Titel:
Vertragsarzt, Elektronischer Rechtsverkehr, Cannabisblüten, Widerspruchsbescheid, Klageabweisung, Suchtmittelabhängigkeit, Standardtherapie, Einschätzungsprärogative, Ausbildung, Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, Abwägungsergebnis, Sozialgerichtsgesetz, Kostenentscheidung, Berufungsschrift, Rechtsmittelbelehrung, Außergerichtliche Kosten, Schwerwiegende, Sozialgerichte, Erstattung der Kosten, Elektronisches Dokument
Schlagworte:
Cannabisverordnung, Schwerwiegende Erkrankung, Lebensqualität, Standardtherapie, Behandlungsziel, Erfolgsaussicht, Vertragsarzt
Rechtsmittelinstanz:
LSG München, Urteil vom 19.05.2025 – L 20 KR 474/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 56696
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Erteilung einer Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten.
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Der 1997 geborene Kläger ist seit 01.04.2019 Mitglied der Beklagten. Am 05.06.2019 beantragte er unter Vorlage eines Arztfragebogens des Dr. med. F. vom 21.03.2019 die Erteilung einer Genehmigung für Cannabisblüten.
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Nach dem Fragebogen solle eine ADHS im Erwachsenenalter (ICD-10 F90.0: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung) behandelt werden, das Behandlungsziel laute Abschwächung/Mitigierung sämtlicher einschlägiger F90.0-Charakteristika und -Symptome. Die Erkrankung sei schwerwiegend, denn sie bestehe seit der Kindheit im Vollbild einschließlich der H-Komponente, durch die Störung bleibe der Patient auch heute noch weit hinter seinem eigentlichen Potenzial zurück, Handikap von Krankheitswert sei fortbestehend. Andere Erkrankungen bestünden nicht gleichzeitig. Es habe ein Behandlungsversuch mit Strattera stattgefunden, dieser sei wegen unerwünschter Nebenwirkungen abgebrochen worden. Aufgrund von unzureichender Wirkung und Unverträglichkeitsreaktionen stünden keine allgemein anerkannten, dem medizinischen Standard entsprechenden alternativen Behandlungsoptionen zur Verfügung bzw. könnten nicht zur Anwendung kommen. Hinsichtlich einer nicht ganz entfernt liegt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome möge sich die Beklagte an die Bundesopiumstelle wenden.
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Einer nicht unterzeichneten Aufstellung ist zu entnehmen, dass wohl der Kläger vom 13.10.2017 bis Januar 2018 mit Medikinet (Nebenwirkungen: Appetitlosigkeit, erhöhtes Aggressionspotenzial, Rebound sehr unschön abends) und von März 2019 bis Mai 2019 mit Strattera (Nebenwirkungen: erhöhter Puls, Unwohlsein, Erektionsstörungen, starkes Schwitzen) behandelt wurde.
5
Der Kläger hat zudem seine „Krankengeschichte mit ADHS“ vorgelegt (ohne Datum und Unterschrift). Danach sei im Kinder- und Jugendalter ab der Grundschule eine Behandlung mit Medikinet für ca. insgesamt vier Jahre erfolgt, allerdings ohne große Erfolge hinsichtlich der Konzentrationsprobleme und des Verhaltens. Auch in der Realschule habe er sich kaum konzentrieren, zuhören oder arbeiten können, trotzdem sei er immer ein durchschnittlicher Schüler gewesen. Die erste Ausbildung als Groß- und Außenhandelskaufmann habe er abbrechen müssen, da er zu dieser Zeit auch kein Medikinet mehr genommen habe. Es sei unmöglich gewesen, acht Stunden auf einem Arbeitsplatz zu sitzen und konzentriert zu arbeiten. Es seien ihm ständig Flüchtigkeitsfehler unterlaufen oder er habe vergessen, Arbeitsanweisungen umzusetzen oder ausgemachte Termine regelmäßig pünktlich einzuhalten. Auch eine zweite Ausbildung als Maschinen- und Anlagenführer habe er nicht weiterführen können, da die eintönigen Arbeitsabläufe oft zu Träumereien und Unachtsamkeit geführt hätten. Seit April 2018 sei er bei Herrn Dr. M. in N. in Behandlung gewesen, dieser habe mit ihm eine Therapie auf Cannabis-Basis begonnen, welche er privat bezahlt habe. In der Lehre zum Bürokaufmann komme er nun gut zurecht.
