Titel:
Arbeitsunfall, Unfallbedingtheit, Sozialgerichte, Theorie der wesentlichen Bedingung, Widerspruchsbescheid, Gesundheitsbeeinträchtigung, Elektronischer Rechtsverkehr, Kostenentscheidung, Klageerhebung, Außergerichtliche Kosten, Verweisung des Rechtsstreites, Unfallereignis, Sozialgerichtsgesetz, Örtliche Zuständigkeit, Heilbehandlungskosten, Erfahrungssätze, Gutachten, ursächlicher Zusammenhang, Unfallhergang, Versicherungsfall
Schlagworte:
Arbeitswegeunfall, Schulterverletzung, Degenerative Veränderungen, Gutachten, Kostenentscheidung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 30.10.2024 – L 2 U 125/23
BSG Kassel, Beschluss vom 03.03.2025 – B 2 U 122/24 B
Fundstelle:
BeckRS 2023, 55712
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2020 wird teilweise aufgehoben.
II. Es wird festgestellt, dass die folgenlos verheilte Zerrung im Bereich des Bauchnabels weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 ist.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Die Beklagte hat 1/6 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.
Tatbestand
1
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der weitergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin im Bereich der rechten Schulter, der rechten Bizepssehne und im Bereich des Bauchnabels als Folge des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 sowie um die Übernahme der Heilbehandlungskosten über den 11.03.2019 hinaus.
2
Die 1964 geborene Klägerin war im Unfallzeitpunkt als wissenschaftliche Angestellte bei der TU in F.-Stadt beschäftigt. Am 11.02.2019 um 08:45 Uhr wollte die Klägerin auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle in ihr Auto einsteigen, rutschte dabei wegen Glatteises aus, stürzte und fiel auf die rechte Schulter. Sie unternahm noch einen Arbeitsversuch, brach die Arbeit aber während des Unfalltags ab. Am Folgetag begab sie sich in die Behandlung der in D-Stadt. Dort stellte der Durchgangsarzt Herr D. folgende Erstdiagnose: „Prellung re. Schulter, V. a. Läsion der SSP re.“.
3
Der beratende Arzt für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. B. empfahl in einer Stellungnahme nach Aktenlage vom 06.08.2019 die Durchführung einer Zusammenhangsbegutachtung.
4
Der Facharzt für Orthopädie und Sportmedizin Dr. W. erstellte am 28.10.2019 nach Untersuchung der Klägerin am gleichen Tag ein traumatologisches Fachgutachten zur Zusammenhangsfrage für die Beklagte. Er kam zum Ergebnis, dass es bei der Klägerin durch das Unfallereignis vom 11.02.2019 zu einem Zustand nach Verdrehung/Prellung des Schultergürtels rechts mit Verdacht auf stattgehabte Zerrung der vorderen Gelenkkapsel im rechten Schultergelenk gekommen sei. Die bei der Untersuchung durch Dr. W. noch bestehenden Funktionsdefizite den rechten Schultergürtel betreffend könnten nicht mit ausreichender Sicherheit auf das Unfallgeschehen zurückgeführt werden. Als unfallunabhängige Gesundheitsstörung liege bei der Klägerin eine kalzifizierende Supraspinatussehnentendopathie rechts im Ansatzbereich am Tuberculum maius rechts vor. Die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit habe jeweils für maximal vier Wochen bestanden, also bis längstens zum 11.03.2019. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage vom 12.02.2019 bis 19.02.2019 100 v., vom 20.02.2019 bis 28.02.2019 50 v., vom 01.03.2019 bis 15.03.2019 20 v. und vom 16.03.2019 bis 31.03.2019 10 v. Ab dem 01.04.2019 sei von keiner unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungsbedürftigkeit auszugehen.
5
Der beratende Arzt Dr. B. stimmte den Ausführungen des Dr. W. mit Stellungnahme nach Aktenlage vom 20.11.2019 vollumfänglich zu.
