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VG Bayreuth, Urteil v. 15.11.2023 – B 3 K 22.30859
Titel:

subsidiärer Schutz, Gaza

Normenkette:
AsylG § 4
Leitsatz:
Aktuell ist davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens und ihrer Unversehrtheit aufgrund des dort herrschenden bewaffneten Konflikts besteht.
Schlagworte:
subsidiärer Schutz, Gaza
Fundstelle:
BeckRS 2023, 52369

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. Der Bescheid vom 22.7.2022 wird aufgehoben, soweit er dem entgegensteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte zu 2/3, der Kläger zu 1/3.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger ist palästinensischer Volkszugehöriger, sunnitischen Glaubens und stammt aus Gaza. Er reiste nach eigenen Angaben am 12.2.2019 von dort aus und unter anderem über die Türkei und Griechenland am 5.8.2021 nach Deutschland ein und stellte hier am 13.9.2021 einen Asylantrag.
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Zur Begründung seines Asylantrags führte er bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) aus, er habe Gaza verlassen, da er Probleme mit der Familie eines Mädchens gehabt habe, mit dem er eine Liebesbeziehung gehabt habe. Die Familie des Mädchens habe ihn einmal mit einem Messer angegriffen. Als er dennoch wieder mit seiner Freundin habe Kontakt aufnehmen wollen, hätte ihm die Familie des Mädchens eine Falle gestellt und ihn entführt. Nach drei Tagen habe man ihn freigelassen. Man habe ihm dann einen Brief mit einer Kugel gegeben. Damit habe man eine Todesdrohung gegen ihn ausgesprochen. Der Kläger sei daraufhin legal ausgereist. An die Behörden habe er sich nicht wenden können, da der Vater des Mädchens bei der Hamas gewesen sei.
3
Mit Bescheid vom 22.7.2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers und seine Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorlägen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen; im Falle einer Klageerhebung binnen 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens. Sollte der Kläger die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er in die palästinensischen Autonomiegebiete, hier Gaza, abgeschoben. Der Kläger könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Die durch die Bekanntgabe der Entscheidung in Lauf gesetzte Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führt der Bescheid aus, der Vortrag des Klägers sei nicht glaubhaft. Es sei unverständlich, weshalb sich der Kläger nach dem ersten Angriff auf ein erneutes Treffen mit dem Mädchen eingelassen habe. Auch die behauptete Entführung sei nicht nachvollziehbar. Der Kläger sei auch nicht als Zivilperson von willkürlicher bewaffneter Gewalt im Rahmen eines in seinem Herkunftsland bestehenden innerstaatlichen bewaffneten Konflikts betroffen. Die Sicherheitslage in der Herkunftsregion des Antragstellers sei geprägt von einem bereits seit Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, welcher immer wieder auch gewaltsam ausgetragen werde. Zwar sei die Lage im Westjordanland aufgrund mehrerer Sicherheitsvorfälle angespannt, in Gaza sei jedoch kein Gefährdungsgrad für Zivilpersonen anzunehmen, der die Feststellung einer erheblichen individuellen Gefahr allein auf Grund der Rückkehr in das Herkunftsgebiet und dortigem Aufenthalt rechtfertige. Abschiebungsverbote bestünden ebenfalls nicht. Insgesamt sei die Versorgungslage in Gaza angespannt, könne aber insbesondere mit Hilfe der ansässigen Hilfsorganisationen auf niedrigem Niveau sichergestellt werden.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 15.8.2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth. Er beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.7.2022 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu verpflichten, festzustellen, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG erfüllt,
hilfsweise:
festzustellen, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt,
hilfsweise:
festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 V bis VII 1 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, der ergangene Bescheid sei rechtswidrig und verletze den Kläger in seinen Rechten.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die Begründung des angefochtenen Bescheides.
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Mit Kammerbeschluss vom 23.3.2023 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Auf Anfrage des Gerichtes erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 25.9.2023, eine IR-Anfrage bei den griechischen Behörden habe ergeben, dass der Kläger in Griechenland über keinen Schutzstatus verfüge, sondern das dortige Verfahren aufgrund stillschweigender Rücknahme eingestellt worden sei.
