Titel:
Antrag der Schule auf Zuweisung an eine andere Schule der gleichen Schulart, Vorläufiger teilweise Ausschluss vom Schulbesuch
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
BayEUG Art. 86 Abs. 2 Nr. 8
BayEUG Art. 87 Abs. 1
Schlagworte:
Antrag der Schule auf Zuweisung an eine andere Schule der gleichen Schulart, Vorläufiger teilweise Ausschluss vom Schulbesuch
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5315
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf EUR 5.000,- festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller besucht im Schuljahr 2022/23 die Jahrgangsstufe 6 der staatlichen Grund- und Mittelschule H. (im Folgenden: die Schule).
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Mit Schreiben vom 9. November 2022 teilte die Schule den Eltern des Antragstellers mit, dass der Antragsteller aufgrund des Beschlusses des Disziplinarausschusses in der Sitzung vom 27. Oktober 2022 gemäß Art. 86 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 BayEUG an eine andere Schule der gleichen Schulart versetzt werde. Die Versetzung gelte, sobald ein S.platz gefunden werde. Bis dahin erfülle der Antragsteller die Schulpflicht aus Sicherheitsgründen eingeschränkt täglich von 8 bis 11.15 Uhr. Bei freiwilliger Anmeldung sei auch die Versetzung an eine andere Schulart möglich. Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragsteller nach wiederholtem Fehlverhalten am 17. Oktober 2022 die Lehrkraft Herrn J. mit einem geworfenen Buch attackiert habe.
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Mit Schreiben vom 29. November 2022 ließ der Antragsteller Widerspruch gegen das Schreiben der Schule vom 9. November 2022 bei der Schule einlegen.
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Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tag, beantragt der Bevollmächtigte des Antragstellers beim Verwaltungsgericht München,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid der Schule vom 9. November 2022 anzuordnen.
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Zur Begründung lässt der Antragsteller im Wesentlichen vortragen, der streitgegenständliche Bescheid sei unzureichend begründet und ermessensfehlerhaft. Die Begründung sei formelhaft, eine Gewichtung und Abwägung der maßgeblichen Umstände habe nicht stattgefunden. Aus dem Bescheid gehe nicht hervor, warum nicht mildere Maßnahmen ausreichten. Der Bescheid gehe nicht darauf ein, dass die Reaktion des Antragstellers am 17. Oktober 2022 maßgeblich auf die der Schule bekannte psychische Erkrankung des Antragstellers zurückzuführen sei, und die Reaktion insgesamt hätte verhindert werden können. Nach dem beigefügten, der Schule bekannten kinderpsychiatrischen Gutachten der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Dr. M., vom 2. Dezember 2019 leide der Antragsteller an einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens. In Konfliktsituationen komme es immer wieder zu impulsiven Durchbrüchen und aggressiven Verhaltensweisen, die auch gegen Mitschüler und Lehrer gerichtet seien. In der Schule könnten solche Situationen entschärft werden, wenn der Antragsteller zusammen mit seinem Schulbegleiter die Klasse verlassen könne. Zudem könne ein Schulbegleiter kritische soziale Situationen rechtzeitig erkennen. Der Vorfall am 17. Oktober 2022 habe während eines von der Lehrkraft Herrn J. angeordneten Nachsitzens zur Anfertigung und zum Vorzeigen der Hausaufgaben stattgefunden. Die erzieherische Maßnahme sei Reaktion darauf gewesen, dass der Antragsteller seit mehreren Tagen keine Hausaufgaben gemacht habe. Die Eltern seien weder hierüber noch über das Nachsitzen informiert worden. Der Lehrkraft sei bekannt gewesen, dass die Konzentration des Antragstellers gerade am Nachmittag stark nachlasse und dies oftmals zu Konfliktsituationen führe. Da es dem Antragsteller während des Nachsitzens psychisch immer schlechter gegangen sei, habe er mehrfach, jedoch erfolglos, darum gebeten, das Nachsitzen beenden und heimgehen zu dürfen. Die Lehrkraft habe dem Antragsteller mitgeteilt, er dürfe erst gehen, wenn er die Hausaufgaben vollständig erledigt habe. Dieses massive Bedrängen sei auch für den Schulbegleiter nicht nachvollziehbar gewesen. Auch eine vorläufige Unterbrechung der erzieherischen Maßnahme, wodurch der Antragsteller den Klassenraum verlassen und sich sammeln hätte können, sei nicht gestattet worden. Nach einer weiteren Zuspitzung habe der Antragsteller schließlich ein Buch nach der Lehrkraft geworfen. Eine krankheitsbedingte Überreaktion sei dem Antragsteller nicht vorwerfbar. Der Antragsteller habe sich nach dem Vorfall bei der Lehrkraft entschuldigt. Auf die beigefügte Stellungnahme des Schulbegleiters vom 28. Januar 2023 werde Bezug genommen. Diese Gesichtspunkte würden im Bescheid nicht gewürdigt. Zu berücksichtigen sei weiter, dass der Antragsteller derzeit nur vier Stunden beschult werde und dadurch viel Unterrichtsstoff versäume. Nach der beigefügten fachärztlichen Stellungnahme von Dr. M. vom 26. Januar 2023 solle die Dauer der Beschulung möglichst bald bis 13 Uhr angehoben werden.
