Titel:
Erstattungsfähigkeit der Kosten für eine IVF/ICSI-Behandlung - Subfertilität infolge (zunächst) gewollter Sterilisation
Normenketten:
VVG § 192 Abs. 1
MB/KK 2009 § 1 Abs. 2
Leitsätze:
1. Als Krankheit iSv § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 kann grundsätzlich nur eine schicksalhafte Unfruchtbarkeit, mithin eine organisch bedingte Sterilität, angesehen werden, nicht aber ein bewusst und gewollt in der Absicht künftiger Lebensgestaltung herbeigeführter Zustand der Unfruchtbarkeit zu dem Zweck, eine Schwangerschaft zu vermeiden (Anschluss an OLG Nürnberg BeckRS 2005, 5517; OLG Köln BeckRS 1993, 383 Rn. 6 ff.; s. auch BGH BeckRS 2016, 7880 Rn. 19 mwN). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Demgemäß besteht auch keine Leistungspflicht des Krankheitskostenversicherers für eine IVF/ICSI-Behandlung, wenn die bestehende Subfertilität ursächlich auf eine - zwischenzeitlich rückgängig gemachte - gewollte Vasektomie zurückzuführen ist. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankenversicherung, Krankheitskostenversicherung, Krankheitsbegriff, Sterilisation, Fertilitätseinschränkung, Vasektomie
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 06.11.2024 – 25 U 3800/23 e
OLG München, Beschluss vom 26.11.2024 – 25 U 3800/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 53349
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 26.000,00 € festgesetzt.
Tatbestand
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Der Kläger macht Ansprüche aus einem privaten Krankenversicherungsvertrag wegen Fertilitätsproblemen gegen die Beklagte geltend.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten im Tarif … mit einem Selbstvorbehalt von kalenderjährlich 650,- € krankenversichert. Gegenstand ist unter anderem die 100 %-ige Kostenerstattung für die notwendigen ambulanten und stationären Behandlungskosten. Dem Versicherungsverhältnis liegen die AVB der Beklagten (Anlage … 1) zugrunde.
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Anfang 2012 ließ der Kläger bei sich eine Sterilisation in Form einer Vasektomie vornehmen. Diese wurde am 07.01.2020 operativ rückgängig gemacht. Vor der Refertilisation bestand eine Azoospermie. Bei einer Untersuchung im Januar 2021 wurden durch eine Ejakulatsanalyse vom 15.01.2021 Spermien im Ejakulat des Klägers festgestellt. Auch in einem weiteren Spermiogramm vom 25.10.2021 waren Spermien nachweisbar, welche allerdings in ihren Eigenschaften, insbesondere in Bezug auf Mobilität und Morphologie, beeinträchtigt sind.
4
Der Kläger erbat Anfang 2021 die Kostenzusage für eine anstehende Kinderwunschbehandlung mittels IVF/ICSI. Die Beklagte forderte zunächst diverse Auskünfte mit Schreiben vom 10.02.2021 (Anlage K6) an und lehnte sodann mit Schreiben vom 17.03.2021 (Anlage K7) ihre Eintrittspflicht ab. Nach weiterem Schriftverkehr machte der Kläger mit vorgerichtlichem Schreiben vom 12.10.2021 (Anlage K 13) der Kläger die Ansprüche unter Fristsetzung gegenüber der Beklagten geltend. Mit Schreiben vom 13.10.2021 (Anlage K 14) hielt die Beklagte an ihrer Ablehnung fest.
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Der Kläger wurde am ...1972 geboren, seine Frau am ...1987. Der erste Zyklus einer IVF/ICSI-Behandlung wurde im November/Dezember 2021 durchgeführt, wodurch es zu einer Schwangerschaft und zur Geburt eines Kindes kam.
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Der Kläger trägt vor, er sei in Bezug auf die Fortpflanzungsfähigkeit krank. Insbesondere liege bei ihm eine schwere Subfertilität in Form eines OAT-Syndroms vor. Im unbehandelten Zustand beeinträchtige diese Krankheit seine Fortpflanzungsfähigkeit. Insbesondere sei deshalb eine kombinierte IVF/ICSI-Behandlung im streitgegenständlichen Umfang klägerseits indiziert und medizinisch notwendig. Die aktuelle Subfertilität des Klägers sei folglich keine Folge der früheren Sterilisierung, da die Refertilisation erfolgreich gewesen sei. Der Kläger ist der Ansicht, die Tarifbestimmungen in B 7 und B 8 seien wegen Altersdiskriminierung gemäß § 19 l AGG unwirksam. Bei einer IVF-Behandlung im stimulierten Zyklus verlange der BGH im Rahmen der Notwendigkeit der Behandlung das Erreichen einer gewissen medizinischen Erfolgsprognose, nämlich 15 % (bezogen auf den Eintritt einer Schwangerschaft pro Behandlungszyklus). Diese werde bei der streitgegenständlichen Behandlung erreicht. Die Beklagte schulde vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 762,49 €.