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Der Kläger erklärte mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 9.11.2023 aufgrund der aktuellen Situation in Gaza lägen die Voraussetzungen des § 4 AsylG vor, der Kläger würde jedoch auch für den Fall der Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes die Klage für erledigt erklären, da ihm an einer schnellen Entscheidung gelegen sei. Bereits die Zielstaatsbezeichnung „Palästinensische Autonomiegebiete“ sei – wie auch die Zielstaatsbezeichnung Palästina – nicht zulässig, da es weder einen palästinensischen Staat noch eine palästinensische Staatsangehörigkeit gebe. In Gaza herrsche bereits aufgrund der Einstufung der den Gazastreifen beherrschenden Hamas als Terrororganisation durch die EU „willkürliche“ Gewalt. Die individuelle Betroffenheit sei bereits aufgrund fehlender Fluchtmöglichkeiten gegeben.
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Auf ein Schreiben des Gerichts vom 16.10.2023, mit dem die Beklagte um Stellungnahme zu den Auswirkungen der aktuellen Situation im Gaza-Streifen gebeten wurde, antwortete die Beklagte nach Ende der mündlichen Verhandlung, zu der kein Vertreter der Beklagten erschienen war, am 14.11.2023 schriftlich, dass eine Abhilfeentscheidung nicht ergehen könne, da das Bundesamt hinsichtlich der Situation in den palästinensischen Gebieten, insbesondere aktuell in Gaza und der daraus resultierenden Konsequenzen für entsprechend anhängige (Klage) Verfahren noch keine einheitliche Amtslinie gefunden habe.
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Ergänzend wird hinsichtlich des Sachverhalts auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2023 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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1. Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg, soweit der Kläger die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung des subsidiären Schutzstatus und eine entsprechende Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt. Hinsichtlich der begehrten Gewährung von Flüchtlingsschutz war die Klage abzuweisen.
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1.1 Soweit der Kläger die Anerkennung als Flüchtling begehrt, war die Klage abzuweisen. Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nicht staatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Vorverfolgte werden über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU – Anerkennungsrichtlinie) privilegiert. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von einer solchen Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen.
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Es obliegt dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – Az. A 12 S 2023/11 – juris, HessVGH, U.v. 04.9.2014 – Az. 8 A 2434/11.A – juris).
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Gemessen an diesen Grundsätzen hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Der Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt aus Gaza ausgereist. Die Angaben des Klägers zu seiner Beziehung mit dem Mädchen sind bereits nicht glaubhaft. Insofern wird auf die zutreffende Begründung des angegriffenen Bescheides verwiesen. Die geschilderte Verfolgung würde auch nicht an einen der Verfolgungsgründe des § 3b AsylG anknüpfen. Jedenfalls bestünde aufgrund einer erheblichen Änderung der Sachlage im Herkunftsland inzwischen keine Gefahr mehr für den Kläger aufgrund der Beziehung zu dem Mädchen. Der Kläger selbst befürchtet eine solche Verfolgung nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung bereits nicht mehr. Er habe seit zwei Jahren nichts mehr von der Sache gehört und wisse auch gar nicht, ob die beteiligten Personen noch leben. Aufgrund der aktuellen Umstände in Gaza (s.u.) erscheint zudem derzeit eine private Verfolgung durch einen Hamas-Angehörigen aufgrund einer privaten Beziehung der Tochter vor etwa 5 Jahren als sehr unwahrscheinlich.
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1.2 Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei unter anderem eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bezieht sich entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen (EuGH Urt. v. 30.1.2014 – C-285/12 (Aboubacar Diakité)). Ein solcher Konflikt ist im Herkunftsgebiet des Klägers Gaza derzeit gegeben.