6
Daraufhin erließ die Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid vom 27.11.2019, mit welchem sie den Unfall vom 11.02.2019 als Versicherungsfall anerkannte und entschied, dass es durch den Unfall vom 11.02.2019 zu einer folgenlos verbliebenen Verdrehung und Prellung des rechten Schultergürtels mit Zerrung der vorderen Gelenkkapsel im rechten Schultergelenk gekommen sei. Die Sehnenerkrankung mit kalkartigen Ablagerungen (kalzifizierende Supraspinatussehnentendopathie) im Ansatzbereich des Knochenvorsprungs des rechten Oberarms (Tuberculum maius) – sogenannte Kalkschulter – und der Zustand nach der operativen Versorgung einer Nabelhernie im Jahr 2018 mit Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und des rechten Hüftgelenkes wurden nicht als Folgen des Versicherungsfalls bewertet. Anspruch auf Heilbehandlung wurde bis 11.03.2019 zuerkannt. Die Beklagte stellte zudem klar, dass ihre bisherigen Aufwendungen nicht von der Klägerin zurückgefordert werden. Einen Widerspruch der Klägerin vom 23.12.2019 hiergegen wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.07.2020 zurück.
7
Hiergegen hat die Klägerin mit Schriftsatz des VdK vom 23.07.2020, welcher am 28.07.2020 per Fax beim Sozialgericht Landshut eingegangen ist, Klage zum Sozialgericht Landshut erheben lassen.
8
Nach Anhörung des Gerichts zur beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht München hat die Klägerin mit Schriftsatz des VdK vom 13.08.2020 dahingehend Stellung nehmen lassen, dass sie seit dem 12.06.2020 einen Nebenwohnsitz in A-Stadt (Landkreis D-Stadt) habe. Dort werde derzeit das Haus renoviert. Seit Mitte Juni 2020 halte sie sich nahezu ausschließlich in A-Stadt auf. Sie übernachte auch dort. Die Arbeitsstelle in F. erreiche sie ebenso gut von Altdorf aus. Langfristig werde der Wohnsitz in A-Stadt ebenfalls beibehalten und genutzt werden. Es sei geplant, beide Wohnsitze gleich zu nutzen.
9
Das Gericht hat daraufhin Befundberichte von den behandelnden Ärzten der Klägerin, Dr. E. in E-Stadt, Dr. D. in D-Stadt und Dr. C. in C-Stadt, Unterlagen der Krankenkasse der Klägerin, verschiedene radiologische Aufnahmen der rechten Schulter, der rechten Clavicula, der Halswirbelsäule und des Thorax sowie die beim Zentrum Bayern Familie und Soziales geführte Behindertenakte beigezogen.
10
Der Dr. L., ist zum ärztlichen Sachverständigen ernannt worden. Dieser ist in seinem orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgutachten vom 25.10.2022, welches er nach Untersuchung der Klägerin am 09.10.2022 erstellt hat, zum Ergebnis gekommen, dass die Klägerin beim Unfall vom 11.02.2019 eine Prellung/Distorsion der rechten Schulter sowie eine Zerrung im Bereich des Bauchnabels erlitten habe. Diese Verletzungen seien folgenlos verheilt. Unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit habe für vier Wochen bestanden bis 11.03.2019. An unfallunabhängigen Gesundheitsstörungen hätten bei der Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls vom 11.02.2019 eine Kalkschulter rechts, eine fortgeschrittene Arthrose des Brustbein-Schlüsselbein-Gelenkes beidseits, ein Impingement-Syndrom der Schulter rechts bei deutlich hochstehendem Oberarmkopf mit Einengung des Raumes unter dem Schulterdach (subacromial), korrespondierender Sklerosezone im Bereich des angrenzenden Oberarmkopfes (Tuberculum maius) und knöchernem Sporn am Unterrand des Akromions (Gräteneck), eine mäßige Degeneration der hinteren Gelenklippe der Schulterpfanne rechts, rezidivierende Kniescheibenausrenkungen der Kniegelenke beidseits, ein chronisches HWS-/BWS-/LWS-Syndrom bei Protrusion Th10/11, Spondylose Th9/10/11, fehlstatischer muskulärer Dysbalance, Zervikobrachialgie links, Osteochondrose L4/5, Bandscheibenvorfall L4/5 und lumbaler Spondylarthrose sowie ein Knick-Senkfuß beidseits bestanden.
11
In der mündlichen Verhandlung vom 13.01.2023 hat die Klägerin den Unfallhergang näher geschildert und Einwände gegen das Gutachten des Dr. L. vom 25.10.2022 erhoben. Wegen der Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die öffentliche Sitzung vom 13.01.2023 verwiesen.
