Inhalt

LG München II, Urteil v. 10.08.2023 – 4 KLs 11 Js 44491/21
Titel:

Geschäftsverteilungsplan, Verschwiegenheitsverpflichtung, Kostenentscheidung, festgestellter Sachverhalt, Verschwiegenheitspflicht, Eröffnungsbeschluss, Beweiswürdigung, Gesamtfreiheitsstrafe, Selbstleseverfahren, Steuergeheimnis, Angestellte im öffentlichen Dienst, Offensichtliche Unrichtigkeit, Geschäftsstelle des Finanzamts, Strafvereitelung, Hauptverhandlung, Tateinheitliches, Unwahre Tatsachenbehauptung, Betroffensein, Geeignetheit, Eignungsprüfung

Schlagworte:
Freispruch, Volksverhetzung, Holocaustleugnung, Strafbarkeit, Verbreitung, Unbestimmtheit, Beweiswürdigung, Einspruch, Steuergeheimnis, Verbreiten, Öffentlicher Frieden, Eignung
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 25.09.2024 – 3 StR 32/24
Fundstelle:
BeckRS 2023, 51498

Tenor

1. Die Angeklagte wird freigesprochen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten.

Entscheidungsgründe

1
Die Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.
A. Vorspann:
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Die Staatsanwaltschaft München II legte der Angeklagten Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3, Abs. 5, Abs. 2 StGB in der von 22.09.2021 bis 08.12.2022 geltenden Fassung (§ 2 StGB) zur Last. Die Angeklagte soll am 07.10.2021 ein 339 Seiten umfassendes Schreiben mit den Holocaust leugnenden Passagen an das Finanzamt München übersandt und damit diese Inhalte verbreitet haben. Die Angeklagte war aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Zwar enthält das Schreiben der bereits zweifach wegen Volksverhetzung vorverurteilten Angeklagten inkriminierte Texte. Die Angeklagte hat aber dieses Schreiben nicht im Sinne von § 130 Abs. 2 StGB verbreitet und ein solches auch nicht versucht.
B. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München II vom 02.02.2022
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Die Staatsanwaltschaft München II legte der Angeklagten mit Anklageschrift vom 02.02.2022 Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3, Abs. 5, Abs. 2 StGB zu Last. Der Anklageschrift lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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Am 07.10.2021 versendete die Angeklagte von ihrem Wohnort in der P... Allee 10 in 8... E.... aus, ein 339 Seiten umfassendes Schreiben an das Finanzamt M..., K... Straße 4 in 8... M... Auf den Seiten 36 bis 89 des Schreibens befasst sich die Angeklagte in dem Kapitel „Verfolgung sogenannter „Holocaustleugner“" mit der in ihren Augen vorliegenden Unbestimmtheit der gesetzlichen Bestimmungen zur Strafbarkeit von Leugnung von durch die Nationalsozialisten begangenen Völkerverbrechen. Hierbei stellt die Angeklagte den geschichtlich anerkannten Holocaust mehrere Male in Abrede. Unter anderem äußert sich die Angeklagte folgendermaßen (s. Seite 36):
„Die Anklage wegen „Holocaustleugnung“ ist unbestimmt. Es ist unbestimmt und daher nicht beurteilbar, welche konkreten Handlungen und Sachverhalte mit dem Begriff „Holocaust“ bzw. „Völkermord“ gemeint, umfasst und betroffen seien: welche Maßnahmen, an welchen Orten, mit welchen Mitteln, mit welchen Folgen. Nachdem schon die Strafvorschriften keine konkreten Bestimmungen des „Holocaust“ enthalten, ist unklar, was konkret „geleugnet“ worden sei. Es ist mit dem Begriff Recht unvereinbar, in der Anklage eine Äußerung wiederzugeben und – ohne Abgleich mit einem konkret und verbindlich bestimmten „Leugnungsgegenstand“ – davon auszugehen, dass es sich gleichsam selbstverständlich automatisch um eine „Leugnung“ handele. Es wird wegen „Leugnen“ strafverfolgt, ohne dass bestimmt ist, wie die Wahrheit sei.“
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Im weiteren Verlauf führt die Angeklagte zudem an (s. Seite 37): „Ohne Bestimmung des Leugnungsgegenstands kann ein „Leugnen“ nicht festgestellt werden. Erstens ist nicht beurteilbar, welche konkreten Handlungen und Sachverhalte mit dem Begriff „Holocaust“ gemeint, umfasst und betroffen seien. Es kann nicht beurteilt werden, was geleugnet worden sei. […]“
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Weiterhin tätigt sie unter anderem folgende Aussage (siehe Seite 52):
„Der „erlaubte“ Forschungsstand über den „Holocaust“ ist unbestimmt. Es kann weder ersehen, noch beurteilt, noch geprüft werden, […] ob und inwiefern eine mutmaßliche „Leugnungsäußerung“ […] mit dem „erlaubten“ Forschungsstand übereinstimme oder nicht. Daher konnte und kann zum Beispiel weder ersehen, noch beurteilt, noch geprüft werden, ob und inwiefern die Tatsachenbehauptungen des Chemikers G... R... […] mit dem erlaubten Forschungsstand […] übereinstimmen oder nicht. Beispielsweise […] dass laut des Gutachters des […] Fred A. E... Jr folgende Sachverhalte vorlägen: „Nach Durchsicht des gesamten Materials und nach Inspektion aller Lokalitäten in A..., B... und M... findet ihr Autor das Beweismaterial überwältigend. Es gab keine Exekutions-Gaskammern an irgendeiner dieser Örtlichkeiten. Es ist die beste Ingenieursmeinung des Autors, daß die angeblichen Gaskammern der inspizierten Orte weder damals Exekutionskammern benutzt worden sein konnten, noch heute als solche benutzt werden oder ernsthaft für solche Funktionen in Betracht gezogen werden können.“ […]".
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Mit diesen Passagen stellt die Angeklagte – wie sie zumindest billigend in Kauf nahm – den geschichtlich anerkannten Holocaust, nämlich die verbrecherischen Massenermordungen europäischer Juden insbesondere in den Gaskammern der durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 errichteten Konzentrationslager, in Frage, indem sie diesen Völkermord als unbestimmt bezeichnet. Sie stellt diese Massenermordungen zudem in Abrede, indem sie sich die Aussagen anderer Holocaust Leugnungen zu eigen macht. Dabei nahm sie auch zumindest billigend in Kauf, dass dieses Schreiben – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen – geeignet war, das allgemeine Vertrauen in die Rechtssicherheit zu gefährden.
