Inhalt

OLG München, Beschluss v. 28.02.2023 – 38 U 5632/22
Titel:

Prämienanpassung in der Krankenversicherung – Streitwertberechnung bei Geltendmachung von Rückzahlungsansprüchen im Rahmen einer Stufenklage und Grundsätze der Rechtsmittelzulassung

Normenketten:
ZPO § 3, § 4 Abs. 1 Hs. 2, § 9, § 254, § 511 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4
GKG § 43 Abs. 1, § 44, § 48 Abs. 1, § 52 Abs. 2
GNotKG § 36 Abs. 3
RVG § 23 Abs. 3
Leitsätze:
1. Macht der Versicherungsnehmer einer privaten Krankenversicherung – im Rahmen einer Stufenklage – einen Anspruch auf Rückzahlung vorgeblich überzahlter Prämienanteile nach Beitragsanpassungen in der Vergangenheit geltend, erhöhen hierneben verlangte Nutzungen und Zinsen den Streitwert als Nebenforderungen gem. § 43 Abs. 1 GKG, § 4 Abs. 1 Hs. 2 ZPO nicht (Abgrenzung zu BGH BeckRS 2018, 35334; BeckRS 2016, 110511). (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die Bemessung des Streitwerts des unbezifferten Leistungsantrags können bei einer derartigen Klage Durchschnittswerte aus anderen, individuell ausgewählten Verfahren mangels statistischer Relevanz nicht zur Wertermittlung vergleichsweise herangezogen werden; der Wert ist vielmehr mangels konkreter Anhaltspunkte nach § 3 ZPO, § 48 Abs. 1 GKG frei zu schätzen. Eine Anwendung des Auffangwertes gem. § 52 Abs. 2 GKG, § 36 Abs. 3 GNotKG kommt dabei nicht in Betracht. (Rn. 4 und 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 EUR festgesetzt hat und deswegen von einem entsprechenden Wert der Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, hält aber das Berufungsgericht diesen Wert nicht für erreicht, so muss das Berufungsgericht, das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des erstinstanzlichen Gerichts gebunden ist, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind (Anschluss an BGH BeckRS 2007, 19597 Rn. 12 mwN). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ist das erstinstanzliche Gericht dagegen von einer Unanfechtbarkeit seiner Entscheidung ausgegangen und hat keine ausdrückliche Zulassungsentscheidung getroffen, dann ist das Schweigen als Nichtzulassung zu werten und eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht mehr möglich (BGH BeckRS 2011, 4460 Rn. 12 ff.). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankenversicherung, Prämienanpassung, Beitragsanpassung, Stufenklage, Auskunftsklage, Streitwert, Nutzungen, Auffangstreitwert
Vorinstanz:
LG München I vom -- – 12 O 14556/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5459

Tenor

1. Der Streitwert für die Berufung der Klagepartei wird vorläufig auf 3.240,00 EUR festgesetzt.
2. Der Streitwert für die Berufung der beklagten Partei wird vorläufig auf 300,00 EUR festgesetzt.
3. Die Verfahrensakte ist an das Landgericht München I zurückzusenden zur dienstlichen Stellungnahme zur Frage, ob es von der Anfechtbarkeit oder Unanfechtbarkeit des Ausspruchs über die Verurteilung der Beklagten zur Zurverfügungstellung von Nachtragsversicherungsscheinen ausgegangen ist.
4. Die Parteien werden nach Eingang der Stellungnahme gem. Ziffer 3 Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Gründe

1
Vorliegend werden von der Klagepartei die erstinstanzlich geltenden gemachten Ansprüche – teilweise als Stufenklage – weiterverfolgt. Neben dem Auskunftsanspruch soll festgestellt werden, dass Erhöhungen von Beiträgen in der privaten Krankenversicherung unwirksam waren und in der Zukunft niedrigere Beiträge zu zahlen sind. Differenzbeträge sollen nebst Nutzungen und Zinsen zurückgezahlt werden. Konkrete Daten, wie Anzahl, Datum und Höhe der Beitragserhöhungen werden nicht mitgeteilt. Sie sind gerade Gegenstand des Auskunftsbegehrens. Die beklagte Partei, die erstinstanzlich verurteilt worden war, Nachtragsversicherungsscheine zur Verfügung zu stellen, im Übrigen wurde die Klage abgewiesen, begehrt mit ihrer Berufung und ihrer – hilfsweise eingelegten – Anschlussberufung, die vollständige Abweisung der Klage.