12
Die Klägerin hat beantragen lassen,
den Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2020 teilweise aufzuheben, festzustellen, dass die weitergehende gesundheitliche Beeinträchtigung der Klägerin im Bereich der rechten Schulter und der rechten Bizepssehne sowie die Zerrung im Bereich des Bauchnabels Folgen des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 sind, und die Beklagte zu verpflichten, die Kosten der unfallbedingten Heilbehandlung über den 11.03.2019 hinaus zu übernehmen.
13
Die Beklagte hat beantragt,
14
Im Hinblick auf die weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die beigezogene Akte der Beklagten, auf die beigezogene Behindertenakte der Klägerin sowie auf die vorliegende Streitakte, insbesondere auf das darin befindliche Gutachten des Dr. L..
Entscheidungsgründe
15
Das Sozialgericht Landshut geht von seiner örtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung dieses Rechtsstreits aus. Gemäß § 57 Absatz 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist das Sozialgericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat; steht er in einem Beschäftigungsverhältnis, so kann er auch vor dem für den Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht klagen. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung behalten und benutzen wird (§ 30 Absatz 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I). In Betracht kommen auch mehrere Wohnsitze, sofern der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse an mehreren Orten ist; der Kläger kann in diesem Fall wählen, wo er klagen will (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 57 Rn. 6 m. w. N.). Im Hinblick auf die Ausführungen der Klägerseite im Schriftsatz des VdK vom 13.08.2020 geht das Gericht davon aus, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung, also am 28.07.2020, mehrere Wohnsitze hatte. Sie renovierte zum Zeitpunkt der Klageerhebung in A-Stadt (Landkreis D-Stadt) ein Haus und hielt sich seit Mitte Juni 2020 und noch längere Zeit nahezu ausschließlich dort auf. Sie übernachtete auch dort. Der Wohnsitz in A-Stadt sollte langfristig beibehalten und benutzt werden. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Klägerin neben ihrem Wohnsitz in I-Stadt (Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts München) auch einen Wohnsitz in A-Stadt (Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts Landshut) hatte. Der Klägerin stand somit ein Wahlrecht zu, vor welchem der beiden Gerichte sie klagen will. Sie hat ihr Wahlrecht dahingehend ausgeübt, dass sie Klage zum Sozialgericht Landshut erhoben hat.
16
Die Klage ist zulässig, aber nur zu einem geringen Umfang begründet. Über die Feststellungen der Beklagten hinaus ist auch eine folgenlos verheilte Zerrung im Bereich des Bauchnabels als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 anzuerkennen. Im Übrigen ist der Bescheid der Beklagten vom 27.11.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.07.2020 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
17
Die Klägerin hat am 11.02.2019 einen Arbeitswegeunfall im Sinne des § 8 Absatz 2 Nummer 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) erlitten, als sie auf dem Weg zur Arbeit vor ihrem Haus ausrutschte, stürzte und auf die rechte Schulter fiel.
18
Als Folgen dieses Arbeitsunfalls wurden von der Beklagten zutreffend eine folgenlos verbliebene Verdrehung und Prellung des rechten Schultergürtels mit Zerrung der vorderen Gelenkkapsel im rechten Schultergelenk anerkannt.
19
Die Anerkennung weiterer Schäden im Bereich der rechten Schulter als Folge des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 kommt zur Überzeugung der Kammer nicht in Betracht. Die Kammer folgt insoweit den überzeugenden Ausführungen des Dr. L. in dessen Gutachten vom 25.10.2022.
20
Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und der maßgeblichen Erkrankung muss im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen. Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolgs, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (sog. conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen ist im Sozialrecht eine zweite Selektionsstufe für die Summe der möglichen Ursachen eingeführt worden – die sog. „Theorie der wesentlichen Bedingung“. Danach ist nur diejenige Ursache rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg dessen Eintritt wesentlich mitbewirkt hat. Nach der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnis muss dieser Zusammenhang wahrscheinlich sein, d. h. es muss mehr dafür als dagegen sprechen (vgl. ständige Rechtsprechung, etwa im Urteil des BSG vom 09.05.2006, Az.: B 2 U 1/05 R). Ein rein zeitlicher Zusammenhang, d. h. das Auftreten einer Gesundheitsstörung nach einem Unfallereignis, reicht hierfür nicht aus.