C. Persönliche Verhältnisse:
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1. Die am ...1963 in M... geborene Angeklagte ist ledig und deutsche Staatsangehörige. Sie wurde als einziges Kind von W... S..., einem Rechtsanwalt, und L... S..., geb. F..., einer Protokollführerin beim Landgericht in M... geboren. Sie absolvierte im Juni 1984 das Abitur am W... Gymnasium in M... und begann im November 1984 mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität M..., welches sie im Februar 1991 mit dem Ersten Staatsexamen abschloss. Bis zum Beginn des Referendariats im Oktober 1991 in M... war die Angeklagte in den Monaten Juni und Juli 1991 bei einer Rechtsanwaltskanzlei tätig. Das Zweite Staatsexamen absolvierte die Angeklagte im Dezember 1997. Die Dauer der Referendarzeit ist darauf zurückzuführen, dass die Angeklagte einmal wegen einer Erkrankung vom Examen zurücktreten musste und ein erster Prüfungsversuch erfolglos blieb. Zwischen der schriftlichen und der mündlichen Prüfung war die Angeklagte in den Monaten August bis Oktober 1997 als Assistentin des Gesamt- und Euro-Betriebsrats der B... AG tätig. Anfang 1998 wurde die Angeklagte als Rechtsanwältin zugelassen. Im Jahr 2005 absolvierte die Angeklagte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin. Durch Urteil des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer M... vom 15.09.2009, rechtskräftig seit 16.12.2011, wurde die Angeklagte aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen. Von Anfang 2008 bis zum 13.04.2011 verbüßte die Angeklagte eine Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren 3 Monaten aus einem Urteil des Landgerichts Mannheim vom 08.05.2019 vollständig, anschließend stand sie bis zum 12.04.2016 unter Führungsaufsicht. Nach einer weiteren Verurteilung des Landgerichts München II vom 25.02.2015, rechtskräftig seit 20.02.2019, musste sie von Mai 2019 bis 22.11.2020 eine Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten wegen Volksverhetzung vollständig verbüßen.
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2. Strafrechtlich ist sie bisher zweifach vorgeahndet:
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a) Mit Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14.01.2008 wurde die Angeklagte zunächst wegen Volksverhetzung in vier Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit versuchter Nötigung, Beleidigung, versuchter Strafvereitelung und Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole sowie in einem weiteren Fall tateinheitlich mit Beleidigung, versuchter Strafvereitelung und Nötigung, wegen Beihilfe zum Verstoß gegen das Berufsverbot in zwei Fällen, wegen Beleidigung und wegen Nötigung in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren 6 Monaten verurteilt. Ihr wurde für die Dauer von 5 Jahren die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs verboten.
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Durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 02.12.2008 wurde auf die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14. Januar 2008 das Verfahren eingestellt, soweit die Angeklagte wegen eines Falls der Beihilfe zum Verstoß gegen das Berufsverbot verurteilt worden war. Die Strafverfolgung wurde hinsichtlich des Vorwurfs der Nötigung in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung auf den Vorwurf der versuchten Strafvereitlung beschränkt. Die Angeklagte wurde freigesprochen, was den Vorwurf eines zweiten Falls der Beihilfe zum Verstoß gegen das Berufsverbot angeht. Der Schuldspruch wurde dahin geändert, dass die Angeklagte der Volksverhetzung in zwei Fällen, der Beleidigung sowie der versuchten Strafvereitelung in Tateinheit mit Volksverhetzung in zwei Fällen, Nötigung, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und Beleidigung in zwei Fällen schuldig ist. Der gesamte Strafausspruch wurde aufgehoben. Die weitergehende Revision der Angeklagten wurde verworfen.
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Mit sodann folgendem Urteil des Landgerichts Mannheim vom 08.05.2009, rechtskräftig seit 07.10.2009, wurde die Angeklagte, der bereits rechtskräftig für die Dauer von 5 Jahren die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs verboten wurde, wegen Volksverhetzung in zwei Fällen, Beleidigung sowie versuchter Strafvereitelung in Tateinheit mit Volksverhetzung in zwei Fällen, Nötigung, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole und Beleidigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Diesem Verfahren lagen unter anderem volksverhetzende Äußerungen der Angeklagten im Rahmen von Strafverfahren wegen Volksverhetzung, in denen sie noch als Verteidigerin tätig war, zugrunde.
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b) Mit Urteil des Landgerichts München II vom 25.02.2015 wurde die Angeklagte wegen Volksverhetzung in Tatmehrheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 8 Monaten verurteilt. Durch Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 03.05.2016 wurde auf die Revision der Angeklagten hin das Urteil vom 25.02.2015 hinsichtlich des Schuldspruchs bezüglich des Missbrauchs von Titeln aufgehoben und die Angeklagte insoweit freigesprochen. Weiter wurde in diesem Beschluss das Urteil der 1. Strafkammer vom 25.02.2015 hinsichtlich des gesamten Strafausspruchs aufgehoben, wobei jedoch die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten blieben, und die Sache zurückverwiesen. Mit Urteil des Landgerichts München II vom 15.02.2018, rechtskräftig seit 20.02.2019, wurde die Angeklagte schließlich wegen Volksverhetzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass die Angeklagte am 24.11.2012 auf der sogenannten „8. Internationalen Konferenz“ einer „Anti-Zensur-Koalition“ in C..., G..., Schweiz, an der mindestens 680, wahrscheinlich bis zu 2.000 Personen teilnahmen, einen rund 90-minütigen Vortrag mit dem Titel „Sprechverbot – Beweisverbot – Verteidigungsverbot, Die Wirklichkeit der Meinungsfreiheit“ hielt, der, wie von ihr beabsichtigt so verstanden wurde, dass es den unter der nationalsozialistischen Herrschaft begangenen Völkermord an den Juden nicht gegeben habe.
D. Festgestellter Sachverhalt:
1. Geschehensablauf hinsichtlich des Schreibens vom 07.10.2021:
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Die Besteuerung der Angeklagten wird unter anderem auch durch das Finanzamt M... durchgeführt. Am 02.09.2021 ergingen gegen die Angeklagte durch das Finanzamt M... unter den Steuernummern ..., ... und ... drei Bescheide. Am 07.10.2021 schickte die Angeklagte ein 339-seitiges Schreiben, das sie computergestützt verfasst, ausgedruckt und handschriftlich unterzeichnet hatte, per Fax an das Finanzamt M... unter der Adresse „Finanzamt M..., K... Straße 4, 8... M...“, wo es auch am selbe Tag einging. Dort wurde es von einem namentlich nicht näher bekannten Poststellenmitarbeiter an die Poststelle des Finanzamts M... im Dienstgebäude T... straße 3, 8... H... weitergeleitet. Diese Weiterleitung erfolgte versehentlich, weil wegen der Ähnlichkeit der sich aus den auf der ersten Seite des Schreibens aufgeführten Steuernummern ergebenden Nummern der Bearbeitungseinheiten eine falsche Sachbearbeiter-Zuordnung vorgenommen wurde. In der Poststelle in H... wurde das Versehen bei Überprüfung der aufgeführten Steuernummern ohne inhaltliche Prüfung bemerkt, weshalb das Schreiben durch einen weiteren namentlich nicht bekannten Poststellenmitarbeiter an die zuständige Stelle des Finanzamts M... im Dienstgebäude D... straße 20, 8... M... weitergeleitet wurde. Dort wurde das Schreiben bei der Poststelle in eine Postmappe eingelegt und durch einen namentlich nicht näher bekannten Poststellenmitarbeiter, wie bei allen Vorgängen üblich, an die Sachgebietsleiterin S..., eine Finanzbeamtin, überbracht. Sämtliche in den Vorgang involvierten Poststellenmitarbeiter sind Beschäftigte im öffentlichen Dienst und als solche förmlich zur Verschwiegenheit verpflichtet worden. Sie haben in ihrem Aufgabenbereich keine inhaltlichen Prüfpflichten; ihre Aufgabe besteht allein darin, die eingegangenen Schreiben anhand der ersichtlichen Steuernummern an das zuständige Sachgebiet zu befördern.