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Mit Schriftsatz vom 16. Februar 2023 legt der Antragsgegner die Akten vor und teilt mit, der Vorfall am 17. Oktober 2022 habe sich nicht während eines Nachsitzens, sondern im Nachgang zum regulären Unterricht ereignet. Die Schule habe der Familie des Antragstellers angeboten, eigenständig nach einer Schule zu suchen. In diesem Zusammenhang habe die Mutter des Antragstellers am 1. März 2023 einen Beratungstermin für den Einstieg in eine „flexible Trainingsklasse“ an der Mittelschule in T. Bis zu einem Gespräch über das Ergebnis dieses Termins sehe die Schule von einer Weiterverfolgung des Vollzugs der Ordnungsmaßnahme ab. Weiter wird sinngemäß mitgeteilt, bei dem Schreiben vom 9. November 2022 handele es sich um eine Mitteilung über die Beschlussfassung der Schule zu der Ordnungsmaßnahme nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG. Das Schulamt werde über die von der Schule am 27. Oktober 2022 beschlossene Ordnungsmaßnahme gemäß Art. 88 Abs. 1 Nr. 4 BayEUG entscheiden.
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Mit Schriftsatz vom 1. März 2023 macht der Bevollmächtigte des Antragstellers geltend, der Schriftsatz der Schule vom 16. Februar 2023 werde so aufgefasst, dass die Schule mitteile, dass sie den Antragsteller wieder voll beschulen wolle. Allerdings dürfe der Antragsteller derzeit weiterhin nicht am Nachmittagsunterricht teilnehmen. Der Antragsgegner möge mitteilen, ob die volle Beschulung des Antragstellers auch bis zu einer Entscheidung des Schulamts über die Ordnungsmaßnahme erfolgen solle.
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Mit Schreiben vom 2. März 2023 hat das Gericht den Antragsgegner gebeten mitzuteilen, in welchem Umfang der Antragsteller derzeit den Unterricht besuche, und etwaige Einschränkungen des Schulbesuchs zu erläutern.
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Mit Schriftsatz vom 3. März 2023 trägt der Antragsgegner hierzu vor, der Antragsteller besuche die Schule von 8 bis 13 Uhr. In Abstimmung mit der Mutter des Antragstellers habe dieser im vergangenen Schuljahr teilweise die Parallelklasse, bei der kein Nachmittagsunterricht abgehalten werde, besucht. Aufgrund der sehr schwierigen Klassensituation in der Parallelklasse bestehe in diesem Schuljahr diese Möglichkeit nicht. Die Inhalte des Nachmittagsunterrichts würden dem Antragsteller nach den Grundsätzen des Distanzunterrichts zur Verfügung gestellt. Die Vermeidung von Nachmittagsunterricht liege darin begründet, dass die physischen Attacken des Antragstellers gegen Mitschüler und Lehrkräfte zumeist nach 13 Uhr stattgefunden hätten. Zudem lasse der Antragsteller nach 13 Uhr keine aktive Lern- und Arbeitsbereitschaft erkennen.