21
Bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Arbeitsunfall und einer Verletzung im Bereich der rechten Schulter sind verschiedene Kriterien wie die Vorgeschichte, die Analyse des Unfallgeschehens im biomechanischen/naturwissenschaft-lichen Sinne, das Erstschadensbild, die Analyse der unfallzeitpunktnahen Bildgebung sowie die Analyse des Krankheitsverlaufs zu berücksichtigen.
22
Bei der Klägerin existiert keine (bereits symptomatisch gewordene) Vorerkrankung im Bereich der rechten Schulter. Durch die Röntgenbildgebung des rechten Schultergelenks vom 12.02.2019, die MRT-Bildgebung des rechten Schultergelenks vom 20.02.2019 und das CT von Schlüsselbein und Schulter beidseits vom 16.07.2019 ließen sich bei der Klägerin jedoch eine Vielzahl von vorbestehenden degenerativen Veränderungen der rechten Schulter in Form von Schadensanlagen objektivieren. Im Einzelnen wurden ein hochstehender Oberarmkopf mit Einengung des Raumes unter dem Schulterdach (subacromial) und korrespondierender Sklerosezone im Bereich des angrenzenden Oberarmkopfes (Tuberculum maius), eine kleinflächige zystische Veränderung im hinteren oberen Bereich des Oberarmkopfes, eine mäßige Degeneration der hinteren Gelenklippe der Schulterpfanne, ein knöcherner Sporn am Unterrand des Akromions (Gräteneck), ein großes Kalkdepot im Bereich des Ansatzes der Supraspinatussehne, eine fortgeschrittene Schultereckgelenksarthrose, eine chronische Schleimbeutelentzündung der Schleimbeutel unter dem Schulterdach (Bursa subdeltoidea und subacromialis), ein großes Ossikel im Weichteilgewebe im Bereich der linken Schulter, eine fortgeschrittene Arthrose des Brustbein-Schlüsselbein-Gelenkes beidseits und eine degenerative Veränderung im vorderen oberen Bereich des Oberarmkopfes festgestellt.
23
Das Unfallgeschehen wurde von der Klägerin gegenüber Dr. L. im Wesentlichen so geschildert wie in der mündlichen Verhandlung vom 13.01.2023. So hat die Klägerin bereits gegenüber Dr. L. geschildert, dass es zu einem Verdrehen der rechten Schulter gekommen sei, nachdem die Füße nach hinten langsam wegrutschten. Auch hat sie gegenüber Dr. L. bereits geschildert, dass es hierbei biomechanisch zu einer Außenrotation in Abduktion und gleichzeitigem Druck im Gelenk nach hinten durch die aufgestützte Hand am Auto kam (S. 31 des Gutachtens des Dr. L. vom 25.10.2022). Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 13.01.2023 ergänzend dargelegt hat, dass sie in der linken Hand einen Kaffeebecher gehalten habe, so dass sie sich nur mit dem rechten Arm am Auto habe abstützen können, ändert dies an der Biomechanik des Unfallhergangs (Verdrehen der rechten Schulter, Außenrotation in Abduktion und gleichzeitiger Druck im Gelenk nach hinten durch die aufgestützte Hand am Auto) nichts. Lediglich auf das Ausmaß der Kraftentfaltung auf die rechte Schulter kann diese Ergänzung Einfluss haben. Für die Kammer ist aber nicht ersichtlich, dass diese Ergänzung zu einer grundlegend anderen Bewertung des Unfallhergangs führt.
24
Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 25.10.2022 dargelegt, dass der von der Klägerin geschilderte Unfallhergang ein Verdrehtrauma im Bereich der rechten Schulter und anschließend ein direktes Anpralltrauma im Bereich der rechten Schulter erkennen lässt. Er hat aber auch darauf hingewiesen, dass ein Herausspringen der Schulter aus dem Gelenk (Luxation) aus biomechanischer Sicht nicht hervorgerufen worden sein kann. So hat Dr. L. darauf hingewiesen, dass für ein Herausspringen der Schulter nach hinten (hintere Luxation) als mögliche Verletzungsmechanismen ein Sturz auf den Arm in Flexion, Innenrotation und Adduktion, ein Krampfanfall oder ein Elektroschock in Betracht kommen, für ein Herausspringen der Schulter nach vorne (vordere Luxation) eine Schulterabduktion bis 90 Grad mit zusätzlich von außen einwirkender Außenrotationskraft, wie z. B. ein Sturz auf den ausgestreckten Arm. Dies entspricht im Wesentlichen den Erfahrungssätzen in der gesetzlichen Unfallversicherung, wie sie von der Rechtsprechung sowie vom versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum erarbeitet und z. B. in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 552 ff., niedergelegt worden sind.