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Die Finanzbeamtin S... prüft die tägliche Post kursorisch und verteilt diese nach Prüfung an den jeweils zuständigen Sachbearbeiter, der sodann die Schriftstücke dem entsprechenden Vorgang zuordnet und die weitere Sachbearbeitung übernimmt. Die Finanzbeamtin S... befasste sich mit dem Schriftstück der Angeklagten etwa zehn Minuten, in denen sie den Text überflog. Da sich nach ihrer Einschätzung das sehr umfangreiche Schreiben nur auf der ersten Seite mit den bezeichneten Steuervorgängen beschäftigte und sie im Übrigen Passagen feststellte, die sie an die Reichsbürgerszene erinnerten, entschied sie, das Schreiben durch die hierfür im Geschäftsverteilungsplan vorgesehene Geschäftsstelle des Finanzamts M... im selben Dienstgebäude prüfen zu lassen. Sie legte das Schreiben in eine speziell für die Übersendung an die Geschäftsstelle vorgesehene Mappe ein, die verschlossen wird. In die Mappe wurde ferner ein Formblatt „Vordruck Reichsbürger“ hinzugefügt, das auf einer internen Verfügung des Landesamts für Steuern zur Behandlung von Vorgängen mit Verdacht auf Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene beruht. Ferner wurde das Schreiben einmal vervielfältigt und dem zuständigen Sachbearbeiter übergeben, damit dieser eine Sachbearbeitung in den bezeichneten Steuervorgängen vornehmen kann. Aufgrund des Inhalts auf Seite 1 des Schreibens wurde dieses als Einspruch gewertet und auch so in den Steuervorgängen weiterbearbeitet.
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In der Geschäftsstelle des Finanzamts M... war als Sachbearbeiterin die Finanzbeamtin G... mit der weiteren Prüfung des Schreibens befasst. Sie sichtete zunächst das Schreiben, wobei sie im Wesentlichen die fettgedruckten Passagen überflog. Da sich nach ihrer Einschätzung Hinweise auf eine Zugehörigkeit der Angeklagten zur Reichsbürgerszene ergaben, besprach sie das Schreiben mit der Finanzbeamtin S..., die als Abteilungsleiterin ihre Vorgesetzte ist. Aufgrund der internen Verfügung des Landesamts für Steuern zu Reichsbürgern entschied die Abteilungsleiterin S..., dass eine Vorlage des Schreibens an die zuständige Kriminalpolizeiinspektion E... zu erfolgen hat. Das Schreiben der Angeklagten wurde daher am 21.10.2021 mit einem Vordruck „Mitteilung Reichsbürger“ dorthin übersandt. Der zuständige Sachbearbeiter bei der Kriminalpolizeiinspektion, Kriminalhauptkommissar F..., legte das Schreiben am 22.11.2021 an die Staatsanwaltschaft M... II zur Prüfung vor. Schließlich kam es zur Anklageerhebung und zur öffentlichen Hauptverhandlung am 08.08.2023 und am 10.08.2023, in der das Schreiben im Selbstleseverfahren gemäß § 249 Abs. 2 StPO eingeführt wurde.
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Die Angeklagte ging bei der Einreichung ihres Schreibens davon aus, dass es als Einspruch sachbehandelt wird, und daher nur die mit dem Steuervorgang befassten Personen, insbesondere der jeweilige Sachbearbeiter sowie gegebenenfalls ein Vertreter und möglicherweise Vorgesetzte, eine inhaltliche Auseinandersetzung vornehmen können. Dabei zielte sie darauf ab, durch den Umfang ihrer Ausführungen die Sachbearbeitung zu erschweren und vermeintliche oder tatsächliche Fehler bei der Verbescheidung zu bewirken, wobei sie damit rechnete, dass das Schreiben nicht in seinem vollständigen Wortlaut zur Kenntnis genommen und nur kursorisch geprüft werden würde. Mit der Weitergabe des Schreibens an einen größeren Mitarbeiterkreis innerhalb des Finanzamts oder an Personen außerhalb der Behörde – gegebenenfalls abgesehen von weiteren Prüfungen durch Finanz- oder Strafverfolgungsorganen – rechnete sie nicht und zielte darauf auch nicht ab.
2. Inhalt des Schreibens:
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Das insgesamt 339 Seiten umfassende Schreiben der Angeklagten vom 07.10.2021 an das Finanzamt M..., K... Straße 4 in 8... M... wird zunächst mit der allgemeinen Höflichkeitsfloskel „Sehr geehrte Damen und Herren“ eröffnet. Sodann führt die Angeklagte aus, „dass die drei Bescheide vom 02.09.2021 (..., ...,...) weder sachliche noch rechtliche Berechtigung hätten“.
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Im weiteren Verlauf rügt die Angeklagte auf Seite 1, dass der Ablauf der gesetzten Frist nicht abgewartet und die „Bescheide“ vielmehr bereits Wochen vorher verschickt worden wären. Ferner führt sie auf Seite 1 des Schreibens aus, dass „der Wert der Immobilien zu hoch angesetzt“ sei.
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Im Anschluss schreibt die Angeklagte:
„Ich kann es aus folgenden Gründen mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, widerspruchslos Steuern zu zahlen.
1. Die Steuern werden nicht zum Nutzen und Wohle der Allgemeinheit verwendet, wofür sie bestimmt sind, sondern zu ihrem substanziellen existenziellen Schaden.
2. Die Steuervorschriften, auf die Sie sich berufen, haben keine rechtliche Gültigkeit.
Zur Begründung sind jeweils eine ganze Reihe von Sachverhalten zu nennen.
Möglicherweise sind Sie versucht, meine Begründung gelesen oder ungelesen abzutun, aber Sie sollen wenigstens die Möglichkeit haben, zu ermessen, was das aktuelle Geschehen tatsächlich bedeutet, welche Hintergründe es hat und welche Folgen sich für die Allgemeinheit und damit auch für Sie ergeben.“
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Sodann folgen von Seite 1 unten bis Seite 22 unter der Überschrift „Zu Ziffer 1“ Ausführungen zu Corona-Maßnahmen und zur Corona-Impfung. Auf Seite 22 leitet die Angeklagte unter der Überschrift „Zu Ziffer 2“ dazu über, dass die Vorschriften, auf denen die steuerlichen Bescheide beruhen, keine rechtliche Gültigkeit hätten. Auf Seite 24 verweist die Angeklagte zur ausführlichen Begründung zu Ziffer 2 auf die Seiten 217 ff, 285 ff.