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Mit Schriftsatz vom 7. März 2023 weist der Antragsteller darauf hin, dass von einem nur vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch nicht mehr die Rede sein könne, da er seit Mitte November 2022 nicht mehr voll beschult werde; seine schulischen Leistungen seien erheblich abgefallen. Der Antragsgegner sei gehalten, das Verwaltungsverfahren hinsichtlich der Verhängung der Ordnungsmaßnahme beschleunigt zu betreiben, komme dem aber nicht nach. Dass die Schule einen freiwilligen Wechsel des Antragstellers vorziehe, entbinde sie nicht davon, das Verfahren zu betreiben. Nach Aktenlage sei der Antrag auf Zuweisung an eine andere Schule noch immer nicht an das Schulamt weitergeleitet worden, aus der Stellungnahme des Rektors ergebe sich sogar, dass die Schule offenbar noch nicht einmal entschieden habe, wie sie hinsichtlich der Ordnungsmaßnahme weiter verfahren wolle. Vor diesem Hintergrund sei der teilweise Ausschluss vom Schulbesuch unverhältnismäßig, da es sich um eine Dauerregelung handele. Ein Wechsel nach T. komme für den Antragsteller aufgrund des langen Schulwegs nicht in Betracht. Aktuell würden die Eltern eine Schule in G. erwägen. Grundsätzlich wolle der Antragsteller weiter – jedenfalls bis zum Schuljahresende – seine jetzige Schule besuchen. Es sei auch davon auszugehen, dass durch die Versetzung in die Jahrgangsstufe 7 und den damit verbundenen Lehrerwechsel ein Neustart für den Antragsteller möglich sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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1. Der Antrag ist teilweise unzulässig, im Übrigen unbegründet.
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a) Soweit der Antragsteller nach § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Ordnungsmaßnahme der Zuweisung an eine andere Schule der gleichen Schulart beantragt, ist der Antrag unzulässig.
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Der Antrag ist insoweit unstatthaft, da diesbezüglich noch kein Verwaltungsakt vorliegt, der von der anzuordnenden aufschiebenden Wirkung erfasst werden könnte. Der Antragsgegner hat mit Schriftsatz vom 16. Februar 2023 klargestellt, dass das Schreiben vom 9. November 2022 den Antragsteller und seine Eltern lediglich darüber informieren sollte, dass die Schule einen Beschluss zu einer vom zuständigen Schulamt erst noch zu verfügenden Ordnungsmaßnahme nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Juli 2022 (GVBl. S. 308), gefasst hat. Auch aus den weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 16. Februar 2023 ist ersichtlich, dass die Schule davon ausgeht, dass die Zuständigkeit für diese Ordnungsmaßnahme nach Art. 88 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Art. 114 Abs. 1 Nr. 5 a) BayEUG beim staatlichen Schulamt im Landkreis M. liegt und dessen Entscheidung hierzu noch aussteht. Soweit im Schriftsatz vom 16. Februar 2023 weiter ausgeführt wird, bis zu einem Gespräch über das Ergebnis des Beratungstermins am 1. März 2023 werde von einer Weiterverfolgung „des Vollzugs der Ordnungsmaßnahme“ abgesehen, ergibt sich jedenfalls aus dem Zusammenhang, dass damit die Weiterleitung des Antrags der Schule nach Art. 88 Abs. 1 Nr. 4 BayEUG an das zuständige Schulamt gemeint ist.
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Selbst wenn das Schreiben der Schule vom 9. November 2022 als „Scheinverwaltungsakt“ angesehen würde, das den Anschein einer Regelung nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG gesetzt hätte, so dass zur Beseitigung des Rechtsscheins die Anfechtung nach den Regelungen für Verwaltungsakte und auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs zu ermöglichen wäre (Schoch in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: August 2022, § 80 Rn. 455), würde vorliegend jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag fehlen. Denn im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts hat der Antragsgegner durch den Schriftsatz vom 16. Februar 2023 klargestellt, dass die Schule selbst keinen Verwaltungsakt nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG erlassen wollte und dass sie davon ausgeht, dass das Schulamt erst noch über die Ordnungsmaßnahme entscheiden muss. Mangels eines fortbestehenden Rechtsscheins besteht daher auch kein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mehr.
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b) Soweit sich der Antragsteller gegen den nach Art. 88 Abs. 8 i.V.m. Art. 87 Abs. 1 BayEUG sofort vollziehbaren vorläufigen teilweisen Ausschluss vom Schulbesuch wendet, ist der Antrag zulässig. Der Antrag ist auch statthaft im Hinblick darauf, dass die Schule seit dem 27. Februar 2023 den Antragsteller wieder über die mit Schreiben vom 9. November 2022 mitgeteilten Zeiten hinaus zwischen 8 und 13 Uhr beschult und damit dem Widerspruch teilweise abgeholfen hat. Insbesondere war kein erneuter Widerspruch gegen den teilweise abhelfenden Verwaltungsakt erforderlich, da der vorläufige Ausschluss vom Nachmittagsunterricht neben dem Ausgangsbescheid Gegenstand des weiteren Widerspruchsverfahrens geworden ist (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 72 Rn. 6).