Anträge der Klagepartei (zusammengefasst):
1) Auskunft: betreffend die letzten 10 Jahre
2) Feststellung: Unwirksamkeit der Erhöhungen der letzten 10 Jahre und insoweit auch Reduzierung des Beitrags in der Zukunft
3) Zahlung: unbeziffert, betreffend die letzten 10 Jahre
4) Nutzungen und Zinsen
II.
1. Berufung der Klagepartei
2
Im Rahmen der Stufenklage ist für die Vergangenheit nur der höhere der verbundenen Ansprüche maßgeblich (§ 44 GKG). Dies ist vorliegend der noch nicht bezifferte Zahlungsantrag 3. In Bezug auf die Zukunft ist der höhere Anspruch ein Teil des Feststellungsantrags 2.
3
Nutzungen und Zinsen (Antrag 4) erhöhen, soweit sie wie hier als Nebenforderungen geltend gemacht werden, den Streitwert nicht (§ 4 Abs. 1 2. HS ZPO; § 43 Abs. 1 GKG). Die von der Klagepartei, die eine Berücksichtigung und damit eine höhere Festsetzung begehrt, insoweit zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 19.12.2018 – IV ZB 10/18 und Urteil vom 19.12.2016 – IX ZR 60/16) betreffen andere, hier nicht einschlägige Fallgestaltungen. In der ersten Entscheidung ging es um die Rückzahlung von Prämien einer Lebensversicherung nebst Nutzungen, die deswegen ausnahmsweise als streitwerterhöhend angesehen worden sind, weil die Abhängigkeit von Fall zu Fall insbesondere danach variieren könne, mit welchem der Ansprüche der an den Versicherungsnehmer typischerweise ausgezahlte Rückkaufswert in welcher Höhe zu verrechnen seien. Eine solche Fallgestaltung ist vorliegend nicht gegeben. Es geht um Prämien für eine private Krankenversicherung. In der zweiten Entscheidung machte der Kläger einen Schaden geltend, der sich aus dem Verlust der in einer notariellen Urkunde verbrieften Forderung nebst Zinsen zusammensetze. In diesem Sonderfall hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass Hauptforderung und die Zinsforderung selbständig ohne Abhängigkeitsverhältnis nebeneinander stünden, weil ein Schaden eingeklagt werde, der entgangene Zinsen mitumfasse. Vorliegend beruft sich die Klagepartei aber explizit auf einen bereicherungsrechtlichen Anspruch. Denn hierdurch möchte sie vermeiden, dass das schadensersatzrechtliche Institut der Vorteilsanrechnung zum Einsatz kommt (vgl. Klageschrift S. 52 oben).
Zum Antrag 3 (Vergangenheit):
4
Die klägerischen Angaben zum Wert der Anträge beruhen auf Durchschnittswerten, wie sie sich aus einer Gesamtschau derjenigen Verfahren darstellen, die dem anwaltlichen Vertreter der Klagepartei nach seiner Darstellung bekannt sind. Wie das Landgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, können diese aber nicht herangezogen werden. Denn derartige Durchschnittswerte aus anderen, individuell ausgewählten Verfahren können mangels statistischer Relevanz nicht zur Wertermittlung für einzelne andere Vertragsverhältnisse vergleichsweise herangezogen werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass eine derartige Wertermittlung schon nicht erforderlich ist, weil die Parteien, insbesondere die Klagepartei und/oder ihr anwaltlicher Vertreter, unschwer auf das konkrete streitige Versicherungsverhältnis bezogene und anhand der Kontoauszüge leicht zu ermittelnde Anhaltspunkte für eine Wertschätzung, wie etwa den aufaddierten und mit der Zahl der Monate multiplizierten Differenzbetrag zwischen dem ersten und dem letzten im Betrachtungszeitraum gezahlten Beitrag, mitteilen könnten, soweit diese Anhaltspunkte zu einem niedrigeren oder höheren Schätzbetrag führen und soweit einer der Parteien oder ihre anwaltlichen Vertreter ein berechtigtes Interesse daran haben sollte, dass der Streitwert entsprechend niedriger oder höher festgesetzt wird mit der Folge, dass die Gerichtsgebühren sowie die Rechtsanwaltskosten, die davon abhängig berechnet werden, niedriger oder höher ausfallen.
