Inhalt

ArbG Weiden, Beschluss v. 06.12.2023 – 3 BV 3/23
Titel:

Unternehmenseinheitlicher Betriebsrat, Unwirksamkeit der Betriebsratswahl, Wahl zum Betriebsrat, Betriebsratsaufgabe, Freigestellter Betriebsrat, Zahl der Betriebsratsmitglieder, Betriebsratsarbeit, Betriebsratsgremium, Betriebsratsgründung, Betriebsvereinbarung, Zusammenfassung von Betrieben, Betriebsverfassungsrechtliche Organisationseinheit, Betriebsverfassungsgesetz, Anfechtbarkeit, Gesamtbetriebsrat, Beurteilungsspielraum, Arbeitnehmervertretung, Arbeitnehmer als, Arbeitnehmerinteressen, Betriebsbegriff

Schlagworte:
Betriebsratswahl, Anfechtung, Nichtigkeit, Unwirksamkeit, Betriebsbegriff, Ortsnähe, Beurteilungsspielraum
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 24.10.2024 – 5 TaBV 6/24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 54974

Tenor

1. Die Betriebsratswahl des unternehmenseinheitlichen Betriebsrates vom 19.07.2023 wird für unwirksam erklärt.
2. Der Antrag zu 1. wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten um die Anfechtung einer Betriebsratswahl.
2
Die Beteiligte zu 42) betreibt in Deutschland 531 Kfz-Meisterwerkstätten (Filialen) mit integriertem Autofahrer-Fachmarkt. Sie beschäftigt dabei deutschlandweit mehr als 8.000 Mitarbeiter.
3
Der Beteiligte zu 41) ist der durch die streitgegenständliche Wahl vom 19.07.2023 gewählte unternehmenseinheitliche Betriebsrat mit 35 Mitgliedern, dessen Sitz am Unternehmenssitz der Beteiligten zu 42) in CA-Stadt angesiedelt ist.
4
Die Antragsteller und Beteiligten zu 1) bis zu 40) sind wahlberechtigte Arbeitnehmer der Beteiligten zu 42) aus unterschiedlichen Filialen.
5
Bei der Beteiligten zu 42) wurde bereits am 01.03.2022 ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat gewählt. Vor dieser Wahl schloss die Beteiligte zu 42) mit ihrem damaligen Gesamtbetriebsrat zwei Gesamtbetriebsvereinbarungen über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach § 3 II, I Nr. 1 a BetrVG vom 25.01./05.02.2021 (GBV I) und vom 23.02.2022 (GBV II). Diese Wahl mit 71 freigestellten Betriebsräten wurde erst- und zweitinstanzlich für unwirksam erklärt (ArbG: 3 BV 4/22 und LAG: 1 TaBV 22/22). Über die zugelassene und eingelegte Rechtsbeschwerde hat das BAG in der Sache nicht mehr entschieden, nachdem der erstmalig gewählte unternehmenseinheitliche Betriebsrat während des laufenden Verfahrens zurückgetreten war (7 ABR 2/23).
6
Die hier gegenständliche Wahl des Beteiligten zu 41) erfolgte daraufhin auf Grundlage einer abermals abgeänderten Betriebsvereinbarung über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach § 3 II, I Nr. 1 a BetrVG vom 22.02.2023 (BV III, Bl. 157 ff. d.A.).
7
Vor der ersten Wahl des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats am 01.03.2022 waren 227 der 531 Filialen durch einen Betriebsrat vertreten. Zudem gab es einen Gesamtbetriebsrat mit 51 Mitgliedern, von denen 21 Mitglieder zu 100% und weitere 30 Mitglieder zu 50% freigestellt waren.
8
Vor der erstmaligen Wahl hatten einzelne örtliche Betriebsräte nach Kenntniserlangung von der GBV I Statusverfahren gem. § 18 II BetrVG eingeleitet mit dem Ziel der Feststellung, dass die jeweiligen örtlichen Filialen weiterhin als betriebsratsfähige Organisationseinheiten anzusehen sind. Erstinstanzlich wurde hierzu erkannt, dass am Standort BAStadt auch nach Abschluss der GBV I weiterhin eine betriebsratsfähige Einheit besteht, da die GBV nicht den Anforderungen des § 3 I BetrVG entspricht (3 BV 9/21). Die Beschwerde dagegen wurde vom Landesarbeitsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 02.09.2022 zurückgewiesen (8 TaBV 15/22). Auf die zugelassene Rechtsbeschwerde hin hat das BAG mit Beschluss vom 25.10.2023 die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben bzw. abgeändert und den Antrag des BA-Stadter Betriebsrats als unzulässig abgewiesen (7 ABR 25/22).
9
Vor der Durchführung der gegenständlichen Wahl hatte der BA-Stadter Betriebsrat beim Arbeitsgericht Weiden im Rahmen eines Eilverfahrens durch Beschluss vom 12.07.2023 eine Wahlabbruchsverfügung erwirkt (2 BVGa 1/23). Diese Entscheidung wurde durch Beschluss des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 17.07.2023 abgeändert und der Antrag abgewiesen (1 TaBV 2/23).
