Titel:
Geplante Abschiebung, Abschiebungsgewahrsam, Unerlaubte Einreise, Dolmetscherkosten, Anordnung der sofortigen Wirksamkeit, Unerlässlichkeit, Freiheitsentziehung, Unerlaubter Aufenthalt, Richterliche Anordnung, Ausreisefrist, Vollziehbar Ausreisepflichtige, Verwaltungsgerichte, Gültigkeitsdauer, Kostenentscheidung, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft, Visaerschleichung, Sofortige Wirksamkeit der Entscheidung, Außergerichtliche Kosten, Gewahrsam, Betroffenheit
Schlagworte:
Abschiebungshaft, Visaerschleichung, unerlaubte Einreise, richterliche Entscheidung, Freiheitsentziehung, Ermessensausübung, sofortige Wirksamkeit
Rechtsmittelinstanz:
LG Landshut, Beschluss vom 13.06.2024 – 65 T 214/24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 55591
Tenor
1. Der von der Antragstellerin am 14.11.2023 ab 20.50 Uhr durchgeführte Abschiebegewahrsam gegen die Betroffene wird für zulässig erklärt und dessen Fortdauer bis längstens zum Ablauf des 17.11.2023 angeordnet.
2. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.
3. Von der Erhebung der Gerichtskosten einschließlich Dolmetscherkosten wird abgesehen. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet
Gründe
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Mit Schreiben vom 15.11.2023 beantragte die Bundespolizeidirektion München die Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über die Zulässigkeit und die Fortdauer der von ihr gem. § 58 Abs. 4 AufenthG durchgeführten Festnahme und kurzzeitigen Festhaltung der Betroffenen zum Zwecke der Abschiebung. Sie beantragt die Fortdauer bis Ablauf des 17.11.2023 anzuordnen.
Zur Begründung führt die Behörde aus:
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Die Betroffene wurde am 14.11.2023 gegen 20:50 Uhr nach Ankunft aus Paris mit Flug AF ...2 im Rahmen einer grenzpolizeilichen Befragung überprüft.
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Als Reisedokument legte sie einen gültigen und anerkannten russischen Reisepass vor. In dem Reisepass befanden sich mehrere Schengen Visa.
Gültigkeitsdauer: 15.12.2022-15.03.2023
Einreisestempel Spanien: 18.12.2022
Ausreisestempel Deutschland 22.02.2023
Gültigkeitsdauer: 25.04.2023-05.05.2023
Keine Reise mit dem Visum
Gültigkeitsdauer: 21.06.2023-07.07.2023,
Einreisestempel Deutschland 25.06.2023
Ausreisestempel Deutschland 06.07.2023 Gesamtaufenthalt Deutschland
Gültigkeitsdauer 15.09.2023-14.09.2024
Einreisestempel Frankreich 14.11.2023
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Laut Stempellage reiste die Person am 14.11.2023 in Paris ein und reiste direkt mit Flug AF...2 von Frankreich nach Deutschland. Zunächst gab die Person an, einen Freund (A. S.) in Deutschland zu besuchen. Die Dauer des Aufenthalts steht noch nicht fest und ein Rückflugticket ist noch nicht gebucht. Die Person verhielt sich unkooperativ und verweigerte Antworten auf die Fragen der eingesetzten Beamten.
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Zur Prüfung der Reisegründe wurde die Betroffene zunächst zur nahegelegenen Wache verbracht. Dort wurde der o.g. Abholer vorstellig und gab an, dass die Betroffene für die nächsten 3 Monate bei ihm in Deutschland bleiben wird.
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Die Betroffene wurde mittels sprachkundiger Beamtin einer schriftlichen polizeilichen Befragung unterzogen. Dabei gab sie zu Protokoll, lediglich für eine Woche nach Deutschland zu kommen und keine Reisepläne nach Frankreich zu haben. Während der polizeilichen Befragung ergab sich ein Anfangsverdacht einer Visaerschleichung nach § 95 I Nr. 3 AufenthG i.V.m. § 95 VI AufenthG.