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Mangels derartiger konkreter Anhaltspunkte ist im Rahmen der Ermessensausübung nach § 3 ZPO, § 48 Abs. 1 GKG eine freie Schätzung der Summe der zu erstattenden Monatsbeiträge vorzunehmen. Insoweit kommt, anders als das Landgericht meint, eine Anwendung des Auffangwertes gem. § 52 Abs. 2 GKG in Höhe von 5.000,00 € nicht in Betracht, weil diese Norm nur auf Verfahren vor den Verwaltungsgerichten Anwendung findet. Der ebenfalls einen Auffangwert in Höhe von 5.000,00 € vorsehende § 36 Abs. 3 GNotKG findet nur bei Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und bei Notaren Anwendung. Bei bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ist hingegen der Wert gem. § 3 ZPO nach freiem Ermessen festzusetzen.
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Der Senat schätzt in Ausübung des ihm vom Gesetzgeber eingeräumten Ermessens den Wert des Rückzahlungsanspruchs hiernach auf einen nominellen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 30.03.2021 – VIII ZR 345/19 Rn. 5) Betrag in Höhe von EUR 20,00 pro Monat und versicherter Person. Dies entspricht auch in etwa der neueren Handhabung des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München, der pro Beitragsanpassung einen Wert von EUR 300,00 oder weniger zugrunde legt. Der Wert des Antrags 3 beträgt daher 10 Jahre x 12 Monate x EUR 20,00 = EUR 2.400,00.
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Der Schätzung des Senats liegt zugrunde, dass nach einer Erhebung des Wissenschaftlichen Instituts der privaten Krankenversicherer (WIP) die Beiträge der Privatversicherten zwischen 2013 und 2023 um durchschnittlich 2,8 Prozent pro Jahr gestiegen sind. Je nach Leistungsniveau liegen die monatlichen Kosten für eine private Krankenversicherung zwischen EUR 350,00 und EUR 900,00 (vgl. https://www.krankenkassen.de/private-krankenversicherung/private-krankenversicherung-kosten /). Ausgehend von einem gemittelten Monatsbeitrag in Höhe von EUR 625,00 sind die Monatsbeiträge in den letzten 10 Jahren um durchschnittlich EUR 19,88, gerundet EUR 20,00, gestiegen.
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§ 23 Abs. 3 RVG gebietet insoweit keine höhere Festsetzung.
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Der Bundesgerichtshof hat zwar in einer Entscheidung vom 17.11.2015 betreffend eine nicht-vermögensrechtliche Streitigkeit ausgeführt, dass mangels genügender Anhaltspunkte für ein höheres oder geringeres Interesse in Anlehnung an § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG für die Berechnung des Berufungsstreitwerts von dem sich aus dieser Vorschrift ergebenden Wert auszugehen sei, den der Gesetzgeber für eine durchschnittliche nichtvermögensrechtliche Streitigkeit in der bis zum 31. Juli 2013 geltenden Gesetzesfassung mit 4.000 €, ab diesem Zeitpunkt mit 5.000 € vorgegeben habe (BGH, Beschluss vom 17.11.2015 – II ZB 8/14, BeckRS 2015, 20307 Rn. 13 mwN).
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Vorliegend handelt es sich aber um eine vermögensrechtliche Streitigkeit. Ferner kann der Wert der Anträge, wie gezeigt, in Ermangelung konkreter Angaben durch die Parteien auch anhand von statistisch relevanten Durchschnittswerten geschätzt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nach dem Gesetzeswortlaut je nach Lage des Falles auch ein niedrigerer Wert als 5.000,00 € festgesetzt werden kann. Eine Festsetzung auf einen niedrigeren Schätzbetrag ist vorliegend, wie ausgeführt, möglich und auch geboten. Die Wertgrenze des § 23 Abs. 3 RVG übersteigt den oben errechneten Wert um mehr als 50 Prozent.