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Auf Seite 25 folgt dann folgendes Inhaltsverzeichnis über den restlichen Teil des Schreibens:
„Inhaltsverzeichnis:
Vorwort und Überblick Seite 26
Kritiker und Dissidenten werden bezeichnet als ”Holocaustleugner“, ”Volksverhetzer“,”Rassisten“, ”linke“ oder ”rechte“, weiße oder schwarze, christliche oder muslimische „Antisemiten“ und wegen Wortäußerungen strafverfolgt. Genauer: Wegen Notrufen.
Die wirklichen Perspektiven von ”Migrationspolitik“, ”Globalisierung“ und ”Digitalisierung“.
I. Die jahrzehntelangen Maßnahmen zur Verhinderung und Unterdrückung von Widerspruch.
Straf-, staats- und völkerrechtliches Gutachten Seite 36
A. Verfolgung sogenannter ”Holocaustleugner“ Seite 36
Fazit (Grundlegende Rechtsbrüche und Unbestimmtheit des ”Leugnungsgegenstands“) Seite 36
1. Unbestimmtheit des Tatbestands Seite 43
2. Unbestimmtheit der Anklage Seite 63
3. Unbestimmtheit in den Strafurteilen gegen ”Holocaustleugner“ Seite 67 (hier: Zur Verfahrensweise bei ”N... Prozessen“ und ”F... Auschwitz-Prozeß“)
4. Die Rechtswidrigkeit der Strafverfolgung zieht sich durch alle Instanzen Seite 80
B. Verfolgung von ”Antisemiten“, ”Rassisten“, ”Volksverhetzern“, ”Nazis“, ”Reichsbürgern“ Seite 89
Die tatsächlichen Verhältnisse in Deutschland, ihre Hintergründe und drohenden Folgen. Zur staats- und völkerrechtlichen Situation. Bezüge zu Europa und der Welt.
Einleitung Seite 89
Mit dem Verbot spezieller Wortäußerungen werden die Deutschen daran gehindert, ihre existenziellen Interessen zu vertreten und sich gegen Beschuldigung, Verdrängung und allmähliche Auslöschung ihres Volkes zu wehren.
1. Die ”Migrationspolitik“ von B... und R... als Teil der maskierten Fortsetzung der Kriegshandlungen gegen das Deutsche Volk, im Rahmen der verkleideten Kriegsführung von U... und E... gegen die europäischen Völker Seite 93
a) Inhalt und Bedeutung der ”Migrationspolitik“ Seite 93
b) Entstehungsfaktoren der Flüchtlings- bzw. Migrantenströme Seite 111
c) ”Narrativ“, Zensur und ”Gefährder“ der völkerschluckenden ”Neuen Weltordnung „und die lnstrumentalisierung des europäischen ”11. September“ Seite 123
d) Keine Lösung für Europa oder gegen Weltarmut, aber in ”internationalem“ Interesse Seite 149
e) Das U...-System mit E..., N..., W...bank, Nichtregierungsorganisationen, Israel,”Erklärung der Menschenrechte“ und ”Entwicklungshilfe“ Seite 159
f) Migration und ”CO₂ -Klimawandel“ Seite 186
g) Keine Pflicht, sich zerstören zu lassen Seite 214
3. Dem Deutschen Volk wird Freiheit und Souveränität vorgegaukelt und gleichzeitig eine unablässige völkerrechtswidrige Intervention zugefügt Seite 217
”Verbotene“ Aussagen und Standpunkte. Definition von Intervention: S. 218 und 258
4. Bestreben der ”Siegermächte“ des 2. Weltkriegs Seite 265
5. Zum Prinzip Fremdherrschaft und Z...bank Seite 284
II. Der Handykrieg – Verheerende Zwangs-Funkbestrahlung im Zuge der ”Digitalisierung“ Seite Ill. Warnung vor Irreführung Seite 326
IV. Die Bestimmung des Deutschen Reichs Seite 334
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Auf den Seiten 36 bis 89 des Schreibens befasst sich die Angeklagte in dem Kapitel „Verfolgung sogenannter „Holocaustleugner““ mit der in ihren Augen vorliegenden Unbestimmtheit der gesetzlichen Bestimmungen zur Strafbarkeit der Leugnung von durch die Nationalsozialisten begangenen Völkerverbrechen. Hierbei stellt die Angeklagte den geschichtlich anerkannten Holocaust mehrere Male in Abrede. Unter anderem äußert sich die Angeklagte auf Seite 36 folgendermaßen:
„Die Anklage wegen „Holocaustleugnung“ ist unbestimmt. Es ist unbestimmt und daher nicht beurteilbar, welche konkreten Handlungen und Sachverhalte mit dem Begriff „Holocaust“ bzw. „Völkermord“ gemeint, umfasst und betroffen seien: welche Maßnahmen, an welchen Orten, mit welchen Mitteln, mit welchen Folgen. Nachdem schon die Strafvorschriften keine konkreten Bestimmungen des „Holocaust“ enthalten, ist unklar, was konkret „geleugnet“ worden sei. Es ist mit dem Begriff Recht unvereinbar, in der Anklage eine Äußerung wiederzugeben und – ohne Abgleich mit einem konkret und verbindlich bestimmten „Leugnungsgegenstand“ – davon auszugehen, dass es sich gleichsam selbstverständlich automatisch um eine „Leugnung“ handele. Es wird wegen „Leugnen“ strafverfolgt, ohne dass bestimmt ist, wie die Wahrheit sei.
Es wird nach Belieben entschieden, welche Aussagen bestraft werden sollen.
Die ”tageszeitung“ berichtete über den Strafprozeß gegen den sog. ”Holocaustleugner“ Ernst Zündel vor dem LG Mannheim: ”Zuletzt lehnte das Gericht alle Anträge mit der lapidaren – und für einige Antifaschisten im Publikum schockierenden Begründung ab, daß es völlig unerheblich sei, ob der Holocaust stattgefunden habe oder nicht. Seine Leugnung stehe in Deutschland unter Strafe. Und nur das zähle vor Gericht.“ (”taz“, Berlin, vom 9.2.2007, S. 6).
Der „erlaubte“ Forschungsstand über den ”Holocaust“ ist nicht bestimmt. Auch ist nicht bestimmt, welche Gegenstände und Aussagen als gültige Beweise anerkannt werden und welche nicht. Daher kann weder ersehen, noch beurteilt, noch geprüft werden, ob, inwiefern und inwieweit beispielsweise die folgenden Äußerungen von Historikern dem ”erlaubten“ Forschungs- und Beweisstand widersprechen oder nicht:
J... B... äußerte, man könne für das Vorhandensein von ”Nazi-Gaskammern“ nur das ”Fehlen von Dokumenten, Spuren und sonstiger materieller Beweise“ feststellen. Le Nouveau Quotidien de Lausanne, Schweiz, 2. September 1996, Seite 16, 3. September 1996, Seite 14.
”Die Zeugenaussagen beruhen zum weitaus größten Teil auf Hörensagen und bloßen Vermutungen; die Berichte der wenigen Augenzeugen widersprechen einander zum Teil und erwecken Zweifel hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit.“ E... N... hinsichtlich ”Holocaust“, ”Der kausale Nexus“, Herbig, München 2002, Seite 96 f.