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Der Antrag ist jedoch unbegründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts einerseits und das private Aussetzungsinteresse, also das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessensabwägung im vorliegenden Fall zu Lasten des Antragstellers aus.
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Der vorläufige Ausschluss des Antragstellers vom Besuch des Nachmittagsunterrichts ist voraussichtlich nicht rechtswidrig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten.
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aa) Rechtsgrundlage für einen vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch ist die Vorschrift des Art. 87 Abs. 1 BayEUG, wonach eine Schülerin oder ein Schüler auch bei bestehender Schulpflicht vorläufig vom Besuch der Schule bzw. der praktischen Ausbildung ausgeschlossen werden kann, wenn ihr bzw. sein Verhalten das Leben oder in erheblicher Weise die Gesundheit gefährdet von Schülerinnen bzw. Schülern, Lehrkräften, sonstigem an der Schule tätigem Personal oder anderen Personen im Rahmen ihrer schulischen oder praktischen Ausbildung, und die Gefahr nicht anders abwendbar ist. Der vorläufige Ausschluss endet spätestens mit der Vollziehbarkeit der Entscheidung über schulische Ordnungsmaßnahmen, über die Überweisung an eine Förderschule oder über eine Aufnahme in eine Schule für Kranke oder in eine andere Einrichtung, an der die Schulpflicht erfüllt werden kann (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG). Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift und insbesondere im Hinblick darauf, dass die Maßnahme nur erfolgen darf, wenn die Gefahr nicht anders abwendbar ist, erlaubt die Vorschrift nicht nur den vollständigen, sondern auch den teilweisen vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch.
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Abzustellen ist vorliegend auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts. Sicherungsmaßnahmen nach Art. 87 Abs. 1 BayEUG sind Dauerverwaltungsakte. Die Schule soll bei akuten Gefährdungssituationen durch gewalttätige Schüler diese sofort von der Schule ausschließen können (LT-Drs. 15/5674, S. 21). Wenn Anhaltspunkte für eine Gefährdung bestehen, hat das Interesse des Schülers, von präventiven Maßnahmen verschont zu bleiben und weiterhin am Unterricht teilnehmen zu können, gegenüber dem Schutz der potenziell betroffenen Schüler und Lehrkräfte zurückzustehen, solange die Gefahr nicht ausgeräumt ist (BayVGH, B.v. 26.1.2010 – 7 C 09.2870 – juris Rn. 6 zu Art. 86 Abs. 13 BayEUG a.F.). Aus ihrem Zweck als Maßnahme der Gefahrenabwehr (BayVGH, B.v. 26.1.2010 – 7 C 09.2870 – juris Rn. 6) folgt, dass Änderungen nach dem Zeitpunkt des Erlasses nicht außer Betracht bleiben können.
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bb) Gegen die Anordnung des vorläufigen Ausschlusses vom Besuch des Nachmittagsunterrichts bestehen keine formellen Bedenken. Der Bescheid wurde vom hierfür zuständigen (Art. 88 Abs. 2 Nr. 1 BayEUG) Schulleiter erlassen. Die in Art. 88 Abs. 3 BayEUG vorgesehenen Anhörungsrechte gelten nicht für Maßnahmen nach Art. 87 Abs. 1 BayEUG. Ein etwaiger Anhörungsmangel betreffend den Antragsteller selbst (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG) ist jedenfalls durch die nachgeholte Anhörung im Widerspruchsverfahren geheilt (Art. 45 Abs. 1 Nr. 3 BayEUG). Art. 88 Abs. 7 BayEUG schließt eine mündliche Anordnung einer Sicherungsmaßnahme nicht aus (Schenk, Teilkommentar BayEUG, 23. Aufl. 2021, Art. 88).
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cc) Gegen die angeordnete Sicherungsmaßnahme bestehen voraussichtlich keine rechtlichen Bedenken.
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(1) Von einer Gefährdung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG ist hier auszugehen.