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Da die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO deutlich überschritten wird, gebietet auch das Recht der Klagepartei, dass der Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz nicht unzumutbar, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl. BGH, Beschluss vom 17.11.2015 – II ZB 8/14, BeckRS 2015, 20307 Rn. 7 mwN), keine andere Festsetzung. Dem Kläger stehen auch mit dem nunmehr festgesetzten Streitwert mindestens zwei Instanzen zulassungsfrei zur Verfügung.
Zum Antrag 2 (Zukunft)
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Entsprechend der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20.1.2021, Az. IV ZR 294/19, erhöht sich vorliegend der Streitwert aufgrund desjenigen Teils des Antrags 2, der auf die Zukunft gerichtet ist. Ein Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der erfolgten Prämienerhöhung und der Nichtverpflichtung zur Tragung der Erhöhungsbeträge erhöht nämlich den Streitwert nur dann nicht, wenn er sich auf denselben Zeitraum bezieht wie der den Zahlungsantrag betreffende Zeitraum (hier die letzten 10 Jahre). Von dem für die Feststellung der künftigen Nichtleistungspflicht grundsätzlich gemäß § 9 ZPO analog zugrunde zu legenden Zeitraum von 3,5 Jahren ab Anhängigkeit des Rechtsstreits wirken daher alle Jahre streitwerterhöhend. Der Wert erhöht sich damit um 3,5 Jahre x 12 Monate x 20,00 EUR = 840,00 EUR.
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Der Streitwert für die Berufung der Klagepartei beträgt daher insgesamt 3.240,00 EUR.
2. Berufung der beklagten Partei
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Der Senat schätzt den Streitwert der Berufung der beklagten Partei auf 300,00 EUR.
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Die Berufung betrifft den vom Landgericht zugesprochen Anspruch auf Zurverfügungstellung von Nachtragsversicherungsscheinen. Die insoweit vom LGU vorgesehene Sicherheitsleistung in Höhe von 300,00 €, die die beklagte Partei bislang in der Höhe nicht angegriffen hat, indiziert, dass die Größenordnung richtig ist.
III.
Hinweise
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Die Beschwer der Beklagten dürfte daher 600,00 € nicht übersteigen. Die Berufungsbegründung der Beklagten enthält keinerlei Ausführungen zur Beschwer. Die Berufung der Beklagten dürfte daher ohne Zulassung unzulässig sein.
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Über die Frage der Zulassung hat das Landgericht allerdings nicht explizit entschieden. Auch ein Teilstreitwert wurde nicht mitgeteilt. Der Streitwert wurde pauschal auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
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Die Verfahrensakte ist daher an das Landgericht zurückzusenden zur Beantwortung der in Ziffer 3 des Beschlusstenors aufgeworfenen Frage.
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Denn hat das erstinstanzliche Gericht keine Veranlassung gesehen, die Berufung nach § 511 Abs. 4 ZPO zuzulassen, weil es den Streitwert auf über 600 Euro festgesetzt hat und deswegen von einem entsprechenden Wert der Beschwer der unterlegenen Partei ausgegangen ist, hält aber das BerGer. diesen Wert nicht für erreicht, so muss das BerGer., das insoweit nicht an die Streitwertfestsetzung des ErstGer. gebunden ist, die Entscheidung darüber nachholen, ob die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung nach § 511 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 ZPO erfüllt sind. Denn die unterschiedliche Bewertung darf nicht zu Lasten der Partei gehen (vgl. BGH NJW 2008, 218 Rn. 12 mwN). Ging das ErstGer. allerdings von einer Unanfechtbarkeit seiner Entscheidung aus und trifft keine ausdrückliche Zulassungsentscheidung, dann ist das Schweigen als Nichtzulassung zu werten und eine Entscheidung des BerGer. nicht mehr möglich (BGH, U. v. 10.02.2011, III ZR 338/09, Rn. 12 ff., [17-19.], juris).