Titel:
Schätzung des Gerichtsvollziehers in der Zwangsvollstreckung
Normenkette:
ZPO § 813 Abs. 1 S. 3, § 825 Abs. 1
Leitsätze:
1. Legt der Gerichtsvollzieher bei der Schätzung offenkundig unzutreffende Tatsachen zugrunde, liegt ein Verfahrensfehler vor, der im Wege der Erinnerung geltend gemacht werden kann; in diesem Fall ist der Schuldner nicht darauf zu verweisen, die Vornahme der Schätzung durch einen Sachverständigen zu beauftragen. (Rn. 24 und 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Schätzung des Gerichtsvollziehers sind bekannte Schätzgrundlagen bei der Bewertung zutreffend zu berücksichtigen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zwangsvollstreckung, Gerichtsvollzieher, Schätzung, Sachverständiger, Verfahrensfehler, Erinnerung, Schätzgrundlagen, Pferdesattel, Alter, Fachgeschäft
Rechtsmittelinstanzen:
LG München II, Beschluss vom 16.05.2024 – 6 T 2053/23
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 21.08.2024 – VII ZA 3/24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 52300
Tenor
1. Auf die Erinnerung der Schuldnerin vom 05.12.2022 wird die Gerichtsvollzieherin angewiesen, den Wert der gepfändeten Sättel unter Berücksichtigung des sich aus dem Kaufvertrag vom 06.05.2020 ergebenden Alters und Kaufpreises erneut zu schätzen.
2. Der Gläubiger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Wert des Verfahrens wird auf 6.780,- € festgesetzt.
Gründe
1
Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Coburg vom 25.02.2021, Az. 21-.
2
Dem Vollstreckungsbescheid liegt eine Kaufpreisforderung aus dem Kaufvertrag über die Herstellung und Lieferung zweier Pferdesättel vom 06.05.2020 zugrunde.
3
Die Sättel wurden von dem Gläubiger an die Schuldnerin unter Eigentumsvorbehalt geliefert.
4
Die Kaufpreiszahlung ist nicht erfolgt.
5
Mit Vollstreckungsauftrag vom 21.12.2021 beantragte der Gläubiger die Pfändung und Verwertung der Sättel.
6
Die Sättel, die sich im Besitz der Schuldnerin befanden, wurden von der Schuldnerin an die Gerichtsvollzieherin am 10.03.2022 herausgegeben.
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Mit Email vom 24.05.2022 teilte der Gläubiger mit, dass seine Nachfolgerin S*** M*** die Sättel zum Preis vom 800,- € je Stück übernehmen würde.
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Daraufhin teilte die Gerichtsvollzieherin der Schuldnerin mit Schreiben vom 26.05.2022 mit, dass ein Antrag auf andere Verwertungsart gemäß § 825 Abs. 1 ZPO gestellt worden sei.
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Das Schreiben wurde der Schuldnerin am 02.06.2022 zugestellt.
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Die Schuldnerin wurde darauf hingewiesen, dass sie die Möglichkeit habe, der andersartigen Verwertung zu widersprechen durch Einlegung der Erinnerung beim Amtsgericht Augsburg Vollstreckungsgericht.
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Mit am 17.06.2022 beim Amtsgericht Augsburg eingegangenen Schriftsatz hat die Schuldnerin Erinnerung gegen die angekündigte Verwertungsart eingelegt.
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Am 20.06.2022 ist der Schriftsatz beim Amtsgericht Wolfratshausen eingegangen.
13
Mit Beschluss vom 14.09.2022 hat das Amtsgericht Wolfratshausen die Gerichtsvollzieherin angewiesen, die gepfändeten Pferdesättel nicht gemäß Antrag des Gläubigers im Wege der anderweitigen Verwertung durch Übereignung an Dritte gegen Zahlung von 800,- € pro Sattel zu verwerten.
14
Die Gerichtsvollzieherin hat daraufhin eine Stellungnahme eine Reitsportschäftes erholt, in der das Alter der Sättel auf 6- 7 Jahre geschätzt wird und ein Verkaufswert von ca. 500,- € pro Sattel angegeben wird.