25
Darüber hinaus hat Dr. L. in seinem Gutachten vom 25.10.2022 dargelegt, dass der Unfallhergang nach gegenwärtiger Lehrmeinung auch nicht geeignet ist, einen traumatischen Riss der Rotatorenmanschette zu verursachen.
26
Von der Rechtsprechung sowie vom versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum sind Erfahrungssätze in der gesetzlichen Unfallversicherung erarbeitet worden, anhand derer zu beurteilen ist, ob eine Verletzung der Rotatorenmanschette Folge eines Arbeitsunfalls ist oder nicht. Diese Erfahrungssätze sind niedergelegt in Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 429 ff. Potenziell geeignete Verletzungsmechanismen sind demnach ein massives plötzliches Rückwärtsreißen oder Heranführen des Arms, wenn dieser zuvor fixiert war, ein Sturz aus der Höhe nach vorn und Festhalten mit der Hand oder Treppensturz und Festhalten mit der Hand am Geländer, sodass der Arm nach hinten gerissen wird, ein ungeplantes Auffangen eines schweren stürzenden Gegenstands sowie ein Sturz auf den nach hinten ausgestreckten Arm mit Aufprall auf Hand oder Ellenbogen. Ungeeignete Hergänge sind demgegenüber eine direkte Krafteinwirkung auf die Schulter (Sturz, Prellung, Schlag), ein Sturz auf den ausgestreckten Arm oder den angewinkelten Ellenbogen, eine fortgeleitete Krafteinwirkung bei seitlicher oder vorwärtsgeführter Armhaltung (Stauchung), aktive Tätigkeiten, die zu einer abrupten, aber planmäßigen Muskelkontraktion führen (Heben, Halten, Werfen), sowie plötzliche Muskelanspannungen.
27
Einfache Sturzvorgänge auf den angelegten Oberarm oder Stürze nach vorne mit Abstützvorgängen der Arme sind demnach keine geeigneten Unfallmechanismen zur Verursachung traumatischer Rotatorenmanschettenrupturen. Ebenso wenig geeignet ist eine fortgeleitete Krafteinwirkung bei seitlicher oder vorwärtsgeführter Armhaltung.
28
Dr. L. hat allerdings in seinem Gutachten vom 25.10.2022 auch zutreffend darauf hingewiesen, dass die Analyse des Unfallhergangs lediglich dazu geeignet ist, Hinweise für eine Verletzungswahrscheinlichkeit zu überprüfen. Ein Verletzungsnachweis muss zwingend durch nachfolgende klinische, bildgebende sowie – wenn vorhanden – intraoperative und feingewebliche Befunde gesichert bzw. bewiesen werden. Selbst wenn man also davon ausginge, dass der nunmehr in der mündlichen Verhandlung vom 13.01.2023 geschilderte Unfallhergang grundsätzlich geeignet wäre, eine Verletzung im Bereich der rechten Schulter herbeizuführen, würde dies allein nicht genügen, damit eine Verletzung der rechten Schulter als Unfallfolge anerkannt werden kann.
29
Im Durchgangsarztbericht des Dr. D. vom 12.02.2019 wurde das klinische Bild eines akut verletzten Schultergelenkes mit Druckschmerzen am Oberarmkopf und eingeschränkter Beweglichkeit beschrieben. Äußerliche Anzeichen einer direkten Verletzung im Bereich der rechten Schulter fehlten jedoch.
30
In der am 12.02.2019 angefertigten Röntgenbildgebung der rechten Schulter zeigten sich keine frischen traumatischen Verletzungen, wohl aber die bereits beschriebenen degenerativen Veränderungen.
31
Auch in einer Kernspintomographie der rechten Schulter vom 20.02.2019 zeigte sich außer einem leichtgradigen Gelenkerguss weiterhin kein Hinweis auf eine frische Verletzungsfolge, wohl aber die oben bereits genannten degenerativen Veränderungen.
