Titel:
Eigene Beweiswürdigung, Eröffnungsbeschluss, Urteilsgründe, Kognitionspflicht, Landgerichte, Aufhebung, Einlassung des Angeklagten, Revision der Staatsanwaltschaft, Sachlichrechtliche, Volksverhetzung, Hauptverhandlung, Angriffsobjekt, Neue Verhandlung, Andere Strafkammer, Gegenstand der Urteilsfindung, Generalstaatsanwaltschaft, Einheitlicher Lebensvorgang, Freigesprochener Angeklagter, Ergänzende Feststellungen, Revisionsverfahren
Normenkette:
StGB a.F. § 130 Abs. 1 Nr. 1.a
Leitsatz:
Zur Kognitionspflicht des Tatrichters bei der Volksverhetzung.
Schlagworte:
Freispruch, Volksverhetzung, Beweiswürdigung, Kognitionspflicht, Angriffsobjekt, Anklage, Revision
Vorinstanz:
LG Augsburg, Urteil vom 24.04.2023 – 6 Ns 103 Js 139226/20
Fundstelle:
BeckRS 2023, 53707
Tenor
I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 24. April 2023 mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
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Das Amtsgericht Augsburg hat den Angeklagten wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.
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Auf die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Augsburg das Urteil des Amtsgerichts vom 22. März 2022 aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.
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Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt und rügt ausschließlich die Verletzung sachlichen Rechts gerügt.
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Zur Begründung wird angeführt, das Urteil des Landgerichts leide an sachlich-rechtlichen Fehlern. Die Sachverhaltsdarstellung und die Beweiswürdigung seien lückenhaft. Die Beweiswürdigung sei zudem widersprüchlich, als die Kammer nicht deutlich macht, ob der Freispruch am nicht feststellbaren Vorsatz des Angeklagten hinsichtlich des Aufstachelns zum Hass gegen Muslime oder gegen Anhänger des politischen Islams beruht.
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Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt,
das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 24. April 2023 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts Augsburg zurückzuverweisen.
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Die von der Generalstaatsanwaltschaft München vertretene zulässige Revision der Staatsanwaltschaft hat mit der erhobenen Sachrüge Erfolg. Der Freispruch hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat den Sachverhalt nicht unter allen tatsächlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht verstoßen. Obwohl Anlass dazu bestand, würdigt das Landgericht nicht, ob der Angeklagte eine mögliche Volksverhetzung zulasten der Anhänger eines näher beschriebenen „politischen Islams“ beging.
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1) Gegenstand der Urteilsfindung ist nach § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Dabei handelt es sich um den geschichtlichen Vorgang, auf den die Anklage und der Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Der Tatrichter ist verpflichtet, diesen Vorgang unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten zu untersuchen und ohne Bindung an die der Anklage und die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung (§ 264 Abs. 2 StPO) abzuurteilen, sogenannte Kognitionspflicht (BGH Urt. v. 27.April 2017 – 4 StR 592/16 – juris Rn. 6; KK/Tiemann, StPO, 9. Aufl. 2023, § 264 Rn. 27f). Die Kognitionspflicht gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (BGH, Urteil vom 21. April 2022 – 3 StR 360/21 –, juris Rn. 9).
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2) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht:
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a) Die Strafkammer hat lediglich geprüft, ob sich der Angeklagte dadurch der Volksverhetzung schuldig gemacht hat, dass er zum Hass gegen die Bevölkerungsgruppe der „Muslime“ aufstachelte. Dies hat die Kammer verneint. Das Landgericht führt als Ergebnis seiner Beweiswürdigung zum Vorsatz des Angeklagten zusammenfassend aus, auf Grundlage der getroffenen Tatsachenfeststellungen habe das Gericht jedenfalls nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen „Überzeugung“ feststellen können, der Angeklagte habe in subjektiver Hinsicht gehandelt, um zum Hass gegen die Bevölkerungsgruppe der „Muslime“ aufzustacheln (UA S. 12, ähnlich UA S. 5).