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Mit Bescheid vom 07.06.2019 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Unter Bezugnahme auf Rechtsprechung führte sie aus, dass der Nutzen des Einsatzes von cannabishaltigen Arzneimitteln für die Behandlung von ADHS nicht belegt werden könne, zudem handele es sich nicht um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des Gesetzes.
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Am 10.07.2019 erhob der Kläger Widerspruch. Die Beklagte beteiligte den Medizinischen Dienst (MD). Im Gutachten vom 23.01.2020 führte der Gutachter aus, ob im Einzelfall eine schwerwiegende Erkrankung vor dem Hintergrund der vorliegenden Rechtsprechung bestehe, könne bei diesbezüglich fehlenden sozialmedizinischen Angaben nicht zwanglos bestätigt werden. Der Kläger könne seiner Ausbildung im zweiten Lehrjahr nachgehen, unter Würdigung der Angabe von zwei abgebrochenen Ausbildungen. Angaben zu GdB, EM-Renten-Anträge lägen nicht vor. Konkret benannte Teilhabestörungen im Alltag könnten ebenfalls nicht entnommen werden. Die Standardtherapie sei zu benennen mit der fachärztlich geführten Standardtherapie, je nach Ausprägung, Aufklärung der Angehörigen, Einbindung in Spezialambulanzen, Optimierung der psychosozialen Kontextfaktoren, gelegentlich könne auch eine Wait-and-Watch-Therapie ausreichend sein. Bislang gebe es keine aussagekräftige wissenschaftliche Studienlage, die für den evidenzbasierten Einsatz von Cannabinoiden bei ADHS sprechen würde. Aus der aktuellen Stellungnahme des ADHS Deutschland e.V. gehe eine negative Empfehlung hervor, da eine wirksame Standardtherapie bestehe, die Nebenwirkungen des Cannabis auf die kognitive Leistungsfähigkeit in keinem gesunden Verhältnis zur Wirkung auf die Symptomatik der ADHS stünden und daher im Allgemeinen nicht von einer Aussicht auf eine spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf ausgegangen werden könne. Auch die vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Capris-Studie könne eine positive Datenlage bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen nicht bestätigen. Weiterhin sei eine native Applikation von Cannabinoiden aus Gründen der Pharmakokinetik und aus Sicherheitsaspekten nur in begründeten Ausnahmefällen zu erwägen. Im Einzelfall könne nicht ausreichend abgeleitet werden, dass hier ein begründeter Ausnahmefall mit der medizinischen Notwendigkeit zu einer raschen und hohen Anflutung vorliegen solle.
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Mit Bescheid des ZBFS vom 02.03.2020 wurde bei dem Kläger ein Grad der Behinderung (GdB) von 30, vorliegend ab dem 18.02.2020, festgestellt.
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Ein Arztbrief der Frau Dr. med. L. vom 18.02.2020 bestätigt das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung mit entsprechenden negativen Folgen für die Berufsausbildung und das soziale Umfeld. Bezüglich der ADHS bestehe eine Indikation zur medikamentösen Therapie, ambulante Psychotherapie alleine sei nicht ausreichend. Ein Therapieversuch mit Elvanse habe wegen Nebenwirkungen abgebrochen werden müssen, es sei zu Appetitlosigkeit und Schlafstörungen von relevantem Ausmaß gekommen. Ein Therapieversuch mit Venlafaxin habe wegen sexueller Dysfunktion, Kopfschmerzen und Übelkeit abgebrochen werden müssen. Damit seien die Standardtherapien ausgeschöpft.
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Dr. F. bestätigte unter dem 03.03.2020 die Schwere der Erkrankung. Durch eine sehr starke Hyperaktivität und geringe Impulskontrolle sei der Kläger nicht in der Lage, mit anderen Menschen sozial zu interagieren, so sei es nicht möglich, dauerhaft erfolgreich zu arbeiten oder soziale Verbindungen aufrechtzuerhalten. Das Aufsuchen von Alltagsaktivitäten sei stark eingeschränkt. Diese soziale und gesellschaftliche Isolation belastet den Kläger besonders. An den Arbeitsstellen sei es immer wieder zu Fehlern und Konzentrationseinbrüchen gekommen, zudem führten seine Gefühlsausbrüche häufig zu Kündigungen.