10
Daraufhin wurde am 19.07.2023 die gegenständliche Wahl des unternehmenseinheitlichen Betriebsrates auf Grundlage der BV III durchgeführt. Mit Schreiben des Wahlvorstands vom 21.07.2023 wurde das Wahlergebnis bekanntgegeben (vgl. Bl. 167 d.A.).
11
Dagegen wenden sich vorliegend die anfechtenden Arbeitnehmer. Mit ihrer Antragsschrift vom 03.08.2023, die am selben Tag bei Gericht eingereicht und den Beteiligten zu 41) und zu 42) jeweils am 08.08.2023 zugestellt wurde, machen sie die Nichtigkeit und hilfsweise die Unwirksamkeit der Betriebsratswahl geltend. Ungeachtet der das Vorhaben eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats ablehnenden Gerichtsentscheidungen sei erneut so gewählt worden, was eine Hinwegsetzung über die Gerichtsentscheidungen und eine offensichtliche Verkennung des Betriebsbegriffs darstelle. Daraus folge die Nichtigkeit und jedenfalls die Anfechtbarkeit. Auch die BV III sei unwirksam. Die gesetzlichen Voraussetzungen gem. § 3 I Nr. 1 a BetrVG seien weiterhin nicht erfüllt. Die Konstruktion sei nicht geeignet, die Bildung von Betriebsräten unter Wahrung des Grundsatzes der Ortsnähe zu erleichtern. Auch diene die Bildung des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats weiterhin nicht der sachgerechten Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen. Durch die Korrektur der Mitgliederzahl des Gremiums von ursprünglich 71 auf nunmehr nur noch 35 Mitglieder seien die rechtlichen Mängel der vorherigen GBVs sogar noch vertieft worden. Habe eine sachgerechte, weil ortsnahe Mitarbeitervertretung schon durch 71 BR-Mitglieder nicht gewährleistet werden können, so könne dies mit nur noch 35 Mitgliedern auf 531 Filialen mit über 8.000 Arbeitnehmern weiterhin nicht möglich sei. Als weniger einschneidendes Mittel käme hier bei Wahrung einer möglichst ortsnahen Mitarbeitervertretung die Zusammenfassung von Betrieben gem. § 3 I Nr. 1 b BetrVG in Betracht. Dies sei mit Blick auf die bisherigen Vertriebsbezirke und Betriebsratsfilialen problemlos möglich, würde „weiße Lücken“ schließen und die Zahl der Betriebsratsmitglieder erhöhen. Durch die vollständige Freistellung sämtlicher Betriebsratsmitglieder und Kommunikationsbeauftragten sei eine Entfremdung der Vertreter vom Betrieb zu befürchten. Danach sei auch bei dieser Wahl der Betriebsbegriff verkannt worden, was nicht mehr zu berichtigen sei und einen so schwerwiegenden Verstoß darstelle, dass die Wahl insgesamt nichtig und jedenfalls anfechtbar sei. Wegen weiterer Einzelheiten zum umfangreichen Vorbringen der Beteiligten zu 1) – 40) wird vollumfänglich und bezüglich aller Details auf die hierzu eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
12
Die Beteiligten zu 1) – 40) beantragen,
1. Es wird festgestellt, dass die Betriebsratswahl des unternehmenseinheitlichen Betriebsrates vom 19.07.2023 nichtig ist.
Hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 1):
2. Die Betriebsratswahl des unternehmenseinheitlichen Betriebsrates vom 19.07.2023 wird für unwirksam erklärt.
13
Die Beteiligten zu 41) und zu 42) beantragen hingegen,
die Anträge zurückzuweisen.
14
Der Beteiligte zu 41) trägt im Wesentlichen vor, dass keine Nichtigkeit oder Anfechtbarkeit der Wahl gegeben sei, da die genannte BV vom 22.02.2023 von § 3 BetrVG gedeckt sei. Im Verhältnis zur Situation bei der letzten Wahl liege mit der die Gremiumgröße modifizierenden neuen BV eine Änderung des Sachverhalts vor. Eine ortsnähere Alternative (ohne Eingriff in die Gestaltungshoheit der Gesamt- und Betriebsparteien) sei nicht „ins Auge springend“ ersichtlich. Es lägen hier besondere Einzelfallumstände vor, die dazu führten, dass eine Zusammenfassung von Betrieben auf einer Ebene unterhalb der Unternehmensorganisation nicht als deutlich günstigere, weil ortsnähere Alternative gegeben sei, sondern die unternehmensweite Bildung des Vertretungsorgans ausnahmsweise als vertretbar und nicht offensichtlich sachwidrige Lösung des Strukturproblems erscheine. Eine Regional- oder Bezirksstruktur könne nur dann evident die beschäftigungsnähere und somit das Prinzip der Ortsnähe schonendere Alternative sein, wenn die Entscheidungsstrukturen zumindest in Teilen korrespondieren würden mit einer solchen Struktur. Das sei hier nicht der Fall. Es liege eine Betriebsorganisation mit zahlreichen sehr kleinen Einheiten vor. Selbst in