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Daraufhin wurde eine strafrechtliche Vernehmung mittels Dolmetscher durchgeführt. In dieser Vernehmung gab sie zunächst an, dass sie Reisepläne in Frankreich hatte. Im späteren Verlauf der Vernehmung gab sie jedoch zu Protokoll, dass sie nur nach Deutschland will um ihren Freund zu sehen und die Beantragung eines französischen Visums schneller möglich ist als die Beantragung eines deutschen Visums. Für die Reise über den gesamten Gültigkeitszeitraum des Visums spricht weiterhin das mitgeführte Gepäck von 2 großen Reisekoffern und einer weiteren großen Reisetasche. Die zur Beantragung gemachten Angaben wie die Hotelbuchung wurden nach Ausstellung des Visums storniert.
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Der Betroffene befindet sich seitdem in Gewahrsam auf der Wache der Bundespolizei.
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1. Das Verfahren richtet sich nach Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) § 106 Abs. 2 AufenthG.
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Zur Entscheidung über diesen Antrag ist das Amtsgericht Erding gemäß § 416 FamFG i.V.m. § 106 Abs. 2 AufenthG zuständig.
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2. Ein zulässiger Haftantrag gem. § 417 FamFG liegt vor. Die Bundespolizeidirektion München, vertreten durch die Bundespolizeiinspektion Flughafen München I, ist zur Rückführung und Antragstellung sachlich und örtlich zuständig (§ 1 Abs. 2 BPolG, § 2 BPolZV i. V. m. § 71 Abs. 3 AufenthG).
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3. Der Betroffenen wurde der Antrag in der richterlichen Anhörung vollständig in russisch übersetzt und sie wurde gem. § 420 FamFG gehört. Bei dem Sachverhalt handelt es sich um einen einfachen und überschaubaren Sachverhalt, zu welchem die Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne Weiteres auskunftsfähig war. Aus diesem Grund war es zulässig, den übersetzten Haftantrag der Betroffenen nicht schriftlich zu übergeben, sondern ihn durch den Dolmetscher übersetzen zu lassen. Bzgl. der Angaben wird auf die heutige Niederschrift verwiesen.
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4. Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft Landshut bedarf es in diesem Fall nach § 72 Abs. 4 S. 3 AufenthG nicht, da hier lediglich ein Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat nach § 95 AufenthG oder eine Straftat mit geringem Unrechtsgehalt nach § 72 Abs. 4 S. 5 eingeleitet worden ist.
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5. Dem Gericht lag bei seiner Entscheidung die Ausländerakte der Bundespolizei vor.
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Eine richterliche Entscheidung wurde hier nötig.
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Die Durchführung der Abschiebung ist zwangsläufig mit einer Einschränkung der Freiheit des Abzuschiebenden verbunden. Dennoch stellt die Anwendung einfachen unmittelbaren Zwangs noch keine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG dar, die einer richterlichen Anordnung bedürfte, sondern nur eine Freiheitsbeschränkung. Grundsätzlich ist für das kurzzeitige Festhalten nach § 58 Abs. 4 AufenthG daher keine richterliche Entscheidung notwendig.
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Eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2, die einer richterlichen Anordnung bedarf, liegt aber jedenfalls dann vor, wenn die Freiheitsbeschränkung des Ausländers über das Maß hinausgeht, das im Zuge der Abschiebung unerlässlich ist. Dies gilt insbesondere, wenn der Ausländer bereits mehrere Stunden vor der eigentlichen Abschiebung in Gewahrsam genommen und in einen Haftraum verbracht wird (BVerfG v. 15.5.2002, InfAuslR 2002, 406).
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Die Voraussetzungen der durchgeführten Festnahme und kurzzeitigen Festhaltung der Betroffenen zum Zwecke der Abschiebung gem. § 58 Abs. 4 AufenthG lagen vor.