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In einem weiteren Gutachten vom 23.04.2020 verweist der MD auf einen Entlassbericht des Bezirkskrankenhaus B. vom 15.02.2017, wonach sich der Kläger freiwillig stationär in der Psychiatrie bei schwerer depressive Episode, psychischer und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen befunden habe, die Entlassung sei am 14.02.2017 disziplinarisch bei Konsum von Cannabis auf dem Klinikgelände erfolgt, eine ADHS-Testung am 09.03.2017 hätte keine ausreichend klaren Hinweise ergeben, um von einer ADHS auszugehen. Die Standardtherapie mit führend suchtmedizinischer Behandlung, zunächst auch zur Entgiftung, sowie Psychotherapie stünde zur Verfügung, zudem sei vom Vorliegen von Kontraindikationen auszugehen.
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Dem MPU-Gutachten vom 20.08.2020 (Untersuchung) ist zu entnehmen, dass dem Kläger nach dreimaligem Fahren unter Einfluss von Betäubungsmitteln am 22.02.2017 der Führerschein entzogen wurde. Vom 01.10.2016 bis 04.05.2017 erfolgte seitens des Klägers ein illegaler Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Cannabis) zur Finanzierung seines Eigenkonsumes. Illegales Cannabis habe er seit 2015 konsumiert, ca. 2-3mal die Woche, vorwiegend abends.
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Nach noch zweimaliger Beteiligung des MD (09.12.2020, 01.06.2021) ohne weitere gutachterliche Aussagen wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.06.2021 zurück. Hiergegen erhob der Kläger am 23.07.2021 Klage zum SG Bayreuth und legte einen weiteren Arztfragebogen des Dr. F. vom 15.06.2023 vor.
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Hierin führt der Behandler aus, es sollten Cannabis-Blüten zur Inhalation (Verdampfer) bis maximal 2 g täglich und 60 g monatlich verordnet werden. Günstigere Darreichungsformen seien nachweislich nicht gleich geeignet, da aufgrund der inhalativen Verwendung eine optimale Steuerbarkeit erreicht werde. Kontraindikationen bestünden nicht. An Standardbehandlungen habe der Kläger Methylphenidat bereits vor Behandlungsbeginn bei ihm ausprobiert sowie Strattera unter seiner Behandlung, beide Medikamente hätten keine Wirkung gezeigt. Dies gelte auch für ein Antidepressivum (Buprobion). Das Auftreten von Nebenwirkungen bei der Einnahme von Medikamenten zur Standardtherapie wurde von Herrn Dr. F. nunmehr verneint. Es gebe zwar eine Standardtherapie, aber diese sei trotz ordnungsgemäßer Anwendung mit Blick auf das beim Patienten angestrebt Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben. Nebenwirkungen der Cannabistherapie seien bei dem Kläger nicht aufgetreten. Im Übrigen enthält der Fragebogen keine Änderungen zu den Angaben aus 2019.
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Der Kläger beantragt zuletzt,
den Bescheid der Beklagten vom 07.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Genehmigung der vertragsärztlichen Verordnung von Cannabisblüten zu erteilen sowie die Beklagte zur Erstattung der Kosten für die Versorgung ab dem 07.06.2019 zu verurteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung für den Antrag auf Klageabweisung verweist die Beklagte auf die Gründe der angefochtenen Bescheide.
18
Auf Nachfrage des Gerichts bestätigte der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung die von Dr. F. aufgezeigten erheblichen Probleme in Schule und Ausbildung. Im sozialen Leben seien insbesondere die fehlende Impulskontrolle, aber auch fehlende Zuverlässigkeit und Vergesslichkeit problematisch. Freunde bzw. eine Freundin hätte er aber immer gehabt, es habe keine soziale Isolation bestanden.
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Das Gericht hat die Akte S 6 KR 162/18 zum Verfahren beigezogen.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes wegen der Einzelheiten auf die Akte der Beklagten und die Akten des Sozialgerichts, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die insbesondere form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG) auf Erteilung einer Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten sowie die Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) auf Kostenerstattung sind zulässig, aber unbegründet und daher abzuweisen. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 07.06.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.06.2021 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht (vgl. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Ein Anspruch auf die Erteilung einer Genehmigung der Verordnung von Cannabisblüten sowie die Erstattung hierzu bereits angefallener Kosten besteht nicht.