der Spitze habe es nur ca. 350 Filial-Gremien gegeben. Die Tendenz sei über die Jahre hinweg deutlich rückläufig. Dies trotz großer Anstrengungen seitens des Gesamtbetriebsrats zur Initiierung von Betriebsratsgründungen. Es gebe erhebliche und größer werdende „weiße Flecken“ auf der Betriebsverfassungslandkarte bei der Beteiligten zu 42. Die größtenteils einköpfigen Betriebsratsgremien schlössen praktisch keine mit ihnen selbst verhandelte Betriebsvereinbarungen mit der Arbeitgeberin ab, sondern würden im Wesentlichen Gesamtbetriebsvereinbarungen anwenden bzw. übernehmen (vgl. Bl. 303 ff. d.A.). De facto agiere der GBR seit Jahren wie ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat. Es bestehe eine starke Tendenz dahingehend, sich darauf zu verlassen, dass die Arbeitgeberin die auf GBR-Ebene ausgehandelten Kompromisse und Vereinbarungen auch in den betriebsratslosen Filialen zur Anwendung bringe. Darum und auch wegen der zunehmenden Zentralisierung auf Arbeitgeberseite hätten die Gesamtbetriebsparteien auf Grundlage des Ihnen zustehenden Einschätzungsspielraums eine Entscheidung zu Gunsten des unternehmenseinheitlichen Betriebsrates getroffen. Für eine Zusammenfassung von Betrieben nach § 3 I Nr. 1 b BetrVG habe sich im GBR keine Mehrheit gefunden. Es sei zu befürchten gewesen, dass sich in einer Reihe von Bezirken entsprechend der existierenden Verkaufsbezirke keine ausreichende Zahl von Kandidaten für die Betriebsratswahl gefunden hätte. Jedenfalls hätten die Gesamtbetriebsparteien die Einschätzung getroffen, dass bei Bildung von 20 betrieblichen Einheiten für die Wahl von Regionalbetriebsräten sich die „weißen Flecken“ nicht würden verringern lassen. Auch die starke Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen hinsichtlich sozialer Angelegenheiten nach § 87 f. BetrVG, aber auch wesentlicher Bereiche der personellen Einzelmaßnahmen sprächen für einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat. Wegen weiterer Einzelheiten zum umfangreichen Vorbringen des Beteiligten zu 41) wird vollumfänglich und bezüglich aller Details auf die hierzu eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
15
Auch die Beteiligte zu 42) hält die angefochtene Wahl für wirksam. Die gegenständliche BV vom 22.02.2023 sei wirksam. Die Voraussetzungen des § 3 I Nr. 1 a, II BetrVG lägen vor. Eine Missachtung einer im Statusverfahren ergangenen nicht rechtskräftigen Entscheidung läge nicht vor, da sich durch die neue BV die maßgeblichen tatsächlichen Umstände geändert haben. Die frühere dreistufige Hierarchiestruktur sei im Herbst 2019 geändert worden. Die Unternehmensleitung liege bei der Zentrale in CA-Stadt, wo auch die Entscheidungskompetenzen in beteiligungspflichtigen Angelegenheiten zentral angesiedelt seien. Vor der ersten Wahl sei in 304 Filialen kein Betriebsrat bestanden. Die Betriebsratsfilialentwicklung sei rückläufig, alleine seit Juni 2021 hätte sich die Anzahl der Filialen mit Betriebsrat um 8 reduziert. 4.564 Mittarbeiter gehörten betriebsratslosen Filialen an. Ganze Teile Deutschlands seien weitestgehend nicht durch Betriebsräte „abgedeckt“ gewesen. Diese Situation, dass immer weniger Mitarbeiter von einem Betriebsrat vertreten wurden, habe auch ein erhebliches demokratisches Legitimationsdefizit des ehemaligen Gesamtbetriebsrats mit sich gebracht. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des LAG Nürnberg vom 2.9.22 und vom 29.11.22 sei die neue BV zur Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats vom 22.2.2013 abgeschlossen worden. Dieser diene der sachgerechten Wahrnehmung der Interessen aller Arbeitnehmer. Alle 35 Betriebsratsmitglieder seien freigestellt, ihnen würden auf Beschlussfassung bis zu 35 Arbeitnehmer als Kommunikationsbeauftragte zur Unterstützung und Gewährleistung der Ortsnähe zur Verfügung gestellt. Allen Betriebsräten und Kommunikationsbeauftragten würde ein Smartphone und ein Laptop mit mobilem Internetzugang zur Verfügung gestellt. Die BR-Mitglieder seien weit überwiegend nicht am Unternehmenssitz in CA-Stadt, sondern als Reisebetriebsräte in die Filialen unterwegs. Dies stelle zusammen mit der immer wichtiger werdenden Kommunikation über die IT-Ausstattung eine wirksame Kommunikation sicher. Das – im Verhältnis zur Entscheidungsnähe – gleichgewichtige Kriterium der Ortsnähe werde so gewährleistet.