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Es ist allgemeinkundig, dass am 7.10.2023 Hamas-Kämpfer nach Israel eingedrungen sind und dort mehrere Orte attackiert, eine große Zahl von Menschen getötet und weitere Personen als Geiseln genommen haben und dass seitdem Angriffe durch das israelische Militär auf eine Vielzahl von Orten in Gaza stattfinden. Nach den Briefing Notes des Bundesamtes vom 6.11.2023 ist im Zuge dieses Konflikts die Anzahl der palästinensischen Todesopfer nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums bis zu diesem Zeitpunkt bereits auf 9.700 Personen gestiegen, darunter mehr als 4.000 Kinder und Jugendliche. Die WHO zählt von 7. bis 30.10.2023 mindestens 9770 Todesopfer, davon 41% Kinder. Die Opfer seien zu 45% weiblich und zu 55% männlich (WHO, oPt EMERGENCY SITUATION REPORT, Issue 11, 6.11.2023, abrufbar unter https://www.emro.who.int/opt/priority-areas/occupied-palestinian-territory-health-crisis-2023.html#sitreps, abgerufen am 20.11.2023). UNOCHA weist mit Stand 10.11.2023 11.078 Tote und 27.490 Verletzte im Gebiet des Gazastreifens aus (https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/hostilities-gaza-strip-and-israel-reported-impact-19-november-2023-2359, abgerufen am 20.11.2023). Auch wenn die jeweils genannten Zahlen wohl alle als Quelle eine Konfliktpartei (Gesundheitsministerium der Hamas) haben, halten die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Experten die Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/gaza-zahlen-tote-100.html, abgerufen am 20.11.2023). Auch die entscheidende Einzelrichterin legt diese Zahlen vorliegend zugrunde, wobei berücksichtigt wird, dass die während eines laufenden Konfliktes bekanntgegebenen Opferzahlen immer nur Annäherungswerte sein können. Obwohl keine Angaben dazu gemacht werden, wie hoch der Anteil der zivilen Todesopfer unter den Gesamtzahlen liegt, spricht die enorme Zahl der Getöteten und insbesondere der getöteten Frauen und Minderjährigen, innerhalb nur etwa eines Monats in einem Gebiet, das von etwa 2,1 Millionen Menschen bewohnt ist (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417982/umfrage/gesamtbevoelkerung-im-gazastreifen/, abgerufen am 21.11.2023), stark für eine ernsthafte Bedrohung jedes in diesem Gebiet befindlichen Menschen. Innerhalb eines Jahres würden bei gleichbleibenden Opferzahlen über 5% der Bevölkerung Gazas sterben (wenn auch hierbei der Anteil der zivilen Opfer nicht klar ist). Bei der Prüfung ob eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts vorliegt, kann allerdings nicht allein darauf abgestellt werden, dass das Verhältnis der Opferzahl zur Gesamtzahl der Bevölkerung eine bestimmte Schwelle überschreitet. Zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ vorliegt und subsidiärer Schutz zu gewähren ist, bedarf es vielmehr einer umfassenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation im Herkunftsland der schutzsuchenden Person kennzeichnen (EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19). In Gaza leben aktuell schätzungsweise 1,7 Millionen Binnenvertriebene (https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/hostilities-gaza-strip-and-israel-flash-update-44). Davon befinden sich 884.000 Personen in den 154 Einrichtungen der UNWRA, wobei selbst in diesen Einrichtungen seit dem 7.10.2023 mindestens 176 Schutzsuchende getötet und 778 verletzt wurden (https://www.unrwa.org/resources/reports/unrwa-situation-report-33-situation-gaza-strip-and-west-bank-including-east-Jerusalem, abgerufen am 21.11.2023). Die israelischen Streitkräfte weiteten ihre Bodeneinsätze ab 28.10.23 im nördlichen Gazastreifen aus und führen anhaltend Luftangriffe auf Ziele mit mutmaßlicher Verbindung zur Hamas durch (BAMF, Briefing Notes vom 30.10.2023). Der südliche Gazastreifen ist laut Militärangaben keine Sicherheitszone, aber sicherer als jeder andere Ort in Gaza (BAMF, Briefing Notes vom 6.11.2023). Die WHO weist auf ihrer Webseite darauf hin, dass ein Mangel an medizinischen Hilfsgütern, Essen, Wasser und