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b) Das Landgericht hat aber nicht, obwohl sich dies nach den Gesamtumständen aufgedrängt hätte, geprüft, dass das angeklagte und festgestellte Verhalten des Angeklagten es nahelegen, dass sich der Angeklagte der Volksverhetzung mit dem Angriffsobjekt der Anhänger eines näher beschriebenen „politischen Islams“ strafbar gemacht haben könnte.
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i) Die zugelassene und in den Urteilsgründen im Wortlaut mitgeteilte Anklage beschreibt eine Tat i.S.d. § 264 StPO, bei der der Angeklagte sowohl zum Hass gegen die „Muslime“ an sich als auch gegen die „Anhänger des politischen Islam“ aufgestachelt haben könnte.
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ii) Die Ausführungen des Landgerichts zum Vorsatz gehen allerdings ausschließlich darauf ein, mit welchen beweiswürdigenden Überlegungen das Landgericht zu dem Schluss kam, dass es sich vom Vorliegen des Vorsatzes beim Angeklagten zulasten des Angriffsobjekts der „Muslime“ nicht überzeugen konnte (UA S. 5; UA S. 12). Zu der Frage, ob der Angeklagte in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, vorsätzlich zum Hass hinsichtlich des Angriffsobjekts der Anhänger eines näher beschriebenen „politischen Islams“ aufgestachelt hat, stellt das Landgericht keine beweiswürdigenden Überlegungen an. Eine derartige Prüfung drängte sich im vorliegenden Fall jedoch auf, weil eine Strafbarkeit des Angeklagten mit dieser Angriffsrichtung nach den Gesamtumständen und den im Übrigen getroffenen Feststellungen in Betracht kam.
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(1) Die Prüfung der Strafbarkeit des Angeklagten in der genannten Weise liegt schon deshalb nahe, weil in den Urteilsgründen mitgeteilt wird, die zugelassene Anklage gehe von einer Aufstachelung „zum Hass gegen die Bevölkerungsgruppe der Anhänger des politischen Islams“ aus (UA. S. 3, anders aber UA S. 5). Weiter teilt das Urteil mit, dass die hier in Rede stehenden Äußerungen des Angeklagten auf einer Kundgebung zum Thema „Aufklärung über den politischen Islam“ gefallen sind (UA S. 4). In der Darstellung der Einlassung des Angeklagten wird u.a. berichtet, der Angeklagte sei der Meinung, eine Debatte über den sogenannten “politischen Islam“ müsse erlaubt sein. Das Ziel seiner Rede sei gewesen, über die Gefahren des „politischen Islams“ zu informieren (UA S. 6). Die Urteilsgründe führen unter der Überschrift „Beweiswürdigung“ sogar aus, dass es die Kammer als nicht erwiesen erachte, der Angeklagte habe die ihm zur Last gelegte Äußerung mit dem Ziel getätigt, zum Hass gegen die Anhänger des „politischen Islams“ aufzustacheln (UA S. 7). Die sich an diesen Obersatz anschließenden Erwägungen der Kammer gehen allerdings darauf gerade nicht ein, sondern legen zusammengefasst dar, der Angeklagte differenziere in seiner Rede zwischen Moslems auf der einen Seite und den „Anhängern des radikalen politischen Islams“ auf der anderen Seite mit Ausnahme der in der Anklageschrift aufgeführten Passage.
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(2) Nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 a. F. StGB macht sich u.a. strafbar, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen Teile der Bevölkerung zum Hass aufstachelt.
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(a) Teil der Bevölkerung ist eine von der übrigen Bevölkerung auf Grund gemeinsamer äußerer oder innerer Merkmale politischer, nationaler, ethnischer, rassischer, religiöser, weltanschaulicher, sozialer, wirtschaftlicher, beruflicher oder sonstiger Art unterscheidbare Gruppe von Personen zu verstehen, die zahlenmäßig von einiger Erheblichkeit und somit individuell nicht mehr unterscheidbar sind. Nicht ausreichend ist es, wenn bei der Verwendung von Sammelbegriffen der Personenkreis so groß und unüberschaubar ist und mehrere, sich teilweise deutlich unterscheidende Einstellungen oder politische Richtungen umfasst, dass eine Abgrenzung von der Gesamtbevölkerung aufgrund bestimmter Merkmale nicht möglich ist (BGH, Beschluss vom 14. April 2015 – 3 StR 602/14 –, juris Rn. 10).