32
In einer Computertomographie von Schlüsselbein und Schulter beidseits vom 16.07.2019 fanden sich auch im vorderen oberen Oberarmkopf der Gegenseite (links) Unregelmäßigkeiten im Bereich des vorderen oberen Oberarmkopfes, welche als degenerativ zu werten sind.
33
Soweit in der MRT-Bildgebung vom 11.08.2020 neben einem Impingement-Syndrom mit AC-Gelenkarthrose und Reizung der Bizepssehne auch eine dorsale Subluxationsstellung des Humeruskopfes mit angedeuteter reverser Hill-Sachs-Läsion beschrieben wurde, kann dies nach Einschätzung des Dr. L. in seinem Gutachten vom 25.10.2022, welche sich die Kammer zu eigen macht, nicht zur Folge haben, dass eine weitergehende gesundheitliche Beeinträchtigung der Klägerin im Bereich der Schulter in Folge einer instabilen Schultersubluxationsstellung des Humeruskopfes mit angedeuteter Hill-Sachs-Läsion, eine posteriore Subluxationsstellung, ein Impingement-Syndrom sowie eine AC-Gelenksarthrose mit Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich auf das Unfallereignis vom 11.02.2019 zurückzuführen sind. Hiergegen spricht, dass in der unfallzeitpunktnah angefertigten Bildgebung keinerlei strukturelle Veränderungen zu erkennen waren, darüber hinaus sprechen gegen den Unfallzusammenhang die Biomechanik des Unfallereignisses sowie die nachgewiesenen degenerativen Veränderungen, welche typisch sind für eine langjährige Leistungsschwimmerin, sowie die bestehenden degenerativen Veränderungen auch im Bereich der linken Schulter. Anzumerken ist darüber hinaus, dass die MRT-Bildgebung vom 11.08.2020 zu spät erfolgt ist, um eine Zusammenhangbeurteilung hierauf stützen zu können. So wird nach den einschlägigen Erfahrungssätzen für die Beurteilung, ob ein Rotatorenmanschettenschaden Folge eines Arbeitsunfalls ist oder nicht, gefordert, dass ein MRT innerhalb von sechs Wochen nach dem Unfallereignis angefertigt wurde (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 435). Das MRT vom 11.08.2020 erfolgte erst 1,5 Jahre nach dem Unfallereignis vom 11.02.2019. Für eine Zusammenhangsbeurteilung ist ein derart spät angefertigtes MRT nicht mehr verwertbar.
34
Ein intraoperativer oder feingeweblicher Befund liegt im Falle der Klägerin nicht vor.
35
Zusammenfassend hat Dr. L. in seinem Gutachten vom 25.10.2022 ausgeführt, dass sich im Bereich des rechten Schultergelenkes als alleinige frische Verletzungsfolge ein gering ausgeprägter Gelenkerguss gezeigt hat, welcher auf Grund einer Zerrung der Gelenkkapsel bedingt ist. Weiterhin sind deutliche Degenerationen im Sinne eines Impingementsyndroms (Engpasssyndrom) und einer Kalkschulter (Stadium II) vorhanden.
36
Außer einem geringen Gelenkerguss fanden sich keine Residuen einer adäquaten Krafteinwirkung. Es zeigten sich keine Knochenmarködeme, keine residuellen Schwellungen, keine Hämatome im Bereich der schulterumgreifenden Weichteile und keine Blutungsresiduen im Bereich des Sehnen-Muskel-Übergangs oder der Muskulatur. Der Gelenkerguss zeigte nach Einschätzung des Dr. L. vom 25.10.2022, welche sich die Kammer zu eigen macht, das Korrelat einer Zerrung der Schultergelenkkapsel.
37
Der Nachweis einer degenerativ veränderten hinteren unteren Gelenklippe (Labrum) wurde von Dr. L. als typisch für eine langjährige aktive Leistungsschwimmerin wie die Klägerin gewertet.