Die Akte der Geschichte des Systems der deutschen Konzentrationslager, sei ”faul“, sei ”durchsetzt“ von einer Unmenge von frei erfundenen Geschichten, sturen Wiederholungen von Unwahrheiten… von Vermengungen und Verallgemeinerungen“. M... de B... (Geschichtsprofessor und Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität C..., N...), Ouest-France vom 2.-3. August 1986, Seite 6.“
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Im weiteren Verlauf führt die Angeklagte auf Seite 37 zudem an:
„Ohne Bestimmung des Leugnungsgegenstands kann ein „Leugnen“ nicht festgestellt werden. Erstens ist nicht beurteilbar, welche konkreten Handlungen und Sachverhalte mit dem Begriff „Holocaust“ gemeint, umfasst und betroffen seien. Es kann nicht beurteilt werden, was geleugnet worden sei. […]“
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Diese Formulierungen werden auf den Seiten 36 bis 89 stupide, teils wörtlich, aber auch unter leichter Abänderung in der Wortwahl wiederholt, ebenso wie die Behauptung, der Tatbestand der Leugnung des Völkermordes an Juden sowie eine darauf basierende Anklage seien unbestimmt.
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Weiterhin tätigt sie auf Seite 52 unter anderem folgende Aussage:
„Der „erlaubte“ Forschungsstand über den „Holocaust“ ist unbestimmt. Es kann weder ersehen, noch beurteilt, noch geprüft werden, […] ob und inwiefern eine mutmaßliche „Leugnungsäußerung“ […] mit dem „erlaubten“ Forschungsstand übereinstimme oder nicht. Daher konnte und kann zum Beispiel weder ersehen, noch beurteilt, noch geprüft werden, ob und inwiefern die Tatsachenbehauptungen des Chemikers G... R... […] mit dem erlaubten Forschungsstand […] übereinstimmen oder nicht. Beispielsweise […] dass laut des Gutachters des […] F...A. E... Jr folgende Sachverhalte vorlägen: „Nach Durchsicht des gesamten Materials und nach Inspektion aller Lokalitäten in A..., B... und M... findet ihr Autor das Beweismaterial überwältigend. Es gab keine Exekutions-Gaskammern an irgendeiner dieser Örtlichkeiten. Es ist die beste Ingenieursmeinung des Autors, daß die angeblichen Gaskammern der inspizierten Orte weder damals Exekutionskammern benutzt worden sein konnten, noch heute als solche benutzt werden oder ernsthaft für solche Funktionen in Betracht gezogen werden können.“ […]".
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Unter dem Kapitel
„B. Verfolgung von „Antisemiten“, „Rassisten“, „Volksverhetzern“, „Nazis“, „Reichsbürgern“ Unterpunkt 1.3. „Dem Deutschen Volk wird Freiheit und Souveränität vorgegaukelt und gleichzeitig eine unablässige völkerrechtswidrige Intervention zugefügt“
führt die Angeklagte ferner auf Seite 246 aus:
„Der Hinweis auf Verbrechen von Immigranten bzw. Ausländern gegenüber Deutschen, wird als ”Haßrede“ bezeichnet und u.U. wegen ”Volksverhetzung“ bestraft.
Tatsache ist, daß von Immigranten bzw. Ausländern viele schwerwiegende Verbrechen begangen werden.
In der ”Jungen Freiheit“ vom 18.8.2015 heißt es: »Die Braunschweiger Polizei hat eine Sonderkommission gegen kriminelle Asylbewerber gegründet. ”Wir müssen die Bevölkerung schützen“, sagte der Leiter der Kriminalpolizei, Ulrich Küch, der Braunschweiger Zeitung. Wegen der steigenden Kriminalität sei das Sicherheitsempfinden vieler Bürger gestört. Konkret geht es laut Küch um Ladendiebstähle, Drogenhandel, Wohnungseinbrüche und Körperverletzungen.«(…)
Nach Ansicht der Gewerkschaft der Polizei (GdP) zeichnet die Kriminalstatistik ein verzerrtes Bild der Kriminalitätsbedrohung. ’Es hat sich seit langem erwiesen, daß diese Statistik nicht das entsprechende Sicherheitsgefühl und das Sicherheitsgeschehen in Gänze wiedergibt“, sagte G...-Chef B... W... laut Medienberichten. ”Diese Statistiken können sehr wohl so manipuliert werden, daß nach außen hin alles gut dasteht.“
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Sodann folgen als Aufzählung von Seite 247 bis Seite 251 Zitate aus Zeitungsberichten über Straftaten.
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Auf Seite 339 endet das Schreiben wie folgt:
„Soweit die ausführliche Begründung.
Vielleicht sind Sie der Meinung, um die Hintergründe Ihrer Tätigkeit, Vorschriften oder Anweisungen bräuchten Sie sich keine Gedanken machen, da dies nicht in Ihren „Zuständigkeitsbereich“ fällt. Vielleicht denken Sie, Sie führen ja ”nur“ Anweisungen aus. Genau das Ist aber der Punkt. Unrecht kann nur geschehen, wenn es von jemandem ausgeführt wird.
Verantwortlich ist auch und gerade der, der es ausführt.
Sie werden früher oder später nicht umhin kommen, dem Problem und Ihrer Verantwortung ins Auge zu blicken. Um eine Welt zu schaffen, in der es Mensch und Tier eine Freude ist zu leben, ist es nötig, zu erkennen, was zu der negativen Entwicklung geführt hat. Es Ist nötig, sich mit Ursachen und Wirkungen, mit Geschichte, kurz mit den Tatsachen zu beschäftigen. Die Wahrheit steht den eigennützigen Plänen gewissenloser Weltverplaner im Weg. Daher wird ihre Äußerung vehement bekämpft und als sogenannte ”Verschwörungstheorie“ oder ”Leugnung“ unterdrückt.
Was sind Sie bereit, für Wahrheit und Recht und ein Leben in Freiheit einzusetzen?
Mit freundlichen Grüßen S... S...“
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Mit den Passagen auf den Seiten 36 bis 89 stellt die Angeklagte bewusst und gewollt den geschichtlich anerkannten Holocaust, nämlich die verbrecherischen Massenermordungen europäischer Juden insbesondere in den Gaskammern der durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 errichteten Konzentrationslager, in Frage, indem sie diesen Völkermord als unbestimmt bezeichnet. Sie stellt die Massenermordungen zudem in Abrede, indem sie sich die Aussagen anderer Holocaustleugnungen zu eigen macht. Ferner diskreditiert sie auf Seite 246 bewusst und gewollt Menschen aus anderen Ländern pauschal als Straftäter und stellt sie gezielt aufgrund ihrer Herkunft in einen vermeintlichen Gegensatz zu deutschen Staatsangehörigen.
E. Beweiswürdigung:
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1. Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und den Sachverhalten der Vorahndungen beruhen auf den verlesenen Urteilen des Landgerichts Mannheim vom 14.01.2008 bzw. vom 08.05.2009 sowie des Landgerichts München II vom 15.02.2018, in denen der oben dargestellte Lebenslauf der Angeklagten rechtskräftig festgestellt wurde. Die Angeklagte machte in der Hauptverhandlung keine Angaben zu den persönlichen Verhältnissen.