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(b) Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte vom „politischen Islam“ gesprochen, der „herrschen muss“ und dessen fester Bestandteil das „Herrschaftsprinzip“ sei. Auf dem Weg zur „Machtübernahme“ werde es u.a. „Einschüchterung“, „Terror“ und „Drohungen“ geben (UA S. 4). Bei Personen, die einerseits Muslime sind und andererseits die Herrschaft des Islam mit den genannten gewaltsamen Mitteln zu erreichen suchen, treffen bestimmte und bestimmbare objektive und subjektive Merkmale zusammen, so dass eine Abgrenzung dieser Personenmehrheit von der Gesamtbevölkerung möglich ist und daher, gegebenenfalls nach ergänzenden Feststellungen durch den Tatrichter, von einem Teil der Bevölkerung gesprochen werden könnte (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall: OLG Stuttgart, Urteil vom 19. Mai 2011 – 1 Ss 175/11 – BeckRS 2011, 18458 dort II.2.c).
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(3) Auf die vor diesem Gesamthintergrund naheliegende Frage, ob sich der Angeklagte der Volksverhetzung mit dem Angriffsobjekt der Anhänger eines näher beschriebenen „politischen Islams“ strafbar gemacht hat, geht das Landgericht beweiswürdigend nicht ein und verletzt damit seine Kognitionspflicht. Im Urteil wird zwar in der Gesamtwürdigung (UA S. 11) und in der rechtlichen Würdigung (UA S. 12) festgestellt, der Angeklagte habe seine Zuhörer mehrfach aufgefordert, dadurch gegen den politischen Islam vorzugehen, dass sie von ihren Bundestagsabgeordneten politische Arbeit zu diesem Themengebiet einfordern. Einen wie auch immer gearteten Schluss aus dieser Feststellung, beispielsweise in die Richtung, dass keine Aufstachelung zum Hass oder dass jedenfalls kein diesbezüglicher Vorsatz vorgelegen habe, hat das Landgericht nicht gezogen. Der Senat kann dies nicht nachholen, da ihm eine eigene Beweiswürdigung untersagt ist.
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3) Auf diesem Fehler beruht das Urteil auch, weil der Senat nicht ausschließen kann, dass das Landgericht ohne den dargelegten Rechtsfehler zu einer Verurteilung gekommen wäre.
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4) Die Aufhebung des Freispruchs bedingt hier, weil der freigesprochene Angeklagte die ihn belastenden Feststellungen nicht mit einem Rechtsmittel angreifen konnte, auch die Aufhebung der getroffenen Feststellungen. Die Sache bedarf insoweit umfassend neuer Verhandlung und Entscheidung (BGH, Urteil vom 17. Februar 2021 – 5 StR 426/20 –, juris Rn.12).
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5) Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgende Umstände hin:
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Die erhobene Anklage der Staatsanwaltschaft geht zwar davon aus, dass der Angeklagte gewusst habe, dass seine Worte geeignet gewesen seien, zum Hass gegen die Bevölkerungsgruppe der Muslime aufzustacheln und (gemeint ist: oder) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen diese Bevölkerungsgruppe aufzurufen (Bl. 163 d. A.). Bereits der Eröffnungsbeschluss weist aber darauf hin, dass sich die Äußerungen des Angeklagten auch gegen eine Untergruppierung der Muslime, nämlich die Bevölkerungsgruppe der „politischen Muslime“ gerichtet haben kann (Bl. 220 d.A.). Die amtsgerichtliche Verurteilung erfolgte dann auch wegen Aufstachelung zum Hass gegen die Bevölkerungsgruppe der „Anhänger des politischen Islams“ (UA AG S. 4 unten). Von der angeklagten Tat im Sinne des § 264 StPO sind jedenfalls die Muslime im Allgemeinen und die Anhänger des politischen Islams umfasst. In diesem Zusammenhang wird sich, obwohl im Eröffnungsbeschluss bereits ausgeführt, ein klarstellender Hinweis nach § 265 StPO bereits vor der neuen Hauptverhandlung empfehlen.