Treibstoff das ohnehin unterversorgte Gesundheitssystem erschöpft habe. 39% der Krankenhäuser in Gaza seien nicht funktionsfähig, der Wasserverbrauch sei im Vergleich zum Zeitraum vor den Kampfhandlungen um 56-96% gesunken. Die Zerstörung beeinträchtige die Infrastruktur im Gazastreifen erheblich und behindere den Zugang von Krankenwagen zu den Verletzten. Die Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit entwickle sich rasant mit einer hohen Zahl gewaltvoller Tode und Verletzungen, Massenvertreibung, Überfüllung, erheblicher Störung und Dysfunktion des Gesundheitssystems und Schäden an Wasser- und Hygieneinfrastruktur. 70% der medizinischen Erstversorgungseinheiten seien nicht funktionsfähig. Es gebe kritischen Mangel an wesentlichen Medikamenten und Medizinprodukten. Seit dem 7.10.2023 habe es in Gaza 108 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung gegeben, bei denen 512 Menschen getötet worden seien. 22 Krankenhäuser und 33 Krankenwägen seien beschädigt worden (WHO, oPt EMERGENCY SITUATION REPORT, Issue 11, 6.11.2023, abrufbar unter https://www.emro.who.int/opt/priority-areas/occupied-palestinian-territory-health-crisis-2023.html#sitreps). Seit dem 11. Oktober bestehe im Gaza-Streifen ein Blackout, nachdem die israelischen Behörden die Stromversorgung unterbrochen hätten und die Treibstoffreserven für Gazas einziges Stromkraftwerk aufgebraucht seien (https://www.unocha.org/publications/report/occupied-palestinian-territory/hostilities-gaza-strip-and-israel-flash-update-44).
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Diese Umstände, die von verschiedenen internationalen Organisationen und Medien geschildert werden, decken sich auch mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, wo dieser die Lage seiner in Gaza lebenden Verwandten schilderte, die zum Teil verletzt oder getötet wurden, ihre Häuser verlassen mussten und die nicht einmal mehr eine Unterstützung durch die UNWRA erhalten konnten, die über eine reine Unterkunft hinausging.
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Aufgrund der katastrophalen humanitären Umstände, der mangelnden medizinischen Versorgung und der immer noch fortgesetzten Boden- und Luftangriffe auf die Hamas, die aufgrund der besonderen Umstände dieses Konflikts in erheblichem Maß auch die Zivilbevölkerung treffen, ist aktuell davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und ihrer Unversehrtheit besteht.
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Es kann daher dahinstehen, ob dem Kläger bei einer Rückkehr auch hinreichend individuell eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht, weil der militärischen Arm der Hamas-Regierung verschiedenen Medienberichten zufolge zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen oder Wohnhäuser als Schutzschilde missbraucht (vgl. z.B. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-israel-gaza-feuerpause-100.html abgerufen am 16.11.2023). Hierin könnte eine „Entmenschlichung“ der Zivilbevölkerung Gazas gesehen werden, die als lebendiges Schutzschild missbraucht wird.
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Innerhalb des Herkunftsgebietes des Klägers (Palästinensische Autonomiegebiete/Gaza) besteht auch keine interne Fluchtalternative. Auch wenn es im südlichen Teil des Gazastreifens sicherer für die Bevölkerung ist als im Norden, besteht die oben geschilderte Lage auch in diesem Gebiet.
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1.3 Aufgrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ist die in Ziffer 4) des angegriffenen Bescheides getroffene Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG gegenstandslos. Die Ziffern 5) und 6) des Bescheides werden aufgehoben, da die Voraussetzungen für eine Abschiebungsandrohung nicht vorliegen und keine Ausreisepflicht des Klägers besteht.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Der von den Beteiligten jeweils zu tragende Kostenanteil entspricht dem jeweiligen Anteil des Unterliegens. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.