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Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 05.06.2023 wurde verlesen.
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2. Die Feststellungen zum Sachverhalt beruhen auf der durchgeführten Beweisaufnahme.
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a) Die Angeklagte hat zunächst in der Hauptverhandlung zum Tatvorwurf keine Angaben gemacht. Sie machte nur eine Äußerung zu einem aus ihrer Sicht falsch in der Anklageschrift wiedergegebenen Wortes. Im letzten Wort bestätigte die Angeklagte ihre Urheberschaft und den Versand des Schreibens und führte aus, dass keine Grundlage für ein Strafverfahren bestehe, da ihr Schreiben ein Einspruchsschreiben gewesen sei, mit dem sie ihren Einspruch gegen die Steuerbescheide ausführlich begründet habe. Aufgrund des steuerrechtlichen Bezugs gelte das Steuergeheimnis und die Verschwiegenheitspflicht.
35
Bereits nach Zustellung der Anklage hatte die Angeklagte innerhalb der Äußerungsfrist mit persönlichem Schreiben vom 05.04.2022, dort unter der Überschrift „Nichtöffentlicher Schriftsatz“, ausgeführt, dass es sich bei dem „Schreiben an das Finanzamt M... um einen Einspruch, einen einzelnen Schriftsatz handelt, der üblicherweise nicht an eine namentlich genannte Person gerichtet wird, sondern wie hier durch das genannte Aktenzeichen an die zuständige Person (mit der gebräuchlichen Floskel „Sehr geehrte Damen und Herren“, da dem Absender der Name der für den Einspruch zuständigen Person üblicherweise nicht bekannt ist)“
36
b) Zur Behandlung des Schreibens der Angeklagten vom 07.10.2021 beim Finanzamt M... äußersten sich die beiden Finanzbeamtinnen S... und G....
37
aa) Die Finanzbeamtin S... ist Sachgebietsleiterin beim Finanzamt M.... Sie gab in der Hauptverhandlung als Zeugin an, dass die im Schreiben der Angeklagten vom 07.10.2021 genannten drei Steuernummern tatsächlich Steuervorgänge der Angeklagten betreffen würden; unter diesen Steuernummern seien am 02.09.2021 drei Bescheide gegen die Angeklagte ergangen. Zu den einzelnen Steuervorgängen könne sie inhaltlich aufgrund des Steuergeheimnisses und entsprechend beschränkter Aussagegenehmigung keine Angaben machen. Sie habe das Schreiben über die Poststelle erhalten. Sie bekomme alle Post zugeleitet über die Poststelle, welche die eingegangenen Schreiben – soweit angegeben nach Aktenzeichen oder Steuernummern – den jeweiligen Sachgebieten zuteilt. Alle Schreiben kämen in einer Postmappe zu ihr, die Akten selbst befänden sich bei den Sachbearbeitern. Sie prüfe die eingegangenen Schreiben dahingehend, ob etwas Besonderes vorliege, und leite sie dann den Sachbearbeitern zu. Sie selbst sei Beamtin, die Mitarbeiter in der Poststelle seien Angestellte im öffentlichen Dienst, die zur Geheimhaltung verpflichtet wurden. Das hier maßgebliche Schreiben habe sie allein schon wegen des Umfangs als auffällig betrachtet. Sie habe das Schreiben zur Prüfung etwa zehn Minuten überflogen. Ihr erster Gedanke sei gewesen, dass es sich bei der Verfasserin des Schreibens um eine Reichsbürgerin handele. Auch sei etwas, das in Richtung Volksverhetzung gehe, im Schreiben gestanden. Sie habe sich insbesondere wegen der Möglichkeit eines Zusammenhangs zur Reichsbürgerszene entschieden, das Schreiben an die Geschäftsstelle der Zentralabteilung innerhalb des Finanzamts, zu geben, die derartige Vorgänge auf weitere Veranlassung prüfe. Hierfür habe sie eine spezielle Mappe, die zur Vorlage an die Geschäftsstelle vorgesehen ist. Diese Mappe sei verschlossen, auch das gegenständliche Schreiben habe sie in eine solche Mappe eingelegt. Ferner müsse das Schreiben einmal vervielfältigt worden sein, da es auch zu den Steuervorgängen genommen worden sei, bei dem es dann weiter als Einspruch behandelt werden konnte. Das Schreiben wurde dann in dieser Mappe an die Poststelle der Zentralabteilung, die sich im selben Dienstgebäude befindet, überbracht. Sie selbst habe nicht mitbekommen, wie es dann weitergegangen sei. Ob über das Schreiben in der Abteilung noch besonders geredet wurde, könne sie nicht sagen; sie habe jedenfalls bei kollegialen Zusammenkünften keine solchen Gespräche wahrgenommen. Sie glaube auch eher nicht, dass das Schreiben zu Diskussionen geführt habe, weil es nicht ungewöhnlich sei, dass im Finanzamt auch sehr auffällige Schreiben eingehen. Nach ihrer Einschätzung dürften das Schreiben der Angeklagten im Finanzamt M... neben ihr noch der Sachbearbeiter und gegebenenfalls ein Vertreter sowie zwei Personen in der Geschäftsstelle in der Hand gehabt haben, außerdem natürlich noch zwei oder drei Poststellenmitarbeiter. Ob diese Poststellenmitarbeiter das Schreiben inhaltlich angeschaut haben, könne sie zwar nicht konkret sagen, aufgrund des Umfangs könne sie sich das aber nur schwer vorstellen, zumal diese ohnehin keine inhaltlichen Prüfpflichten haben und nur mit der Zuordnung befasst seien, die hier anhand der angegebenen Steuernummern auf der ersten Seite sofort möglich gewesen sei.
