die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltskarte in der nachträglich ergänzten Ziffer 2.1 des streitgegenständlichen Bescheides ist rechtlich nicht zu beanstanden. Gemäß § 2 Abs. 7
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Satz 3 FreizügG/EU kann einem Familienangehörigen, der nicht Unionsbürger ist, in diesen Fällen [gemeint: der Verlustfeststellung nach § 2 Abs. 7 FreizügG/EU] die Erteilung der Aufenthaltskarte oder des Visums versagt werden oder seine Aufenthaltskarte kann eingezogen werden. Von der Möglichkeit der Versagung der weiteren Erteilung der Aufenthaltskarte nach § 2 Abs. 7 Satz 3 FreizügG/EU hat die Behörde in nicht zu beanstandender Weise Gebrauch gemacht. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass der Klägerin ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltskarte aus anderen Gründen, insbesondere aufgrund eines selbstständigen Ehegattenfreizügigkeitsrechts gemäß § 3 Abs. 4 Nr. 1 FreizügG/EU nicht zusteht. Nach dieser Vorschrift behalten Ehegatten oder Lebenspartner, die nicht Unionsbürger sind, bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Aufhebung der Lebenspartnerschaft ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 erfüllen und wenn die Ehe oder die Lebenspartnerschaft bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden haben, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet. Vorliegend bestand zwar das für nach dem Wortlaut der Norm maßgebliche formale Band der Ehe zwischen der Klägerin und Herrn … bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens am 30. April 2021 für mehr als drei Jahre. Allerdings war die Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung nicht freizügigkeitsberechtigt, weil sie Herrn … nicht begleitet hat bzw. ihm nachgezogen ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 6, § 3 Abs. 1 FreizügG/EU); diesbezüglich ist auch der Verlust des Freizügigkeitsrechts – wie ausgeführt – in nicht zu beanstandender Weise festgestellt worden.
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Zuletzt ist auch die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels in der nachträglich eingefügten Ziffer 2.2 rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG. Ungeachtet der Frage nach der Anwendbarkeit der Vorschrift im konkreten Fall ist der Anspruch bereits deswegen zu verneinen, weil zwischen der Klägerin und Herrn nie eine tatsächlich gelebte eheliche Lebensgemeinschaft bestanden hat, an deren Wegfall nach Ablauf von drei Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hätte anknüpfen können (vgl. insoweit auch § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG).
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Die Klagen waren somit vollumfänglich abzuweisen.
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Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.