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Zwar hat der Kläger gemäß § 27 Abs. 1 S. 1, S. 2 Nr. 3 i.V.m. § 31 SGB V grundsätzlich Anspruch auf eine Arzneimittelversorgung, die notwendig ist, um eine Krankheit zu heilen oder zumindest die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Rechtsgrundlage der begehrten Genehmigung für die vertragsärztliche Verordnung von Cannabisblüten ist § 31 Abs. 6 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon, wenn sie an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden (Satz 1), eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder nach einer begründeten ärztlichen Einschätzung nicht zur Anwendung kommen kann (Satz 1 Nr. 1), eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Satz 1 Nr. 2) und bei der ersten Verordnung vor Beginn der Leistung eine Genehmigung der Krankenkasse vorlag, die nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnen ist (Satz 2). Diese Voraussetzungen liegen bei dem Kläger nicht kumulativ vor.
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Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung (§ 31 Abs. 6 S. 1 SGB V). Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt (vgl. zuletzt u.a. BSG, Urteil vom 25.3.2021, B 1 KR 25/20 R – juris).
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Der Kläger leidet nach den vorliegenden Berichten der behandelnden Ärzte an einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADHS). Hieraus ergeben sich keine Anhaltspunkte für die Lebensbedrohlichkeit der Erkrankungen in dem Sinne, dass die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs nach allgemeiner Erkenntnis oder nach der Beurteilung im konkreten Einzelfall innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums drohen würde (vgl. BSG, Urteil vom 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R – juris).
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Ist die Erkrankung nicht lebensbedrohlich, besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Cannabis nur, wenn die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt ist. Von einer dauerhaften Beeinträchtigung der Lebensqualität ist in Anlehnung an entsprechende Regelungen in §§ 43, 101 Abs. 1 SGB VI, § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX, § 14 Abs. 1 S. 3 SGB XI, § 30 Abs. 1 S. 3 BVG ab einem Zeitraum von (voraussichtlich) sechs Monaten auszugehen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich nicht aus der gestellten Diagnose, sondern aus den konkreten Auswirkungen der Erkrankung. Diese müssen den Betroffenen überdurchschnittlich schwer beeinträchtigen, wofür die GdS(Grad der Schädigungsfolgen)-Tabelle aus Teil 2 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) als Anhaltspunkt dienen kann. Eine ADHS, zu deren Behandlung Cannabis eingesetzt werden soll, ist danach in der Regel nur dann eine schwerwiegende Erkrankung, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt, in das öffentliche Leben und in das häusliche Leben ohne umfassende Förderung und Unterstützung nicht gelingt (BSG, Urteil vom 10.11.2022, – B 1 KR 28/21 R – juris unter Hinweis auf die Versorgungsmedizinischen Grundsätze Teil B Nr. 3.5.2).
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Unter Beachtung dieser Vorgaben liegt bei dem Kläger keine schwerwiegende Erkrankung vor. Bisher ist bei dem Kläger lediglich ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Der Kläger beschreibt Probleme in der Grundschule, hier erfolgte auch erstmalig eine Medikation mit Medikinet. In der Realschule jedoch konnte er ohne Medikation einen durchschnittlichen Abschluss erreichen. Nach zwei abgebrochenen Ausbildungen konsumierte der Kläger ab 2015 illegal Cannabis, aber nur 2-3mal wöchentlich vorwiegend abends. Auch hier erreichte er ohne weitere Medikation oder Einnahme von Cannabis einen Abschluss seiner Berufsausbildung. Dr. F. beschreibt zwar unter dem 03.03.2020, der Kläger sei aufgrund starker Hyperaktivität und geringer Impulskontrolle nicht in der Lage, mit anderen Menschen sozial zu interagieren, er könne keinen sozialen Bindungen aufrecht halten, das Aufsuchen von Alltagsaktivitäten sei stark eingeschränkt, diese soziale und gesellschaftliche Isolation belaste ihn besonders. Diese Unmöglichkeit sozialer Bindungen hat der Kläger jedoch auf Nachfrage im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht bestätigt: es habe zwar Probleme aufgrund der fehlenden Impulskontrolle und der Vergesslichkeit bzw. Zuverlässigkeit gegeben, eine soziale Isolation habe aber zu keiner Zeit bestanden, er habe immer Freunde bzw. eine Freundin gehabt. Die Erforderlichkeit einer umfassenden Förderung oder Unterstützung zur Integration in den Arbeitsmarkt sowie zur Teilnahme am öffentlichen und häuslichen Leben konnte die Kammer nicht feststellen.