38
bb) Die Finanzbeamtin G... ist Sachbearbeiterin in der Geschäftsstelle der Zentralabteilung. Sie gab als Zeugin an, dass das Schreiben der Angeklagten im Dienstgebäude K... Straße 4 in M... eingegangen sei. Nachdem das zuständige Sachgebiet jedoch dort nicht angesiedelt sei, sei das Schreiben zunächst an das Dienstgebäude T... straße 3 in 8... H... weitergeleitet worden. Bei dieser Weiterleitung müsse es sich jedoch um ein Versehen gehandelt haben, weil das zuständige Sachgebiet sich auch dort nicht befinde. Sie könne sich das Versehen so erklären, dass die Steuernummern, die dort und in M... zu bearbeiten seien, ähnlich sind und somit immer wieder falsche interne Zuleitungen vorkämen. Aus H... sei das Schreiben durch einen Poststellenmitarbeiter an die zuständige Stelle des Finanzamts M... im Dienstgebäude D... straße 20 in 8... M... gesandt worden. Sie selbst habe das Schreiben über die dortige Sachgebietsleiterin S... zugeleitet bekommen. Das Schreiben sei in einer hierfür vorgesehenen Mappe gewesen. Es habe sich zudem ein Vordruck „Reichsbürgermeldung“ in der Mappe befunden, der intern auf einer Verfügung des Landesamts für Steuern zum Umgang mit Verdachtsfällen betreffend die Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene beruhe. Sie habe das Schreiben dann geprüft und gefiltert. Es sei sehr viel fett gedruckt gewesen, es habe nur einen sehr kleinen inhaltlichen Bezug zu steuerlichen Vorgängen gegeben. Eine echte Erinnerung an das Schreiben habe sie nicht mehr, sie glaube noch zu wissen, dass in einem Bereich irgendetwas in Richtung Volksverhetzung gestanden habe. Sie habe das Schreiben mit ihrer Vorgesetzten, der Abteilungsleiterin S..., besprochen. Diese habe entschieden, dass das Schreiben mit dem Vordruck „Reichsbürgermeldung“ an die zuständige Kriminalpolizeiinspektion E... weitergeleitet werden soll. Die Zeugin G... schätzte, dass sie insgesamt zwei Stunden mit dem gegenständlichen Schreiben beschäftigt gewesen sei, inklusive Prüfung, Besprechung mit der Abteilungsleiterin und Weiterleitung an die Polizei. Nach ihrer Kenntnis der dienstlichen Abläufe dürften das Schreiben insgesamt drei Mitarbeiter der Poststelle bei den jeweiligen Dienstgebäuden sowie die Sachgebietsleiterin S..., der Sachbearbeiter des Steuervorgangs sowie sie und ihre Abteilungsleiterin in der Hand gehabt haben.
39
c) Die Inhalte des Schreibens vom 07.10.2021 wurden im Zuge des Selbstleseverfahrens festgestellt.
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d) Aus dem Zuleitungsschreiben der Kriminalpolizeiinspektion E..., KHK F..., vom 22.11.2021 ergibt sich, dass das Schreiben der Angeklagten an die Staatsanwaltschaft M... II übersandt wurde zur Prüfung, ob der Tatbestand der Volksverhetzung oder andere Straftatbestände erfüllt sind. Der polizeiliche Sachbearbeiter ging dabei nicht von strafbarem Verhalten aus. Die Angeklagte sei hingegen bereits als Reichsbürgerin geführt.
41
3. Im Rahmen der zusammenfassenden Beweiswürdigung kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass die Angeklagte bei Einreichung des Schriftsatzes davon ausging, dass dieser als Einspruch im Rahmen der Steuervorgänge gewertet und daher entsprechend sachbehandelt wird. Von einem weitergehenden, gegebenenfalls auch nur bedingten Vorsatz, dass das Schreiben innerhalb des Finanzamts an eine größere Bedienstetengruppe – über die mit dem Steuervorgang unmittelbar befassten Personen hinaus – weitergereicht oder gar an eine größere Anzahl von Personen außerhalb der Finanz- und gegebenenfalls Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet wird, konnte sich die Kammer nicht überzeugen.
42
a) Der unter D.1. festgestellte Sachverhalt zum Geschehensablauf ergibt sich zur vollen Überzeugung der Kammer aus den glaubhaften Angaben der beiden Zeuginnen S... und G.... Es bestehen keinerlei Zweifel hinsichtlich deren Glaubwürdigkeit; beide Zeuginnen haben ihre Angaben ruhig, sachlich und ohne erkennbaren Belastungseifer gemacht. Damit stand auch zur Überzeugung der Kammer fest, dass das Schreiben der Angeklagten zu existierenden Steuernummern eingereicht wurde und dass in diesen Vorgängen im Vorfeld auch tatsächlich Bescheide ergangen sind.
43
b) Zur subjektiven Vorstellung der Angeklagten, was mit dem Schreiben geschehen wird, hat die Kammer insbesondere die folgenden Umstände berücksichtigt und zusammenfassend gewürdigt:
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aa) Im letzten Wort, mithin am Ende der Hauptverhandlung, wie auch bereits zuvor in ihrer schriftlichen Äußerung vom 05.04.2022 nach Zustellung der Anklageschrift gab die Angeklagte an, dass es sich um einen Einspruch gehandelt habe. Im letzten Wort verwies sie auf das aus ihrer Sicht bestehende Steuergeheimnis und die Verschwiegenheitspflicht. Weitergehende Angaben zu dem aus ihrer Sicht erwarteten bzw. vorgestellten weiteren Ablauf erfolgten nicht.
45
bb) Die Kammer hat in ihrer Würdigung auch die Persönlichkeit der Angeklagten berücksichtigt. Diese ist bereits zweifach rechtskräftig wegen Volksverhetzung aufgrund von den Holocaust leugnender Äußerungen vorverurteilt. Sie hat bei diesen Vorfällen gezeigt, dass sie inkriminierte Inhalte öffentlich zu äußern bereit ist, zumal die letzte Vorverurteilung eine öffentliche Rede vor mindestens 680 Personen betraf. Obwohl ihr aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer persönlichen Erfahrungen eine mögliche Strafbarkeit derartiger Äußerungen bekannt war und ist, hatte sie in der Vergangenheit jeweils eine öffentliche Bühne gesucht, um eine erhöhte Öffentlichkeitswirksamkeit unmittelbar oder über eine mediale Folgeverbreitung zu generieren. Das gegenständliche Schreiben an das Finanzamt steht zu dieser Attitüde in klarem Widerspruch. Eine öffentliche Plattform oder eine sonstige Öffentlichkeitswirksamkeit waren bereits objektiv strukturell nicht zu erwarten; wollte die Angeklagte eine solche mit den gegenständlichen Inhalten erreichen, hätte sie andere Möglichkeiten zur – gegebenenfalls medialen – Veröffentlichung gehabt, zumal sich das Schreiben auch inhaltlich teilweise als Zusammenstellung früherer Texte (“Gutachten“) und Zitatsammlungen darstellt, die ersichtlich schon in anderem Zusammenhang kreiert worden waren und nicht speziell für das gegenständliche Schreiben neu verfasst wurden. Angesichts der verfestigten Gedanken-, Kriminalitäts- und Persönlichkeitsstruktur der Angeklagten, die sich nun auch als Angehörige der Reichsbürgerszene darstellt, die im Kern den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und die Legitimität der staatlichen Strukturen leugnet, liegt vielmehr nahe, dass sie mit den inkriminierten und – in noch weitaus größerem Umfang – sonstigen Textteilen primär eine umfangreiche Beschäftigung für den Sachbearbeiter generieren und so den Dienstbetrieb erschweren und beeinträchtigen wollte.
46
cc) Weiterhin hat die Kammer in den Blick genommen, dass das maßgebliche Schreiben an das Finanzamt M... im Rahmen von konkreten Steuervorgängen gerichtet war. Insofern konnte und musste die Angeklagte grundsätzlich zunächst davon ausgehen, dass gerade in diesem datensensiblen Bereich der Finanzverwaltung, in dem neben der allgemeinen Verschwiegenheitspflicht des Beamten auch das Steuergeheimnis aus § 30 AO gilt, das übersandte Schreiben auch in ihren Steuervorgängen verbleibt und sachbehandelt wird, und dass die bayerischen Finanzbeamten sich an ihre Geheimhaltungspflichten halten werden. Der Angeklagten sind als Juristin und ehemaliger Rechtsanwältin die bestehenden Verschwiegenheitspflichten bekannt, wie sie auch im letzten Wort kundtat.