16
Ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat sei die „sachgerechtere Lösung“. Ohne diesen bestünde bei rückläufiger Tendenz erneut die Gefahr, dass mindestens in den verbleibenden 304 Filialen kein Betriebsrat gewählt werde. Hinzu komme, dass bislang 193 der 227 Betriebsratsgremien nur 1-köpfig und damit äußerst instabil (Weggang/Krankheit) gewesen seien. Der Sinn der BetrVG-Reform 2001, den Beteiligten vor Ort „weitreichende und flexible Gestaltungsmöglichkeiten“ einzuräumen, könne nicht erreicht werden bei einem starren Festhalten am Prinzip der Ortsnähe. Die Einräumung eines uneingeschränkten Vorzugs diesbezüglich wäre mit Blick auf § 3 III BetrVG gar widersinnig (vgl. Bl. 243 d.A.). Entscheidend sei, dass die wesentlichen Entscheidungen eben nicht mehr vor Ort getroffen werden würden. Der Kontakt zwischen den Arbeitnehmern und der Betriebsvertretung sei auch nicht unangemessen erschwert. Zu berücksichtigen sei bei alldem schließlich der den Betriebsparteien hinsichtlich des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für die Schaffung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats eingeräumte Beurteilungs- und Ermessensspielraum. Wegen weiterer Einzelheiten zum umfangreichen Vorbringen der Beteiligten zu 42) wird vollumfänglich und bezüglich aller Details auf die hierzu eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
17
Im Übrigen wird noch auf den sonstigen Akteninhalt verwiesen. Eine Beweisaufnahme hat nicht stattgefunden.
II.
18
Die Anträge sind teilweise erfolgreich. Die gegenständliche Betriebsratswahl ist wegen Verkennung des Betriebsbegriffs unwirksam, aber nicht nichtig.
19
Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist eröffnet, §§ 2a I Nr. 1 ArbGG, 19 BetrVG. Das Arbeitsgericht Weiden ist örtlich zuständig, § 82 I 1 ArbGG.
20
Die Anträge sind in der gestellten Form – auch was das Hilfsverhältnis anbelangt – zulässig (vgl. Hamacher, Antragslexikon ArbR, 3. Aufl., Wahlen zum Betriebsrat Rn. 17 ff.).
21
Die das Verfahren mit ihrer Antragstellung einleitenden Beteiligten zu 1) – 40) sind ebenso wie der gewählte Betriebsrat als Anfechtungsgegner notwendige Beteiligte des vorliegenden Beschlussverfahrens, an dem auch die Arbeitgeberin als in ihrer betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung stets Betroffene zu beteiligen war.
22
Nach § 19 I, II 1 BetrVG können mindestens drei Wahlberechtigte die Betriebsratswahl beim Arbeitsgericht anfechten, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen worden ist und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte. Die Anfechtung ist nach § 19 II 2 BetrVG nur binnen einer Frist von zwei Wochen ab Bekanntgabe des Wahlergebnisses zulässig.
23
Die formellen Voraussetzungen für eine Anfechtung der Betriebsratswahl sind erfüllt.
24
Die Anfechtung erfolgte fristgerecht iSd. § 19 II 2 BetrVG. Hierfür genügt es, wenn der mit einer Begründung versehene Anfechtungsantrag bis zum Ablauf des letzten Tages der Zweiwochenfrist ab Bekanntgabe des Wahlergebnisses beim Arbeitsgericht eingegangen ist. Das ist hier der Fall, denn die begründete Anfechtungsschrift ging bei Gericht am 03.08.2023 ein und damit fristgerecht innerhalb der gem. §§ 187 I, 188 II 1. Alt. BGB bis 04.08.2023 laufenden Zweiwochenfrist ab Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 21.07.2023.
25
Die Wahl wurde auch von deutlich mehr als drei Wahlberechtigten angefochten.
26
Im Rahmen der Antragsschrift werden durch den Verweis auf die vorangegangenen Verfahren und die Ausführungen zur Unwirksamkeit der BV vom 22.02.2023 auch betriebsverfassungsrechtlich erhebliche Gründe vorgetragen, die möglicherweise zum Erfolg der gestellten Anträge führen.
27
Auch die materiellen Voraussetzungen einer Wahlanfechtung liegen vor. Die angefochtene Wahl ist zwar nicht nichtig. Sie ist aber anfechtbar, da der Betriebsbegriff verkannt wurde. Die Betriebsvereinbarung über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrates vom 22.02.2023 ist unwirksam. Es hätte damit kein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat gewählt werden dürfen. Die Durchführung der Wahl auf der Grundlage der unwirksamen GBV stellt einen das Wahlergebnis beeinflussenden Verstoß iSd. § 19 I BetrVG dar.
28
Zwar ist die angefochtene Betriebsratswahl nicht nichtig.
29
Eine Betriebsratswahl ist nur nichtig bei groben und offensichtlichen Verstößen gegen wesentliche Grundsätze des gesetzlichen Wahlrechts, die so schwerwiegend sind, dass auch der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr besteht. Wegen der weitreichenden Folgen einer von Anfang an unwirksamen Betriebsratswahl kann deren jederzeit feststellbare Nichtigkeit nur bei besonders gravierenden Wahlverstößen angenommen werden. Voraussetzung ist, dass der Mangel offenkundig und deshalb ein Vertrauensschutz in die Gültigkeit der Wahl zu versagen ist. Die Betriebsratswahl muss „den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen“ (vgl. BAG vom 21.09.2011, 7 ABR 54/10).