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Die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung setzt weiter voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen kann.
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Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst a SGB V), wenn es sie generell nicht gibt, sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte sie nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen (vgl BSG vom 4.4.2006 – B 1 KR 7/05 R – BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 4, RdNr. 31; BSG vom 7.11.2006 – B 1 KR 24/06 R – BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 12, RdNr. 22) oder sie trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist (vgl BSG vom 25.3.2021 – B 1 KR 25/20 R – BSGE 132, 67 = SozR 4-2500 § 137c Nr. 15, RdNr. 42) (BSG aaO).
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Die Behandlung der ADHS soll im Rahmen eines multimodalen therapeutischen Gesamtkonzeptes (Behandlungsplan) erfolgen, in dem entsprechend der individuellen Symptomatik, dem Funktionsniveau, der Teilhabe sowie der Präferenzen des Patienten und seines Umfeldes psychosoziale (einschließlich psychotherapeutische) und pharmakologische sowie ergänzende Interventionen kombiniert werden können (vgl. Kurzfassung der interdisziplinären evidenz- und konsensbasierten (S3) Leitlinie „Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter“ vom 02.05.2017, aktuell in Überarbeitung; abgerufen unter www.awmf.org).
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Zur Behandlung von ADHS sind in Deutschland fünf Wirkstoffe zugelassen: Methylphenidat (Handelsnamen beispielsweise Medikinet, Concerta, Ritalin und entsprechende Generika), Atomoxetin (Handelsname Strattera), Dexamphetamin (Handelsname Attentin, Zulassung nur unter 18 Jahre), Lisdexamfetamin (Handelsname Elvanse), Guanfacin (Intuniv, Zulassung nur unter 18 Jahre) (vgl. Leitlinie aaO). Die aufgrund seines Alters zugelassenen Arzneimittel Medikinet (Frau Dipl.-med. G.), Strattera (Dr. F.) und Elvanse (Dr. L.) wurden von dem Kläger getestet.
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Herr Dr. F. geht auf eine Behandlung mittels eines multimodalen Gesamtkonzeptes nicht ein, sondern nur auf die Einnahme von Medikamenten. Er hat zuletzt im Fragebogen vom 15.06.2023 angegeben, es gebe eine Standardtherapie zu Behandlung der ADHS, diese sei aber trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das bei dem Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben. Konkret nennt er Methylphenidat und Strattera sowie das Antidepressivum Bupropion. Hier bestehen seitens der Kammer bereits Zweifel, da der Behandler zumindest hinsichtlich der Einnahme von Strattera in 2019 angegeben hatte, die Behandlung sei aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen abgebrochen worden, aber nicht wegen Wirkungslosigkeit. Jedenfalls wird die Behandlung mit Elvanse von Herrn Dr. F. nicht thematisiert.
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Daher bedarf es weiter der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum die Standardtherapien unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes dennoch nicht zur Anwendung kommen können (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. An die begründete Einschätzung sind aber hohe Anforderungen zu stellen. Die begründete Einschätzung des Vertragsarztes muss die mit Cannabis zu behandelnde Erkrankung und das Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis beinhalten. Sind diese Anforderungen spätestens zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz erfüllt, ist eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses nur auf völlige Unplausibilität zulässig (BSG aaO).
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Dabei ist zu unterscheiden zwischen den der Abwägung zugrunde liegenden Tatsachen, die maßgeblich für die Frage sind, ob eine Standardtherapie zur Anwendung kommen kann, und der Abwägung selbst. Der Wortlaut der Norm gibt bereits vor, dass die zu erwartenden oder bereits aufgetretenen Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden, allgemein anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen und der Krankheitszustand darzustellen sind. Hierzu gehört auch ein evtl. Suchtmittelgebrauch in der Vergangenheit sowie das Bestehen oder der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit. Auf der Grundlage der dargelegten Tatsachen ist die Abwägung der Nebenwirkungen der noch verfügbaren Standardtherapien mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis vorzunehmen. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen (BSG aaO).