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Der Kläger erklärte mit Schriftsatz vom 24.07.2023 die Klage bezüglich des Hauptantrags in Bezug auf die Behandlungszyklen 2-5 teilweise für erledigt, da die behandlungsbedingte Schwangerschaft erfolgreich am 13.09.2022 mit der Geburt eines Kindes als erledigendes Ereignis zu Ende gekommen ist. Die Beklagte hat sich der Teilerledigungserklärung angeschlossen.
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Der Kläger beantragt nunmehr:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei vorgerichtliche Anwaltskosten als Nebenforderung in Höhe von 762,49 € zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die beklagte Partei verpflichtet ist, der Klagepartei in tarifgemäßem Umfang ärztliche Heilbehandlungskosten für eine Sterilitätsbehandlung in Form der IVF/ICSI-Behandlung zu erstatten, und zwar für einen Behandlungszyklus, durchgeführt im November/Dezember 2021, und dessen Gesamtkosten (Behandlungsmaßnahmen am Körper des Mannes, am Körper der Frau und extrakorporale Maßnahmen sowie Medikamente).
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Die Beklagte beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
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Die Beklagte bestreitet, dass eine organisch bedingte Sterilität vorliege. Die vom Kläger geltend gemachte Unfruchtbarkeit sei die Folge der im Jahr 2012 durchgeführten Sterilisation. Die Vasovasostomie sei offensichtlich nicht erfolgreich gewesen. Insofern fehle es bereits an einer Krankheit im Sinne des § 1 Absatz 2MB/KK, zu dem Kreise der Leistungsausschluss nach Punkt A 13 der Tarifbedingungen. Der Kläger habe die Sterilisation aus freien Stücken herbeigeführt und damit letztendlich den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt. Hilfsweise bestreitet die Beklagte, dass für die geplanten Maßnahmen eine mindestens 15-prozentige Erfolgswahrscheinlichkeit gegeben sei. Die Beklagte ist ferner der Auffassung, es bestehe jedenfalls kein Anspruch auf Kostenübernahme nach dem 7.02.2022, da der Kläger das 50. Lebensjahr danach überschreite, was den Vertragsbedingungen B 7 der Tarifbedingungen widerspreche.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.06.2022 Bezug genommen.
12
Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 05.02.2022 auf die Einzelrichterin übertragen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens von … Auf das Gutachten vom 12.06.2023 (Blatt 59/67) wird Bezug genommen. Beide Parteien haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt. Mit Beschluss vom 21.07.2023 wurde zum Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, der 18.08.2023 bestimmt.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
I. Es bestand keine Verpflichtung der Beklagten aus der privaten Krankenversicherung, die Behandlungskosten für die erfolgte IVF/ICSI – Behandlung des Klägers zu übernehmen, da kein Versicherungsfall eingetreten ist.
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Aufgrund der freiwilligen Sterilisation des Klägers liegt bereits keine behandlungsbedürftige Krankheit im Sinne des § 1 Abs. 2 MB/KK vor.
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1. Gemäß § 1 Abs. 2 MB/KK ist Versicherungsfall die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen Krankheit und Unfallfolgen. Krankheit im vorgenannten Sinne ist nach herrschendem Verständnis ein unabhängig von den subjektiven Vorstellungen des Versicherungsnehmers objektiv nach ärztlichem Urteil bestehender anomaler, regelwidriger Zustand des Körpers oder Geistes. Eine organisch bedingte Sterilität ist dabei vom Bundesgerichtshof als eine bedingungsgemäße Krankheit und die IVF/ICSI – Behandlung als eine notwendige medizinische Heilbehandlung anerkannt (vgl. BGH, VersR 1987, 278).
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2. Von einer bedingungsgemäßen Krankheit ist vorliegend nicht auszugehen.
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a) Das Gericht folgt insoweit der Ansicht des Oberlandesgerichts Köln, dass als Krankheit grundsätzlich nur schicksalhafte Unfruchtbarkeit, mithin organisch bedingte Sterilität, angesehen werden kann, nicht aber ein bewusst und gewollt in der Absicht künftiger Lebensgestaltung herbeigeführter Zustand der Unfruchtbarkeit zu dem Zweck, eine Schwangerschaft zu vermeiden (OLG Köln, Urt. v. 18.03.1993, Az.: 5 U 151/92, Rn. 6 – zitiert nach juris; OLG Nürnberg, Urt. v. 24.03.2005, Az.: 8 U 3617/04, Rn. 9 m.w.N. – zitiert nach juris; vgl. auch Kalis in MüKo VVG, 2. Aufl. 2017, § 192 Rn. 21). Im vorliegenden Fall hat der Kläger sich freiwillig für eine Sterilisation nach abgeschlossener Familienplanung ohne leibliche Kinder entschieden.