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Die Beurteilung, ob eine Gefährdung im Sinne des Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG vorliegt, erfordert eine Prognose, ob eine akute Gefährdungssituation anzunehmen ist (BayVGH, B.v. 26.1.2010 – 7 C 09.2870 – juris Rn. 3, 6).
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Vorliegend begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass die Schule von einer akuten Gefährdungssituation ausgegangen ist.
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Aus dem Schreiben vom 9. November 2022 sowie den Schriftsätzen vom 16. Februar und 3. März 2023 ist ersichtlich, dass die Schule ihre Annahme der Gefährdung auf dem Vorfall am 17. Oktober 2022 und vorangegangene körperliche Angriffe des Antragstellers auf Mitschüler stützt. Nach den vorgelegten Behördenakten hat der Antragsteller am 17. Oktober 2022 nach Ende des Unterrichts ein Buch gegen eine Lehrkraft geworfen. Im Schuljahr 2021/22 hat der Antragsteller einen verschärften Verweis für massive körperliche Gewalt gegen einen Mitschüler (11. Februar 2022), einen verschärften Verweis für das Schlagen eines Mitschülers mit der Faust ins Gesicht (23. Februar 2022), einen Verweis für das Ohrfeigen eines Mitschülers (24. Februar 2022) und einen Schulausschluss von sechs Tagen wegen Verletzung eines Mitschülers durch einen Gabelstich im Rahmen eines Streits (27. Mai 2022) erhalten.
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Die Einwände des Antragstellers gegen den zugrunde gelegten Sachverhalt zum 17. Oktober 2022 bleiben voraussichtlich ohne Erfolg. Für die Darstellung der Antragsschrift, dass dem Ausbruch des Antragstellers am 17. Oktober 2022 ein von der Lehrkraft angeordnetes, jedoch nicht der Familie des Antragstellers angekündigtes Nachsitzen vorausgegangen sei, finden sich weder in der Stellungnahme der Lehrkraft, Herrn J., noch in der vom Antragsteller selbst vorgelegten Stellungnahme des Schulbegleiters Anhaltspunkte. Aus der Stellungnahme des Schulbegleiters geht hervor, dass die Lehrkraft lediglich gegen Ende der Unterrichtszeit das Nachholen der nicht erledigten Hausaufgaben des Antragstellers kontrollieren wollte und sich dies, auch aufgrund des Unwillens des Antragstellers, hinzog. Dies entspricht der Darstellung der Lehrkraft. Es sind keine Anhaltspunkte vorgetragen oder sonst erkennbar, die Zweifel an der Darstellung des Schulbegleiters und der Lehrkraft aufwerfen. Auch seitens des Antragstellers wird nicht bestritten, dass der Antragsteller schließlich das Buch gegen die Lehrkraft warf.
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Soweit der Antragsteller geltend macht, dass der Vorfall hätte verhindert werden können, wenn die Lehrkraft den Antragsteller hätte nach Hause gehen lassen, ergeben sich daraus keine rechtlichen Bedenken gegen die Annahme einer Gefährdungssituation. Nach der Stellungnahme des Schulbegleiters zog sich die Kontrolle der Hausaufgaben durch die Lehrkraft über das Unterrichtsende (15.30 Uhr) hinaus hin; der Antragsteller sei um 15.32 Uhr dran gewesen und habe sich mehrmals geweigert, die Hausaufgaben zu zeigen. Um ungefähr 15.35 Uhr habe er angefangen sich zu ärgern, weil er nach Hause habe gehen wollen. Die Lehrkraft habe das Heimgehen nicht zugelassen. Um ca. 15.40 Uhr habe der Antragsteller den Rucksack und ein paar Hefte zu Boden geworfen, nach einem Hin und Her von ein paar weiteren Minuten habe er um 15.45 Uhr das Buch zu dem Lehrer geworfen.