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1. Aufgrund der unerlaubten Einreise liegen die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebung nach §§ 71 Abs. 3 Nr. 1 b, 58 AufenthG vor.
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Die Rückzuführende ist Ausländer i. S. d. § 2 Abs. 1 AufenthG und unterliegt nach §§ 3 und 4 AufenthG der Pass- und Aufenthaltstitelpflicht. Befreiungen von der Aufenthaltstitelpflicht nach der Aufenthaltsverordnung oder nach dem Recht der Europäischen Union liegen nicht vor. Die Rückzuführende verfügt nicht über einen erforderlichen Aufenthaltstitel und ist aufgrund ihrer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig, §§ 14 Abs. 1 Nr. 2, 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG.
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Die Abschiebung ist ihr per Verfügung über die Abschiebung vom 15.11.1023 mitgeteilt worden. Diese wurde ausgehändigt und vom Sprachmittler übersetzt. Die Abschiebung wurde mittels Bescheid über die Feststellung der Ausreisepflicht und die Festsetzung der Ausreisefrist vom 15.11.2023 mitgeteilt. Zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange wurde von einer Fristgewährung für die Ausreise nach Maßgabe des § 59 Abs. 1, S. 2 und S. 3 AufenthG abgesehen. Diesen Bescheid darf das Gericht zugrunde legen, die inhaltliche Überprüfung bleibt dem Verwaltungsgericht überlassen. Der Haftrichter prüft nur auf offensichtliche Rechtswidrigkeit, die aber nicht gegeben ist.
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Denn die Bundespolizei führte auf Nachfrage aus, warum sie eine freiwillige Ausreise für nicht glaubhaft erachtet. So hat die Betroffene durch ihr Verhalten in der Vergangenheit und auf der Dienststelle gezeigt, dass sie nicht kooperieren wird.
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Eine Glaubhaftmachung, dass sie sich der Abschiebung nicht entziehen wird (Rechtsgedanke des § 62 Abs. 3 S. 2 AufenthG) ist der Betroffenen in der Anhörung daher nicht gelungen. Vielmehr verstrickte sie sich z.B. durch die Angabe ihrer Hochzeitspläne, die sie mal hatte, mal nicht hatte, in Widersprüche zu dem geplanten Aufenthalt. Auch gab sie zwar an, dass ihr Freund ein Rückflugticket habe, allerdings konnte sie dieses nicht vorlegen oder weitere Angaben dazu machen, z.B. zum Rückflugdatum. Vielmehr gab sie im weiteren Verlauf an, dass sie die Hotels in Frankreich storniert habe, um mit ihrem Freund die weitere gemeinsame Reise spontan zu planen.
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Derzeit liegen der Bundespolizei keine Erkenntnisse vor, dass der Rückzuführende einen Asylantrag i. S. d. §§ 13 Abs. 1 S. 1, 14 Abs. 1 S. 1 AsylVfG oder Art. 20 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 604/2013 gestellt hat.
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2. Die Betroffene war in Gewahrsam zu nehmen, denn es besteht der Verdacht, dass sie das Bundesgebiet nicht freiwillig verlässt, sondern vielmehr untertauchen und sich der Abschiebung entziehen wird.
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Die Betroffene nutzte bereits mehrere Visa anderer Schengenstaaten um in ihr Hauptreiseziel Deutschland einzureisen. Dabei nutzte sie wie am 14.11.2023 zunächst eine Einreise in den Visa ausstellenden Staat um den Schein einer legalen Einreise zu wahren.