30
Dies ist bei einer Betriebsratswahl, die unter Verkennung des Betriebsbegriffs durchgeführt worden ist, grundsätzlich nicht der Fall. Sie hat in der Regel nur die Anfechtbarkeit der Wahl zur Folge. Dies gilt auch dann, wenn es um eine Verkennung der „richtigen“ Rechtsgrundlage für die Bestimmung des Betriebsbegriffs geht, vorliegend also um die Frage, ob bei der Beteiligten zu 42) weiterhin jeweils in den bisherigen Organisationseinheiten nach §§ 1 und 4 BetrVG oder eben der unternehmenseinheitliche Betriebsrat auf Grundlage der BV zu wählen ist (vgl. BAG vom 13.03.2013; 7 ABR 70/11; GK-BetrVG/ Franzen, 11. Aufl., § 3 BetrVG Rn. 76). Dies ergibt sich daraus, dass die Beurteilung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer von der gesetzlichen Betriebsverfassung abweichenden Kollektivvereinbarung gem. § 3 I BetrVG regelmäßig mit schwierigen Fragestellungen verbunden ist. Daher dürfen die Betriebspartner im Grundsatz einmal von der Rechtswirksamkeit einer GBV gem. §§ 3 I Nr. 1, II BetrVG ausgehen (vgl. BAG vom 13.03.2013 für einen Zuordnungstarifvertrag gem. § 3 I BetrVG).
31
Hiernach ist die Betriebsratswahl nicht nichtig. Zwar wurde hier bei der Wahldurchführung der Betriebsbegriff verkannt, da die der vorliegenden Wahl zu Grunde liegende BV unwirksam ist und dennoch auf deren Grundlage der Beteiligte zu 41) gewählt wurde (siehe hierzu noch unten). Dieser Fehler ist jedoch nicht so schwerwiegend, als dass der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl nicht mehr bestünde. Die Angelegenheit ist in sachlicher wie rechtlicher Hinsicht besonders komplex. Das LAG hat in den beiden Vorentscheidungen jeweils die Rechtsbeschwerde zugelassen, dies wegen grundsätzlicher Bedeutung. An dieser Bewertung hat sich nichts geändert. Von einer klaren Sach- und Rechtslage, gegen die bei der Wahl eindeutig verstoßen worden ist, kann hier nicht ausgegangen werden. Damit ist die Wahl nicht nichtig.
32
Die vorliegende Betriebsratswahl ist aber anfechtbar. Die Wahl erfolgte unter Verkennung der maßgeblichen betriebsorganisatorischen Einheit.
33
Nach § 19 I BetrVG kann die Wahl eines Betriebsrats angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen wurde und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, durch den Verstoß konnte das Wahlergebnis nicht verändert oder beeinflusst werden. Ein solcher Verstoß liegt u. a. vor, wenn bei der Wahl der betriebsverfassungsrechtliche Betriebsbegriff verkannt wurde. Gleiches gilt, wenn eine Betriebsratswahl unter Anwendung eines unwirksamen Kollektivvertrages nach § 3 I BetrVG durchgeführt wurde (vgl. BAG vom 21.09.2011, 7 ABR 54/10; GK-BetrVG/Franzen, 12. Aufl., § 3 BetrVG Rn. 76).
34
Danach ist die vorliegende Wahl anfechtbar. Die Betriebsvereinbarung vom 22.02.2023 (BV III) ist unwirksam, was auch auf die auf dieser Grundlage durchgeführte Wahl durchschlägt.
35
Die BV vom 22.02.2023 ist unwirksam. Die BV legt von der gesetzlichen Betriebsverfassung abweichende Strukturen fest, ohne dass die hierfür vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen.
36
Die Wahl von Betriebsräten erfolgt nach § 1 BetrVG grundsätzlich vor Ort in den Betrieben. Hiervon abweichend ist in der BV geregelt, dass nur ein unternehmenseinheitlicher Betriebsrat für das gesamte Bundesgebiet gebildet werden soll (§ 2 I BV).
37
Die abweichenden Regelungen sind unwirksam. Die GBV entspricht nicht den gesetzlichen Anforderungen des § 3 I BetrVG.
38
Die Möglichkeit einer vom Gesetz abweichenden Ausgestaltung der Repräsentationsstrukturen der Arbeitnehmer in der Betriebsverfassung ist den Betriebsparteien nur in dem durch § 3 I BetrVG bestimmten Umfang eröffnet (vgl. BAG vom 13.3.2013, 7 ABR 70/11).
39
Nach § 3 I Nr. 1, II BetrVG kann durch Betriebsvereinbarung für Unternehmen mit mehreren Betrieben die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats (lit. a) oder die Zusammenfassung von Betrieben (lit. b) bestimmt werden, wenn dies die Bildung von Betriebsräten erleichtert oder einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer dient. Erforderlich ist nach dem Zweck dieser Regelung, dass die Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer durch die vom gesetzlichen Vertretungsmodell vorgenommenen Abweichungen verbessert wird (vgl. BAG a.a.O.; BT-Drs. 14/5741, S. 33; GKBetrVG, 12. Aufl., § 3 Rn. 7). Ob das der Fall ist, haben zunächst die Betriebsparteien zu beurteilen. Diesen steht insofern ein zu beachtender Beurteilungsspielraum zu. Ob die Betriebsparteien hierbei die gesetzlichen Vorgaben eingehalten oder überschritten haben, unterliegt allerdings im Streitfall der gerichtlichen Überprüfung (vgl. BAG vom 24.04.2013, 7 ABR 71/11).