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Die Kontrolle des Nacharbeitens von Hausaufgaben am Ende der Schulstunde ist eine Alltagssituation an einer Schule und eine ohne Zweifel zulässige Praxis von Lehrkräften; das beschriebene Verhalten der Lehrkraft hält sich zeitlich und inhaltlich im üblichen Rahmen. Es begegnet auch keinen Bedenken, dass die Lehrkraft die Kontrolle des Nachholens fehlender Hausaufgaben beim Antragsteller auf das Ende der Schulstunde legt; die Lehrkraft hat auch die Situation der anderen Schüler der Klasse im Auge zu behalten. Vor diesem Hintergrund musste die Schule sich bei Beurteilung der Gefährdungslage mit der Frage, ob ein Nachgeben der Lehrkraft den Angriff des Antragstellers verhindert hätte, nicht auseinandersetzen. Denn im Schulalltag dürfte es häufiger vorkommen, dass Personen, mit denen sich Konflikte mit dem Antragsteller ergeben, nicht lediglich deeskalierend reagieren. Gerade in Bezug auf Mitschüler dürfte es vielmehr zu erwarten sein, dass diese das impulsive Verhalten des Antragstellers nicht vorhersehen können oder jedenfalls in einem Konflikt darauf keine Rücksicht nehmen. Die Schule muss daher bei ihrer Einschätzung der Gefährdung anderer durch den Antragsteller nicht eine optimale oder allein an Deeskalation orientierte Reaktion anderer Personen unterstellen. Gleiches gilt auch in Bezug auf den von der Schule herangezogenen Vorfall im Mai 2022, als der Antragsteller mit einer Gabel einen anderen Mitschüler verletzte, und die Mutter des Antragstellers hierzu darauf verwies, dass der betroffene Mitschüler den Antragsteller provoziert habe.
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Auch das Vorbringen des Antragstellers, dass seine durch seine psychische Krankheit verursachte Überreaktion ihm nicht vorwerfbar sei, und dass er sich entschuldigt habe, führen nicht zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme. Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG dient dem Schutz anderer Personen an der Schule in einer Gefährdungssituation, so dass es auf die Frage, inwieweit der Antragsteller sein Verhalten steuern konnte oder ob er sich nachfolgend entschuldigt hat, nur insoweit ankommt, als dies Einfluss auf die Gefahrenprognose hätte. Hierfür ist jedoch nichts ersichtlich.
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Die Annahme der Schule, dass der Antragsteller durch körperliche Angriffe gegen Mitschüler im Schuljahr 2021/22 und den Vorfall am 17. Oktober 2022 die Gesundheit anderer Personen gefährdet hat und weiterhin mit einer Gefahr für die Gesundheit von Mitschülern und Lehrkräften zu rechnen ist, ist vor diesem Hintergrund rechtlich nicht zu beanstanden.
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(2) Auch die Annahme, dass die Gefahr nicht anders abwendbar war (Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG) als durch den vorläufigen Ausschluss vom Besuch des Nachmittagsunterrichts, ist voraussichtlich nicht rechtsfehlerhaft. Die Schule begründet den seit 27. Februar 2023 auf den Nachmittagsunterricht beschränkten Ausschluss vom Schulbesuch mit der Beobachtung, dass Konflikte mit dem Antragsteller sich überwiegend am Nachmittag ergeben; diese Einschätzung wurde in der Antragsschrift auch vom Antragsteller so vorgetragen. Das Vorbringen des Antragstellers erscheint insoweit nicht ganz widerspruchsfrei, insbesondere nachdem in der Antragsschrift noch eine Beschulung bis 13 Uhr gefordert wurde. Auch entspricht dies der fachärztlichen Empfehlung der den Antragsteller behandelnden Ärztin Dr. M. vom 26. Januar 2023, wonach der Antragsteller bis 13 Uhr beschult werden sollte. Aus den Behördenakten und dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 3. März 2023 ist weiter ersichtlich, dass die Schule die Beschulung des Antragstellers in der Parallelklasse, in der kein Nachmittagsunterricht stattfindet, erwogen hat, diese aber aufgrund der dortigen schwierigen Klassensituation nicht als umsetzbar ansieht; dass diese Einschätzung fehlerhaft wäre, ist weder geltend gemacht noch ersichtlich.
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(3) Der vorläufige Ausschluss vom Besuch des Nachmittagsunterrichts ist voraussichtlich auch nicht deshalb fehlerhaft, weil die Sicherungsmaßnahme bereits am 9. November 2022 verfügt wurde und die Schule den Antrag auf Erlass der Ordnungsmaßnahme nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG noch nicht an das Schulamt weitergeleitet hat.
