Titel:
Kein Feststellungsinteresse für etwaige konkrete Regulierung nach fiktiver Schadensabrechnung
Normenkette:
ZPO § 256
Leitsatz:
Die reine Möglichkeit, nach unstreitig regulierter fiktiver Abrechnung noch weitere Position nach konkreter Reparatur nachfordern zu können, rechtfertigt kein Feststellungsinteresse, da dem Geschädigten zumutbar ist, diese Wahl in der Regelverjährungszeit zu treffen. (Rn. 21 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abrechnung, Feststellungsinteresse, Nutzungsausfall
Vorinstanz:
AG Erding, Endurteil vom 31.03.2023 – 101 C 1611/22
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 08.04.2025 – VI ZR 25/24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 56765
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 31.03.2023, Az. 101 C 1611/22, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 159,51 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.06.2022 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die übrige Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung werden zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz trägt die Klägerin 93% und die Beklagte 7%. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 79% und die Beklagte 21%.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Schuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der Gläubiger Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1. V. Die Revision zum Bundesgerichtshof gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 747,68 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten über die Höhe von Schadensersatzansprüchen aus einem Verkehrsunfallereignis vom 24.03.2022.
2
Vorgerichtlich und gerichtlich ist die Haftung der Beklagten dem Grunde nach zu 100% unstreitig. Bei dem Unfall wurde niemand verletzt. Die Klagepartei rechnet fiktiv auf Basis eines Sachverständigengutachtens ab. Die Beklagte erhob hiergegen vorgerichtlich bzgl. der Schadenshöhe Einwendungen und verwies die Klagepartei auf eine günstigere Referenzwerkstatt. Das Amtsgericht holte ein Sachverständigengutachten zu den erforderlichen Reparaturkosten (Bl. 106/127 d.A.) ein.
3
Vorgerichtlich regulierte die Beklagte einen Betrag von 2.657,38 €. Das Sachverständigengutachten kam zu dem Ergebnis, dass Reparaturkosten in Höhe von 2.816,89 € berechtigt seien.
4
Wegen der weiteren tatsächlichen Feststellungen und der Anträge in erster Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen, § 540 Abs. 1 ZPO.
5
Das Amtsgericht Erding verurteilte die Beklagte zur Zahlung der Differenz zwischen vorgerichtlicher Regulierung und dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens in Höhe von 159,51 € nebst Zinsen hieraus.
6
Weiter gab das Amtsgericht dem Antrag des Klägers auf Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, auch weitere zukünftige materielle Schäden zu ersetzen, statt. Das Feststellungsinteresse wird damit begründet, dass bei einer Reparatur Mehrwertsteuer anfallen könnte und im vorgerichtlichen Gutachten eine Reparaturdauer von 4 Tagen mit Nutzungsausfall zu je 50,- € ermittelt wurde.
7
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit dem Ziel der vollständigen Klageabweisung.
8
Die Beklagte führt im Wesentlichen aus, dass ein Feststellungsinteresse nicht gegeben sei.
9
Die Klägerin begehrt mit der Anschlussberufung die Zahlung weiterer vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, die vom Amtsgericht übersehen worden seien, wenn man das Ergebnis der Hauptsache zu Grunde legt.
10
Die Beklagte beantragt,
Das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 15.03.2023, Az. 101 C 1611/22 wird aufgehoben, soweit die Beklagte verurteilt wurde und die Klage wird gänzlich abgewiesen.
11
Die Klägerin beantragt die Berufung zurückzuweisen und im Wege der Anschlussberufung,
die Beklagte zu verurteilen, vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 86,63 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit an die Klägerin zu zahlen.
12
Die Beklagte beantragt,
die Anschlussberufung zurückzuweisen.
13
Die Kammer hat am 16.10.2023 (Bl. 185/189 d.A.) und 31.10.2023 (Blatt 194/198 d.A.) Hinweise erteilt, auf die ergänzend verwiesen wird.
14
Die Parteien haben der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.
15
Die Berufung hat lediglich insoweit Erfolg, als damit beantragt wurde, den Feststellungsantrag abzuweisen. Im Übrigen sind die Berufung und die Anschlussberufung zurückzuweisen.
16
1. Das Urteil des Amtsgerichts Erding ist zutreffend, soweit es die Beklagte zur Zahlung von 159,51 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 02.06.2022 verurteilt. Die Beklagte meint, dass sich mit dem eingeholten Sachverständigengutachten nicht begründen lasse, weswegen die Beklagte weitere 159,51 € bezahlen solle.
17
Die Beklagte hat vorgerichtlich einen Betrag von 2.657,38 € reguliert. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Betrag von 2.816,89 € erforderlich wäre. Die Differenz zwischen dem regulierten Betrag und dem berechtigten Betrag ist der vom Amtsgericht zugesprochene Betrag von 159,51 €. Weitere Einwände wurden nicht erhoben.