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Der hohe Aufwand zur Visabeschaffung und den damit verbundenen Maßnahmen wie ein bestimmtes Flugrouting über den Ausstellerstaat des Visums bezeugt, dass sie mit hoher krimineller Energie versucht hat, in das Bundesgebiet einzureisen. Dafür sprechen auch ihre Aussagen im Rahmen der Befragung und Vernehmung, bei der sie einen möglichen Frankreichbezug vorgetäuscht hat. Unter wahrheitsgemäßer Angabe ihrer Reisegründe hätte sie kein französisches Schengenvisum erhalten. Nach Ermittlungen der Bundespolizei ergibt sich der Tatbestand der Visaerschleichung gem. § 95 Abs. 2 AufenthG, sowie der unerlaubten Einreise und unerlaubten Aufenthalt gern §§ 95 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 AufenthG. Sie verfügt über keine gesicherte Absicht freiwillig der Ausreisepflicht nachkommen zu wollen und kann dies auch nicht aus eigenen Mitteln heraus glaubhaft bestreiten (die Person hat 500 Euro dabei). Vielmehr zeigt sich durch weitere Behauptungen, wie z.B. dass ihr Freund und sie heiraten wollen, der Willen hier einen langfristigen Aufenthalt zu planen. Weiterhin zeigt die Einstellung der Kooperation mit den eingesetzten Beamten, wie die Verweigerung von Unterschriften und die Verweigerung der Mitwirkung an den polizeilichen Maßnahmen, dass eine freiwillige Ausreise durch nicht angestrebt wird. Zudem wird bei der Setzung einer Ausreisefrist der unerlaubte Aufenthalt weiter verfestigt.
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Die Würdigung der Gesamtumstände ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Rückzuführende den geplanten aufenthaltsbeendeten Maßnahmen entziehen wird, sehr hoch ist.
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Zur Dauer hat die Bundespolizei ausreichend vorgetragen.
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Die BPOLD München, BPOLI Flughafen München I, vollzieht die Abschiebung bis Ablauf des 17.11.2023 unverzüglich. Die Abschiebung nach Russland wird derzeit am 16.11.2023 um 7.00 Uhr morgens mit einer Flugverbindung über Frankfurt – Belgrad – Moskau gebucht. Falls es hierbei zu evtl. auftretenden technischen Schwierigkeiten oder zu einer Weigerung der Betroffenen kommt, wird Haft bis zum 17.11.2023 beantragt, um hier noch einen Tag Spielraum für eine alternative Buchung oder erneute Vorführung zu haben.
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Anhaltspunkte dafür, dass eine Abschiebung bis dahin nicht möglich ist, liegen derzeit nicht vor. Nach derzeitigem Verfahrensstand ist die geplante Abschiebung nach Russland auch tatsächlich durchführbar.
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Im Rahmen der Ermessensausübung ist eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht der Betroffenen und dem staatlichen Interesse an einer zügigen Durchführung der Abschiebung erforderlich. Hierbei müssen die relevanten persönlichen Umstände der Betroffenen berücksichtigt werden (BGH, Beschluss vom 23.02.2021, Az.: XII ZB 50/20).
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Das Gewahrsam ist hier sehr kurz, und auf die notwendige Dauer zur Abschiebung beschränkt. Verglichen mit der Gefahr, dass die Betroffene in die Freiheit entlassen untertauchen wird, erscheint sie als verhältnismäßig. Das Gewahrsam erweist sich auch vor dem Hintergrund des Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 GG iVm 104 Abs. 2 GG als verhältnismäßig. Zu den Ermessenserwägungen wird im Übrigen vollumfänglich auf den Antrag Bezug genommen.
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Das Recht auf faires Verfahren Art. 6 EMRK wurde durch die Gewährung der telefonischen Teilnahme und Beratung der Betroffenen mit ihrem Rechtsanwalt gewahrt.
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1. Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit beruht auf § 422 Abs. 2 S. 1 FamFG. Sie ist geboten um den Zweck des Ausreisegewahrsams sicherzustellen und den Beschluss vollziehen zu können. Würde der Beschluss erst mit Rechtskraft wirksam werden, wäre die Abschiebung gefährdet.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1 S.2, 51 Abs. 4 FamFG. Hinsichtlich der Dolmetscherkosten wurde die Regelung des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK berücksichtigt.