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Aus der Abwägung des Vertragsarztes muss hervorgehen, warum zu erwartende Nebenwirkungen bei dem beschriebenen Krankheitszustand des Patienten auch im Hinblick auf das mögliche Erreichen der angestrebten Behandlungsziele nicht tolerierbar sind oder warum keine hinreichende Aussicht auf Erreichen des Behandlungsziels besteht, weil etwa Arzneimittel mit vergleichbarem Wirkmechanismus erfolglos geblieben sind. Die Abwägung schließt ein, auch bei dem Krankheitszustand des Patienten mögliche schädliche Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis, wie das Entstehen, Unterhalten oder Verfestigen einer Abhängigkeit oder das Auftreten von Psychosen, zu erfassen und mit den Nebenwirkungen einer Standardtherapie abzuwägen. Der Vertragsarzt muss in seine Abwägung einbeziehen, in welcher Darreichungsform die Anwendung von Cannabis das geringste Risiko in Bezug auf schädliche Wirkungen und auf einen möglichen Missbrauch des verordneten Cannabis in sich birgt. Das gilt insbesondere bei einem vorbestehenden Suchtmittelkonsum oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit (BSG aaO).
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Krankenkassen und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Insbesondere steht es Krankenkassen und Gerichten nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen. Hat der Vertragsarzt in seiner begründeten Einschätzung grundsätzlich verfügbare Standardtherapien nicht aufgeführt und damit keiner Abwägung unterzogen, erschöpft sich die verwaltungsseitige und gerichtliche Überprüfung in der Feststellung, dass es weitere Standardtherapien gibt. Die eingeschränkte Überprüfbarkeit der begründeten Einschätzung gilt auch im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob dieser Umstand eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind (BSG aaO).
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Unter Beachtung dieser Vorgaben sind die Angaben des Dr. F. nicht vollständig, da es weitere Standardtherapien gibt. Weiterhin wurde eine eventuelle bei dem Kläger bestehende Cannabisabhängigkeit (stationärer Aufenthalt in 2017) sowie ein illegaler Handel in keiner seiner Fragebögen oder Stellungnahmen berücksichtigt. Die vom Gesetz geforderte begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes liegt damit nicht vor.
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Aber auch eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf der ADHS oder auf schwerwiegende Symptome (§ 31 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 SGB V) durch die Cannabisblüten vermag die Kammer nicht zu erkennen. An die Prognose der Erfolgsaussicht sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Diese Anspruchsvoraussetzung knüpft an § 2 Abs. 1a S. 1 SGB V an, geht aber insoweit darüber hinaus, als eine spürbar positive Einwirkung auf schwerwiegende Krankheitssymptome ohne Einwirkung auf die Grunderkrankung ausreichend ist (BT-Drucks 18/8965 S. 24). Ausreichend ist, dass im Hinblick auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome nach wissenschaftlichen Maßstäben objektivierbare Erkenntnisse dazu vorliegen, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet (vgl BSG vom 7.11.2006 – B 1 KR 24/06 R – BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr. 12, RdNr. 24 ff; BSG vom 7.5.2013 – B 1 KR 26/12 R – SozR 4-2500 § 18 Nr. 8 RdNr. 19) (vgl. BSG aaO).
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Zwar verweist Herr Dr. F. zur Begründung der Erfolgsaussicht auf die Erfolge in der Behandlung des Klägers, dies ist aber hier nicht ausreichend. Weitere positive Erkenntnisse werden von dem Kläger nicht vorgetragen und sind dem Gericht auch nicht bekannt. Die bereits zitierte AWMF-Behandlungsleitlinie vom 2. Mai 2017 empfiehlt (unter Punkt 1.4.5.8.) im Rahmen eines Expertenkonsenses, Cannabis zur Behandlung von ADHS nicht einzusetzen. Dies gilt auch für das zentrale adhs-netz der Uniklinik K. (Stellungnahme der Leistungsgruppe vom 03.11.2017). Der MD verweist in seiner Stellungnahme vom 23.01.2020 nach Durchführung einer Metaanalyse auf verschiedene Veröffentlichungen, aus denen sich im Ergebnis eine nur schwache Evidenz für eine Reduktion der Symptome der ADHS bei weitgehend unklarem Nebenwirkungsprofil ergeben.
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Im Ergebnis liegen die Voraussetzungen für eine Genehmigung der Verordnung von Cannabisblüten insgesamt nicht vor, die Klage war abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.