40
Nach § 3 I Nr. 1 a, 1. Alt. iVm. II BetrVG ist die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats durch Betriebsvereinbarung möglich, wenn dies die Bildung von Betriebsräten erleichtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn anderenfalls die Gefahr besteht, dass in einzelnen Betrieben oder Betriebsteilen gar kein Betriebsrat gewählt wird (vgl. Fitting, 30. Aufl. 2020, BetrVG § 3 Rn. 29 m.w.N.). Die Bestimmung dient dabei dem Zweck, „weiße Flecken” auf der Betriebsverfassungslandkarte zu vermeiden. Allerdings ist die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach der maßgebenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dann vom Zweck der Regelung nicht mehr gedeckt, wenn die Erleichterung der Bildung von Betriebsräten ohne Weiteres bereits durch eine Zusammenfassung von Betrieben nach § 3 I 1 Nr. 1 b iVm. II BetrVG erreicht werden kann und sich demgegenüber die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats als ersichtlich weniger sachgerechte Lösung darstellt. Bei der Wahl zwischen den sich aus § 3 Abs. 1 Nr. 1 a b BetrVG ergebenden Möglichkeiten haben die Betriebsparteien den Grundsatz der Ortsnähe zu berücksichtigen (vgl. BAG vom 24.04.2013, a.a.O.).
41
Der Grundsatz der Ortsnähe spielt aber auch bei der zweiten Alternative des § 3 I Nr. 1 a BetrVG eine wesentliche Rolle. Danach ist die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats möglich, wenn sie einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer dient. Bei der Prüfung, ob die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach dieser Alternative sachdienlich ist, ist nach der auch insoweit maßgebenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts von besonderer Bedeutung, wo die mitbestimmungspflichtigen Entscheidungen im Betrieb getroffen werden. Insoweit sind für die sachgerechte Bildung von Arbeitnehmervertretungen die organisatorischen Vorgaben des Arbeitgebers maßgeblich. An ihnen darf sich bei der Schaffung einer betriebsverfassungsrechtlichen Organisationseinheit die maßgebliche Regelung grundsätzlich orientieren (vgl. BAG vom 24.4.2013, a.a.O.).
42
Bei der Beurteilung der Sachdienlichkeit eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats sind allerdings noch weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen und zwar insbesondere wiederum der Grundsatz der Ortsnähe (vgl. BAG a.a.O.). Dieser Aspekt ist auch hier von besonderer Bedeutung, da der Gesetzgeber die Probleme bei der Kontaktaufnahme und -pflege bei größeren räumlichen Entfernungen zwischen den Arbeitnehmern und der sie repräsentierenden Betriebsvertretung gesehen hat und daher die wechselseitige Erreichbarkeit bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Betriebsverfassung als ganz wesentlichen Punkt berücksichtigt hat (vgl. BAG a.a.O.).
43
Der in dieser Rechtsprechung besonders zur Geltung gebrachte Aspekt der Ortsnähe gilt auch weiterhin. Zwar führt die zunehmende Digitalisierung im Grundsatz zu einer Vereinfachung der Kommunikation und zu einer abnehmenden Bedeutung des Aufenthaltsortes der jeweiligen Gesprächspartner. Allerdings spielt der persönliche Kontakt im Vertrauensverhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitnehmern nach wie vor eine besondere Rolle. Dieser kann bei Berücksichtigung des weiterhin auf einen möglichst engen persönlichen Kontakt zwischen den Arbeitnehmern eines Betriebes und den Mitgliedern des Betriebsrates ausgerichteten Zweck des Betriebsverfassungsgesetzes nur sehr begrenzt durch den Einsatz von Technik ersetzt werden (vgl. Fündling/Sorber, NZA 2017, 552, 554).
44
Nach diesen Grundsätzen kann nicht festgestellt werden, dass die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrates die Bildung von Betriebsräten erleichtert oder einer sachgerechten Wahrnehmung der Interessen der Arbeitnehmer dienlich ist.
45
Zwar besteht mit Blick auf die bisherige Betriebsratsstruktur bei der Beteiligten zu 42) mit (Stand März 2022) nur 227 Filialen mit Betriebsrat und 304 Filialen ohne örtlichen Betriebsrat deutlich die Gefahr, dass in einer Vielzahl von Betrieben wiederum kein Betriebsrat gewählt werden wird. Der Aspekt, dass durch den vereinbarten unternehmenseinheitlichen Betriebsrat eine Vielzahl von Filialen in die Mitbestimmung geführt wird, spricht für die Wirksamkeit der gegenständlichen BV. Dieser Gesichtspunkt ist auch gewichtig und spricht für die Möglichkeit der Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats wegen der Erleichterung der Bildung von Betriebsräten.