15
Mit Schreiben vom 30.11.2022 hat die Gerichtsvollzieherin das Schreiben des Fachgeschäftes an die Parteien zur Stellungnahme hinausgegeben und angekündigt, einen Versteigerungstermin anzuberaumen, sofern binnen gesetzter Frist keine Stellungnahme eingehen sollte.
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Mit Schreiben vom 05.12.2022 hat der Schuldnervertreter ausgeführt, dass das von dem Fachgeschäft angenommene Alter nicht zutreffend sei und daher die Bewertung mit einem Verkaufspreis von 500,- € als fehlerhaft abgelehnt werde.
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Das Gericht hat das Schreiben zunächst als Antrag auf Schätzung gemäß § 813 Abs. 1 S.3 ZPO ausgelegt.
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Mit Schreiben vom 22.03.2022 hat der Schuldnervertreter ausgeführt, dass um Hinweis gebeten werde, warum ein Sachverständiger beauftragt werden solle. Es liege ein offensichtlicher Fehler bei der Schätzung vor.
19
Das Gericht hat daraufhin mit Verfügung vom 02.05.2022 darauf hingewiesen, dass das Schreiben vom 05.12.2022 nicht als Antrag auf Schätzung durch einen Sachverständigen, sondern als Erinnerung auszulegen ist.
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Der Gläubiger ist der Auffassung, die Erinnerung gegen die Schätzung durch die Gerichtsvollzieherin sei unzulässig.
21
Die Erinnerung ist zulässig und begründet.
22
1. Die Erinnerung ist zulässig.
23
Es ist umstritten, ob gegen die Schätzung des Gerichtsvollziehers die Erinnerung statthaft ist oder ob der Antrag auf Schätzung durch einen Sachverständigen nach § 813 Abs. 1 S.3 ZPO als Spezialregelung vorgeht und einer Erinnerung deswegen das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
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Das Gericht ist jedoch der Auffassung, dass bei einem offensichtlichen Fehler der Schätzung der Schuldner nicht darauf zu verweisen ist, die Vornahme der Schätzung durch einen Sachverständigen zu beauftragen.
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Vielmehr besteht ein Rechtsschutzbedürfnis dahingehend, dass bei der Schätzung des Gerichtsvollziehers die bekannten Schätzgrundlagen bei der Bewertung zutreffend berücksichtigt werden.
26
Wenn der Gerichtsvollzieher der Schätzung offenkundig unzutreffende Tatsachen zugrunde liegt, liegt ein Verfahrensfehler vor, der im Wege der Erinnerung geltend gemacht werden kann.
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In diesem Fall macht eine Neuvornahme der Schätzung durch den Gerichtsvollzieher auch Sinn, da bei Zugrundelegung der bekannten wertbildenden Eigenschaften der gepfändeten Sache möglicherweise ein anderes Schätzergebnis erzielt wird.
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Hier hat das Fachgeschäft ein Alter der Sättel von 6- 7 Jahren angegeben, nachdem sich aus den vorliegenden Unterlagen aber ergibt, dass die Sättel im Jahr 2020 hergestellt wurden.
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Es besteht ein Rechtsschutzinteresse der Schuldnerin dahingehend, dass das tatsächliche Alter der Sättel bei der Schätzung zugrunde gelegt wird und die Diskrepanz zwischen von dem Fachgeschäft geschätzten Alter und dem tatsächlichen Alter nicht einfach unbeachtet gelassen wird.
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2. Aus vorstehenden Gründen ist die Erinnerung auch begründet.
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Die Gerichtsvollzieherin konnte die Schätzung des Wertes der Sättel nicht auf Grundlage der Stellungnahme des Fachgeschäftes vornehmen, da das dort vermutete Alter mit dem aus den vorliegenden Unterlagen bekannten Alter offensichtlich nicht übereinstimmte. Insoweit wäre vor Schätzung eine weitere Abklärung erforderlich gewesen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.