18
2. Soweit die Beklagte Klageabweisung bezüglich des Feststellungsantrages begehrt, hat die Berufung Erfolg.
19
Das Feststellungsinteresse wird damit begründet, dass die Klägerin bei einer Reparatur des Fahrzeuges Anspruch auf Mehrwertsteuer und Nutzungsausfall habe. Das Feststellungsinteresse gehe nicht dadurch verlustig, dass die Haftung dem Grunde nach unstreitig ist.
20
Es wird insoweit auf die Hinweise der Kammer vom 16.10.2023 (Bl. 185/189 d.A.) und vom 31.10.2023 (Blatt 194/198 d.A.) Bezug genommen.
21
Die Kammer ist nach wie vor der Auffassung, dass im vorliegenden Fall ein Feststellungsinteresse nicht gegeben ist, weil die Haftung dem Grunde nach unstreitig ist, die Beklagte mit ihrem gesamten Regulierungsverhalten zu keinem Zeitpunkt Anlass gegeben hat, an ihrer 100%igen Einstandspflicht zu zweifeln und der Eintritt von weiteren Schadenspositionen allein von der Entscheidung der Klagepartei abhängt. Die Klagepartei rechnet vorliegend auf fiktiver Basis ab. Die Schadenspositionen, die die Klägerin mit dem Feststellungsantrag der Verjährung entziehen möchte, sind solche der konkreten Abrechnung. Diese könnte die Klägerin nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung nur geltend machen, wenn sie von fiktiver Abrechnung auf eine konkrete Abrechnung übergeht.
22
Die Kriterien, nach denen der Übergang von fiktiver auf konkrete Abrechnung möglich ist, wurden bislang nach höchstrichterlicher Rechtsprechung aus Sicht der Kammer noch nicht vollumfänglich herausgearbeitet. Zwar hat der Bundesgerichtshof in den maßgeblichen Entscheidungen vom 18.10.2011 – VI ZR 17/11 und 17.10.2006 – VI ZR 249/05 geurteilt, dass ein Wechsel von fiktiver zu konkreter Abrechnung möglich sei, dieser Wechsel aber unter dem Vorbehalt der Verjährung stehe.
23
Die Kammer ist der Auffassung, dass dieser Verjährungsvorbehalt nicht dazu führen kann, dass ein Feststellungsinteresse gegeben wäre. Dadurch würde die abschließend geregelte Verjährungsfrist von bisher 3 Jahren auf 30 Jahre erweitert. Die Kammer kann nicht erkennen, aus welchen Gründen dies gerechtfertigt sein kann; gerade wenn – wie im vorliegenden Fall – das Fahrzeug zum Zeitpunkt des Unfalles bereits 13 Jahre alt war, eine Laufleistung von über 250.000 Kilometern erreicht hat und der Eintritt weiteren Schadens allein vom Willen des Geschädigten abhängt. Es ist dem Geschädigten zuzumuten, die Entscheidung, ob er sein Fahrzeug reparieren lassen und auf konkrete Abrechnung übergehen will, innerhalb der Verjährungsfrist von 3 Jahren zu treffen.
24
3. Die Anschlussberufung hat keinen Erfolg, weil weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten nicht geschuldet werden.
25
Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der fiktiven Reparaturkosten in Höhe von 2.816,89 €, den Kosten für das vorgerichtliche Gutachten in Höhe von 869,53 € sowie die Unfallpauschale von 25,- €. Aus einem Gesamtbetrag von 3.711,42 € können vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 453,87 € verlangt werden. Diesen Betrag hat die Beklagte aber schon vorgerichtlich reguliert.
26
4. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97,92 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Der Streitwert für das Berufungsverfahren war nach §§ 3 ff ZPO, § 47 GKG festzusetzen.
27
5. Die Revision zum Bundesgerichtshof war zuzulassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und zur Fortbildung des Rechts erforderlich ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dies der Fall, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Hierzu besteht nur dann Anlass, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder jedenfalls verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe („Leitentscheidung“) ganz oder teilweise fehlt (BGHZ 151, 221 (225) = NJW 2002, 3029; BGHZ 154, 288 (292) = NJW 2003, 1943; BGH NJW 2003, 437; 2003, 3352; NJW-RR 2003, 132; BeckRS 2007, 3635).
28
Die Kriterien, unter denen von fiktiver auf konkrete Abrechnung umgestellt werden kann, sind noch unklar. Weiter ist noch nicht abschließend geklärt, ob bei rein materiellen Schäden und dem Umstand, dass zu keinem Zeitpunkt die Haftung dem Grunde nach in Frage gestellt wurde, ein Feststellungsinteresse bejaht werden kann, wenn es allein in der Entscheidung des Geschädigten liegt, ob und wann die weiteren Schadenspositionen eintreten.