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b) Eine andere Beurteilung ist vorliegend auch insoweit nicht gerechtfertigt, als dass die Sterilisation des Klägers durch die Refertilisierung vollständig rückgängig gemacht worden wäre und damit anderweitige gesundheitliche Beschwerden mit Krankheitswert für den nicht erfüllbaren Kinderwunsch kausal wären.
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Das Gericht ist nach der Einholung des medizinischen Sachverständigengutachtens der … vielmehr davon überzeugt, dass die beim Kläger bestehenden Einschränkungen der Spermienkonzentration auf die freiwillige Sterilisation im Jahr 2012 zurückzuführen ist und diese nicht durch die Refertilisation im Jahr 2020 vollständig rückgängig gemacht werden konnte. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von demjenigen, der dem Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 10.07.2019 zugrunde lag (Anlage K 17).
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Dabei folgt das Gericht den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen und macht sich diese zu eigen.
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c) Die Sachverständige führt in ihrem Gutachten aus, dass aufgrund des normalen FSH-Hormonwertes und der normalen Hodenvolumina beim Kläger von einer normalen Fertilität vor der Sterilisation auszugehen sei. Unterstützt werde diese Annahme von der Histologie, welche eine vollständig ausgereifte Spermatogenese zeigt. Die jetzige Einschränkung der Spermienqualität erkläre sich gut durch die nur einseitig erfolgte Vasovasostomie und sei kein Zeichen einer grundsätzlichen Infertilität. Beim Kläger lege keine grundlegend schwerwiegende Infertilität vor. Die Einschränkungen der Spermienkonzentration im Ejakulat ergäben sich aus der nur einseitig möglichen Refertilisation. Aufgrund der vorliegenden Einschränkungen habe keine spontane Schwangerschaft erreicht werden können, weshalb grundsätzlich eine Indikation zur ICS die bestünde.
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aa) Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten vom 12.06.23 auf die Beweisfrage, ob beim Kläger eine schwerwiegende Subfertilität in Form eines OAT-Syndroms vorliege, welche nicht auf die im Jahre 2012 durchgeführte Sterilisation zurückzuführen sei, insbesondere zusammenfassend ausgeführt:
„Bei … liegt grundlegend keine schwerwiegende Infertilität vor. Die Einschränkungen im Ejakulat ergeben sich aus der nur einseitig möglichen und letztendlich erfolgreichen Refertilisation.“
23
Auf die weitere Beweisfrage, ob zu deren Behandlung eine IVF-/ICSI-Behandlung aufgrund männlicher Ursache indiziert und medizinisch notwendig gewesen sei, führt sie aus:
„Mit den eingeschränkten Ejakulaten konnte keine spontane Schwangerschaft erreicht werden. Die Ejakulatbefunde, aufgrund derer die Indikation zur ICSI gestellt wurde, zeigen zum einen eine deutlich verminderte Konzentration und Motilität (…), zum anderen nur langsam bewegliche Spermien ohne Normalformen (…). Somit ist die Indikation zur ICSI aus andrologischer Sicht korrekt gestellt und medizinisch notwendig aufgrund der Fertilitätseinschränkung, die ihre Ursache in der nur einseitig durchgeführten Vasovasostomie hat.“
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bb) Das Gericht schließt sich den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen an, wonach beim Kläger keine organisch bedingte Sterilität i.S.d. der Tarifbedingungen vorliegt, sondern sich die Subfertilität aus der nur einseitig möglichen Refertilisation ergibt.
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II. Wollte man der Ansicht folgen, dass eine durch Sterilisation herbeigeführte Unfruchtbarkeit eine bedingungsgemäße Krankheit darstelle, mithin die Leistung unabhängig von der Ursache der Subfertilität zu erbringen sei, ist die Beklagte jedenfalls gemäß Punkt A 13 von ihrer Leistungspflicht befreit.
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Danach entfällt bei vorsätzlich herbeigeführter Krankheit eine Leistungspflicht des Versicherers. Dass die im Jahr 2012 erfolgte Sterilisation ein medizinisch notwendiger Eingriff gewesen wäre, wurde vom Kläger jedoch nicht vorgetragen (vgl. auch OLG Nürnberg, Urt. v. 24.03.2005, Az.: 8 U 3617/04 Rn. 13 f. – zitiert nach juris). Vielmehr resultierte die bewusste Entscheidung des Klägers seine Samenleiter durchtrennen zu lassen, um dadurch Zeugungsfähigkeit zu verursachen, aus seiner damaligen Lebensplanung.
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III. Die Nebenforderung teilt das Schicksal der Hauptforderung.
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I. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 91 a Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Soweit der Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt wurde, ist über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden, sodass der Kläger auch insoweit die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Maßgeblich waren die Erfolgsaussichten der Feststellungsklage. Da insoweit die Ausführungen unter Ziffer A. zu übertragen sind, hat der Kläger auch diese Kosten zu tragen, gemäß § 91 a Abs. 1 ZPO. Auf die Frage, inwieweit die AVB eine Altersdiskriminierung darstellen könnten, kommt es danach nicht mehr an.
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III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 3, 4 ZPO.