46
Auch das Kriterium der Entscheidungsnähe spricht im Grundsatz für die Möglichkeit der Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats im vorliegenden Fall. Denn auch das Erstgericht geht mit den Beteiligten zu 41) und 42) davon aus, dass inzwischen die wesentlichen beteiligungspflichtigen Angelegenheiten in CA-Stadt in der Zentrale entschieden werden, wenngleich die arbeitgeberseitige Bezirksstruktur mit 20 Vertriebsregionen weiterhin besteht (vgl. Anlage AG 3 des Beteiligten zu 41), Bl. 225 f.) und z.B. die Dienstpläne weiterhin vor Ort in den Filialen erstellt und vom jeweiligen Vertriebsleiter überprüft werden (vgl. Vortrag des Beteiligten zu 41 gem. Anlage AG 4, Bl. 332 f. d.A.). Allerdings ist hier – den Aspekt der Entscheidungsnähe abschwächend – auch zu berücksichtigen, dass sich die Entscheidungsstrukturen bei der Arbeitgeberseite häufiger ändern (so auch explizit die Arbeitgeberseite selbst, vgl. S. 13 im Schriftsatz vom 18.09.2023, Bl. 241 d.A.). So lag z.B. noch zu Beginn des Jahres 2022 unter Geltung der GBV I die Personalverantwortung für den jeweiligen Bezirk und damit ein erhebliches Maß an Entscheidungsbefugnis im mitbestimmungsrelevanten Bereich (personelle Maßnahmen) bei den jeweiligen Vertriebsleitern der 20 Bezirke, was deutlich für eine entsprechende Zusammenfassung von Betrieben gem. § 3 I Nr. 1 b BetrVG und damit gegen die Zulässigkeit des Modells eines Einheitsbetriebsrates sprach (vgl. LAG Nürnberg vom 26.01.2023, 1 TaBV 22/22 und ArbG Weiden vom 03.02.2022, 3 BV 9/21). Dieser Umstand häufigerer Änderungen bei den Entscheidungsstrukturen spricht gegen eine besondere Gewichtung des damit mit einer gewissen Unsicherheit behafteten Entscheidungsnähekriteriums und somit tendenziell auch gegen die Zulässigkeit der größtmöglichen Abweichung vom gesetzlichen Regelfall des örtlichen Betriebsrats in Form des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats.
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Eine Abwägung dieser – durchaus gewichtigen – Aspekte mit dem Aspekt der fehlenden Ortsnähe führt vorliegend auch bei Beachtung des Beurteilungsspielraums der Kollektivvertragsparteien zur Unwirksamkeit der BV.
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Dies deshalb, da das Kriterium der Ortsnähe auch im Rahmen von § 3 BetrVG der Disposition der Betriebsparteien entzogen ist, d.h., dass sie dieses Ziel nicht gänzlich außer Acht lassen dürfen (vgl. Richardi BetrVG/Richardi/Maschmann, 17. Aufl. 2022, BetrVG § 3 Rn. 24). Das ist vorliegend in Form der gegenständlichen BV mit einer Reduzierung der vorgesehenen Betriebsratsmitglieder um mehr als die Hälfte im Verhältnis zu den „Vorgänger-GBVs“ auf nurmehr 35 mit einer Zuständigkeit für 531 Filialen mit über 8000 Mitarbeiter in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß aber der Fall. Das Ziel einer möglichst ortsnahen Ausgestaltung der Mitbestimmung, das fest im BetrVG verankert ist (z.B. in §§ 1, 4 BetrVG) und damit jedenfalls den gleichen Stellenwert wie die vorgenannten Aspekte hat (so im Ergebnis auch die Beteiligte zu 42) auf S. 12 f. im Schriftsatz vom 18.09.2023: gleicher Stellenwert), wird unter den gegebenen Bedingungen der BV ersichtlich und evident verfehlt.
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Bereits unter der Geltung der bisherigen GBVs (GBV I und II) zur Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats mit jeweils 71 freigestellten Betriebsräten und 10 Auskunftspersonen gem. § 80 II 4 BetrVG (GBV I) bzw. 10 Kommunikationsbeauftragten gem. § 40 II BetrVG (GBV II) gab es Defizite bei der Ortsnähe. Der persönliche Kontakt ist aufgrund der räumlich sehr weiten Entfernung der meisten Filialen vom beschlossenen Sitz des Einheitsbetriebsrats in CA-Stadt erheblich erschwert. Die Betreuungsdichte von rechnerisch 7-8 Filialen pro Betriebsratsmitglied (531 : 71) – bei einem Konzept mit „Reise- und Ausschussbetriebsräten“ entsprechend noch geringer – erschwert eine sachgerechte Betriebsratsarbeit, die doch auch in der Klärung von zeitaufwändigen kritischen und/oder vertraulichen und/oder fortgesetzten Sachverhalten vor Ort besteht, unverhältnismäßig (vgl. ArbG Weiden vom 3.2.22, 3 BV 9/21). Dies einerseits im Hinblick auf den persönlichen Kontakt zu den Arbeitnehmern und andererseits auch in Bezug auf die interne Kommunikation, Funktionsfähigkeit und damit Schlagkraft. Technische Ausstattung hilft hier nur bedingt, ersetzt gerade im Betätigungsfeld eines Betriebsratsgremiums den persönlichen Austausch nicht und darf ohnehin nicht zur Kompensation von Defiziten im Bereich der Ortsnähe herangezogen werden (vgl. Willemsen/ Hohenstatt/ Schweibert/ Seibt, Umstrukturierung und Übertragung von Unternehmen, 6. Auflage 2021, D Rn. 154; vgl. auch Fitting, 31. Aufl. 2022, BetrVG § 3 Rn. 31).