38
Die Kammer macht sich diese Einschätzung des Dr. L. zu eigen. Der abweichenden Einschätzung des behandelnden Arztes Dr. E. folgt die Kammer nicht. Dabei erscheint es nach Einschätzung der Kammer nicht zielführend zu spekulieren, aus welchen Gründen Dr. E. zu einer abweichenden Bewertung gelangt ist. Dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. L. lagen alle maßgeblichen Befunde vor, insbesondere alle zeitnah erhobenen klinischen und bildgebenden Befunde. Dr. L. hat auf der Grundlage der vorliegenden Befunde eine umfassende und nachvollziehbare Zusammenhangsbeurteilung vorgenommen.
39
Auch ein Reizzustand im Bereich der Bizepssehne ist nach Einschätzung des Dr. L., welche sich die Kammer zu eigen macht, nicht als Unfallfolge zu interpretieren. Dr. L. hat in seinem Gutachten vom 25.10.2022 dargelegt, dass die lange Bizepssehne in weiten Teilen im Schultergelenk läuft. Dies macht diese anfällig für alle entzündlichen Veränderungen und Erkrankungen, die die Gelenkschleimhaut und das Schultergelenk betreffen. Es handelt sich hier um eine degenerative Veränderung und nicht um eine Unfallfolge.
40
Über die Feststellungen der Beklagten hinausgehend ist allerdings eine folgenlos verheilte Zerrung des Bauchnabels als weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 anzuerkennen. Auch insoweit folgt die Kammer der Einschätzung des Dr. L. in dessen Gutachten vom 25.10.2022. Dr. L. hat insoweit ausgeführt, dass sich in der Aktenlage die Dokumentation einer zwischenzeitlich aufgetretenen Schmerzsymptomatik im Bereich eines 2018 operativ versorgten Bauchnabelbruchs findet. Auch ohne viszeralchirurgische Abklärung ist auf Grund des folgenlosen Abklingens der Beschwerden von einer Zerrung der Bauchwand im Bereich der OP-Narbe am Bauchnabel auszugehen.
41
Sonstige Folgen des Arbeitsunfalls vom 11.02.2019 sind nicht anzuerkennen. Auch insoweit schließt sich die Kammer der Einschätzung des Dr. L. an. So ist im Hinblick auf die aktenkundigen ausgeprägten degenerativen Veränderungen und vorbekannten Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule der Sturz vom 11.02.2019 allenfalls als Gelegenheitsursache eines im Verlauf entstehenden Beschwerdebildes im Bereich der Halswirbelsäule zu werten. Eine Schmerzsymptomatik im Bereich des rechten Handgelenks wird gut drei Wochen nach dem Sturz erstmalig aktenkundig. Es fehlt insoweit an einer strukturell nachgewiesenen Verletzung. Bezüglich der von der Klägerin beschriebenen Schmerzsymptomatik im Bereich der rechten Hüfte ist ärztlicherseits keine Dokumentation vorhanden. Eine Unfallverletzung ist daher nicht zu beweisen. Eine Anerkennung der Beschwerden im Bereich des rechten Ellenbogens scheidet nicht nur auf Grund des fehlenden Vollbeweises eines Gesundheitsschadens durch eine Bildgebung, sondern auch auf Grund der zeitlichen Latenz des Auftretens der Beschwerden aus. Eine frische Verletzungsfolge im Bereich des Brustbein-Schlüsselbein-Gelenkes beidseits konnte ausgeschlossen werden. Auch zeigte sich bereits unfallzeitpunktnah eine degenerativ zystische Veränderung im Bereich des vorderen oberen Oberarmkopfes, so dass ein Zusammenhang mit dem Unfall vom 11.02.2019 nicht hergestellt werden kann.
42
Ein Anspruch der Klägerin auf unfallbedingte Heilbehandlung gemäß § 26 Absatz 1 und Absatz 2 Nummer 1 i. V. m. §§ 27 ff. SGB VII über den 11.03.2019 hinaus besteht nicht. Die Kammer stützt ihre Überzeugung auch insoweit auf das Gutachten des Dr. L. vom 25.10.2022. Dieser ist von unfallbedingter Behandlungsbedürftigkeit für die Dauer von vier Wochen bis zum 11.03.2019 ausgegangen.
43
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache. Dass die Kammer die folgenlos verheilte Zerrung des Bauchnabels als weitere Unfallfolge anerkannt hat, wurde bei der Kostenentscheidung dahingehend berücksichtigt, dass die Beklagte 1/6 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen hat.