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Dem Sinn und Zweck nach erlaubt Art. 87 Abs. 1 Satz 1 BayEUG eine präventive Sofortmaßnahme bis zur Klärung der Gefahr und der Entscheidung über weitere Maßnahmen (BayVGH, B.v. 26.1.2010 – 7 C 09.2870 – juris Rn. 6). Die in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen, wie schulische Ordnungsmaßnahmen, die Überweisung an eine Förderschule oder die Aufnahme an einer anderen Einrichtung, an der die Schulpflicht erfüllt wird, ermöglichen endgültige Regelungen bei einer Gefährdung anderer Personen durch Schüler; Verfahren und Sachverhaltsermittlung sind jedoch teilweise zeitaufwändig. Bei einer akuten Gefährdungssituation überbrückt der vorläufige Ausschluss vom Schulbesuch den Zeitraum von der Vorbereitung bis zur Vollziehbarkeit der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen. Im Hinblick auf die Eingriffsintensität des vorläufigen Schulausschlusses ist dieser nur als begleitende Maßnahme während des Verfahrens zum Erlass einer (endgültigen) Entscheidung nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG gerechtfertigt.
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Aus dem begleitenden Charakter der Sicherungsmaßnahme folgt, dass die Schule zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG aufgezeigten Lösungsmöglichkeiten von Amts wegen verpflichtet ist (Schenk, Teilkommentar BayEUG, 24. Aufl. 2022, Art. 87; VG München, B.v. 12.4.2021 – M 3 E 21.1862, B.v. 4.9.2019 – M 3 S 19.2533 – jeweils n.v.). Demgemäß wird ein vorläufiger Ausschluss vom Schulbesuch rechtswidrig, wenn ein Verfahren zur Herbeiführung einer der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 BayEUG genannten Entscheidungen nicht betrieben wird (vgl. zur vorläufigen denkmalrechtlichen Unterschutzstellung VG Gelsenkirchen, U.v. 19.3.1998 – 16 K 5383/95 – juris, nur Leitsatz; VG München, U.v. 3.5.2022 – M 3 K 17.2574 – juris Rn. 57).
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Von einem Nichtbetreiben des Verfahrens kann vorliegend noch nicht ausgegangen werden. Zwar darf die Schule bei einem vorläufigen Ausschluss vom Unterricht nicht mit Blick auf eigene Initiativen der Eltern des betroffenen Schülers von einem weiteren Betreiben des Verfahrens absehen. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass jegliches zeitlich begrenzte Abwarten auf eigene Initiativen der Eltern des Schülers als Nichtbetreiben anzusehen ist. Maßgeblich ist unter anderem, dass die Dauer der Verzögerung zeitlich begrenzt sein muss und dass die Schule das Verfahren im Auge behalten und zeitnah vorantreiben muss, wenn die geplanten Initiativen der Eltern des Schülers ausbleiben oder keinen zeitnahen Erfolg haben. Vorliegend erfolgte, wie aus dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 16. Februar 2023 ersichtlich, das Zuwarten der Schule mit der Weiterleitung des Antrags auf eine Ordnungsmaßnahme nach Art. 86 Abs. 2 Nr. 8 BayEUG, um den Eltern des Antragstellers nach einem Beratungstermin im März 2023 eine Entscheidung über einen freiwilligen Wechsel an die Mittelschule T. in eine flexible Trainingsklasse zu ermöglichen. Die Dauer der Verzögerung ist damit eingegrenzt, aus dem Schriftsatz vom 16. Februar 2023 ist auch ersichtlich, dass die Schule nur bis zu einer Kommunikation des Ergebnisses zuwarten wollte.
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Ob und inwieweit sich mit Blick auf die Schulpflicht nach Art. 35 Abs. 1, 2 BayEUG auch bei tatsächlichem parallelem Betreiben eines Verfahrens einer endgültigen Entscheidung zeitliche Grenzen für den vorläufigen Ausschluss vom Schulbesuch ergeben (vgl. Schröder, JURA 2010, 255/259 allgemein zum Ausbleiben einer endgültigen Entscheidung; Schimmelpfennig, BayVBl. 1989, 69/75 zur Zulässigkeit vorläufiger Regelung ohne ausdrückliche gesetzliche Ermächtigung), kann vorliegend offenbleiben. Denn etwaige Grenzen wären hier jedenfalls nicht überschritten; die Schule hat den für den Antragsteller nachteiligen Folgen eines längeren vorläufigen Ausschlusses dadurch hinreichend Rechnung getragen, dass sie ihn seit 27. Februar 2023 nur vorläufig vom Nachmittagsunterricht ausschließt.
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2. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht unter Berücksichtigung des vorläufigen Charakters des Verfahrens auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. Nr. 1.1.1, 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.