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Diese Defizite haben sich mit der „neuen“ BV vom 22.02.2023 noch in einem Ausmaß weiter verschlimmert, dass das Ziel einer ortsnahen Arbeitnehmervertretung nicht mehr erreicht wird. Der neue Betriebsrat ist nicht möglichst ortsnah i.S.d BAG-Rechtsprechung errichtet, sondern im Gegenteil besonders ortsfern. Durch die Reduzierung der Anzahl der Betriebsratsmitglieder um mehr als die Hälfte auf nurmehr 35 in der neuen BV verschlechtert sich die Betreuungsdichte noch einmal so erheblich (531 : 35 = über 15 rechnerisch zu betreuende Filialen pro Betriebsratsmittglied, bei Reisebetriebsräten entsprechend mehr), dass das Ziel der Ortsnähe verfehlt wird. Wie bei diesen Bedingungen eine ortsnahe Betreuung mit persönlichem Kontakt für alle Filialen organisiert und dauerhaft gewährleistet werden können soll, erschließt sich nicht. Daran ändert auch die Stellung der Kommunikationsbeauftragten gem. der BV nichts. Denn diese Personen sind gerade keine Betriebsräte, sondern reine Hilfskräfte des Gremiums, deren Tätigkeit auf die Hilfstätigkeit der Informationsvermittlung zwischen Betriebsrat und Belegschaft beschränkt bleiben muss (vgl. BAG vom 29.04.2015, 7 ABR 102/12). Sie dürfen daher keine Betriebsratsaufgaben wahrnehmen und können somit die eklatant niedrige Betreuungsdichte auch nicht verbessern.
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Zu beachten ist hier zudem, dass vorliegend für eine effektive Betriebsratsarbeit über alle deutschlandweit verteilten Filialen auch nach der Vorstellung der Betriebsparteien der ursprünglichen GBVs mit 71 weit mehr – mehr als doppelt so viele – Betriebsratsmitglieder notwendig waren, als gesetzlich vorgegeben (35). Bei einer Halbierung dieser Anzahl fällt das Konstrukt in sich zusammen. Dann ist offenbar auch nach Auffassung der Beteiligten zu 42.) und des Gesamtbetriebsrats die Lösung des unternehmenseinheitlichen Betriebsrats in dieser Form nicht durchführbar (vgl. LAG Nürnberg vom 26.01.2023, 1 TaBV 22/22). Daher kann in der neuen Organisationsstruktur auch keine Verbesserung bei der Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen erkannt werden.
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Die neue BV verfehlt daher das Ziel einer möglichst arbeitnehmernahen Gestaltung der Mitbestimmungsordnung und erweist sich somit auch bei Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums und der für die vorgesehene neue Betriebsratsstruktur sprechenden Aspekte als unwirksam.
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Mit einer Regionalstruktur entsprechend den bei der Beteiligten zu 42) weiterhin bestehenden Bezirken stünde eine wesentlich ortsnähere Organisationsform zur Verfügung. Es könnten damit weiße Flecken auf der Betriebsverfassungslandkarte geschlossen werden. Es könnten damit entsprechend der Vorgabe des § 9 BetrVG rechnerisch auch wesentlich mehr Betriebsräte für jeweils mindestens 9-köpfige und damit handlungsfähige Gremien (vgl. die Aufstellung in der Anlage zur Anlage AG 3 des Beteiligten zu 41): ggf. ca. 20 X 911 Betriebsratsmitglieder) gewählt werden.
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Diese Option gem. § 3 I Nr. 1 b, II BetrVG erscheint nach alldem ersichtlich sachgerechter, da nur damit dem Grundsatz der Ortsnähe Rechnung getragen werden kann. Die Befürchtung, dass sich für entsprechende Wahlen in den Bezirken keine ausreichende Anzahl von Kandidaten finden lässt, ist aus Sicht der Kammer spekulativ und kann den vorliegenden Rechtsstreit nicht beeinflussen. Der Rückschluss, dass man für größere Einheiten ebenfalls keine Kandidaten finden würde, erscheint als unzulässig, da die Mitarbeit in einem größeren Gremium häufig organisierter ausfällt und erheblich andere Anforderungen als die Tätigkeit als einköpfiger Betriebsrat in direktem Kontakt zum Filialleiter oder gar der Zentrale in CA-Stadt stellt (vgl. LAG Nürnberg vom 26.01.20023, 1 TaBV 22/22).
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Da nach alldem die gesetzlichen Voraussetzungen des § 3 I Nr. 1 a iVm. II BetrVG nicht vorliegen, ist die gegenständliche BV über die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats unwirksam mit der Konsequenz, dass die auf dieser Grundlage durchgeführte Wahl unwirksam ist.
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Einer Kostenentscheidung bedurfte es wegen § 2 II GKG nicht.