47
dd) Auch wenn ein Großteil der inkriminierten und sonstigen Textteile sich nicht unmittelbar auf steuerrelavante Sachverhalte beziehen und somit per se nicht dem Schutzbereich des Steuergeheimnisses unterliegen, war das Schreiben ohne eine unnatürliche textanalytische Aufspaltung in seiner Gesamtheit zu würdigen. Zwar befasst sich die Angeklagte in ihrem Schreiben zunächst nur auf Seite 1 mit ihrem Steuerverfahren, indem sie rügt, dass der Wert der Immobilien zu hoch angesetzt sei. Erst auf Seite 22 kommt sie unter der Überschrift „Zu Ziffer 2“ dahingehend auf Seite 1 zurück, dass die Vorschriften, auf denen die steuerlichen Bescheide beruhen, keine Gültigkeit besitzen würden. Schließlich richtet sie am Ende auf Seite 339 noch einmal einen Appell an den Empfänger, vermeintliches Unrecht nicht auszuüben. Gleichwohl sind diese Ausführungen zum Steuervorgang rein vom Umfang her deutlich untergeordnet im Vergleich zu den restlichen Ausführungen. Die sachbezogene Argumentation zum eigentlichen Steuervorgang gerät somit in den Hintergrund, da sie letztlich nur in den ersten Zeilen des Schreibens und später mit punktueller Bezugnahme dorthin vorkommt. Im Übrigen nutzt die Angeklagte die von ihr gewählten Begründungspunkte „Die Steuern werden nicht zum Nutzen und Wohle der Allgemeinheit verwendet, wofür sie bestimmt sind, sondern zu ihrem substanziellen existenziellen Schaden“ und „Die Steuervorschriften, auf die sich berufen, haben keine Gültigkeit“ um ihre Meinungen zu verschiedenen Themen wie die Corona-Politik, die Bestimmtheit des Leugnungstatbestands und Migrationspolitik darzulegen. Allein dieses offenkundige Missverhältnis zwischen einzelfallbezogener Argumentation und den übrigen Erläuterungen führt aber nicht dazu, dass die Einordnung des Schreibens als Einspruch versagt werden könnte, hier wurde das Schreiben auch tatsächlich als Einspruch gewertet. Eine Aufspaltung in einen Teil, der den Einspruch betrifft, und den übrigen Teil, der ohne den generellen Schutz des § 30 AO verbleibt, ist hier objektiv nicht erfolgt und war auch nicht zu erwarten. Angesichts des Umstands, dass die Angeklagte im weitesten Sinne ihr übriges Schreiben noch als Begründung dafür, dass die zugrundeliegenden Vorschriften ungültig seien, verfasste, wäre eine derartige Differenzierung faktisch nicht möglich. Jedenfalls kann nicht unterstellt werden, dass die Angeklagte zumindest bedingt davon ausgegangen ist, dass beim Finanzamt erhebliche Teile ihres Rechtsbehelfs aus dem Schutzbereich des § 30 AO ausgenommen und gerade deshalb an einen größeren Kreis weitergegeben würden, zumal die allgemeine dienstrechtliche Verschwiegenheitsverpflichtung der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst auch für diese Teile gelten würde und bei einem Verstoß jedenfalls disziplinarrechtliche Konsequenzen zu erwarten wären.
48
ee) Die Kammer hat auch den Umfang und die Optik des Schreibens an sich für den Erwartungshorizont der Angeklagten, was mit diesem Schreiben im Geschäftsgang passieren könnte, berücksichtigt. Das Schreiben hat 339 Seiten Text mit einer durchschnittlichen Computerschriftgröße 10 und einem überwiegenden Zeilenabstand von 1,0. Insofern konnte die Angeklagte nicht davon ausgehen, dass im Bereich des Finanzamts M... mehrere Personen vom Inhalt des Schreibens Kenntnis nehmen würden, was angesichts des erforderlichen Zeitbedarfs zum vollständigen Lesen im allgemeinen Behördenablauf nicht möglich wäre. Vor diesem Hintergrund und angesichts der in dem Schreiben auf Seite 1 selbst niedergelegten Zweifel (“Möglicherweise sind Sie versucht, meine Begründung gelesen oder ungelesen abzutun, …“) liegt nahe, dass die Angeklagte tatsächlich nicht davon ausging, dass sich jemand mit ihrer Argumentation inhaltlich auseinandersetzt. Dementsprechend sollte der Umfang ihrer Ausführungen schlicht die Bearbeitung ihrer Steuervorgänge erheblich erschweren, die bei angemessener Sachbearbeitung letztlich darin bestehen musste, aus der Unmenge an unsinnigen Ausführungen durch kursorisches Überfliegen des Schreibens etwaige tatsächlich relevante Ausführungen für die Einspruchsbearbeitung zu extrahieren.
49
ff) Das Schreiben selbst enthält keine Hinweise darauf, dass die Angeklagte auf eine Verbreitung abzielte. Ein expliziter oder mittelbarer Aufruf oder eine entsprechende Bitte der Angeklagten, das Schreiben innerhalb der Behörde oder an andere Personen oder Stellen weiterzugeben, um so mit ihrer Meinung größere Aufmerksamkeit zu erzielen, findet sich in dem Schreiben nicht. Dies lässt sich auch nicht aus der Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren“ entnehmen, da es sich hierbei um eine neutrale Höflichkeitsformel ohne weiteren Aussagegehalt handelt.
50
gg) Zu berücksichtigen war auch der tatsächliche objektive Geschehensablauf, dem für die Vorsatzfrage insoweit Bedeutung zukommt, als sich der Geschäftsgang in Bezug auf das Schreiben im üblichen regulären Rahmen hielt und der Angeklagten solche Abläufe jedenfalls aus ihrer beruflichen Tätigkeit in Grundzügen bekannt sind. Insofern war zu sehen, dass das Schreiben tatsächlich mehrere Personen innerhalb des Finanzamts M... in der Hand gehabt haben und es schließlich zu einer Weiterleitung an die Kriminalpolizeiinspektion sowie im Folgenden an die Justizbehörden gekommen ist. Dadurch konnten einige Personen von dem Schreiben Kenntnis nehmen. Drei dieser Personen waren jedoch Poststellenmitarbeiter, die innerhalb des Finanzamts den Postbetrieb organisieren und hierzu keine inhaltlichen Prüfpflichten haben. Nachdem im Schreiben der Angeklagten bereits in der ersten Zeile die Steuernummern ersichtlich sind, konnte eine schnelle Zuordnung grundsätzlich erfolgen. Damit verblieben im Finanzamt M... mit den Zeuginnen G... und S..., der Abteilungsleiterin S... und dem Sachbearbeiter des Steuervorgangs sowie gegebenenfalls dessen Vertretung fünf Personen, die mit diesem Vorgang inhaltlich befasst waren, wobei die Zeuginnen S... und G... und nach deren Angabe auch die Finanzbeamtin S... nur eine grobe Sichtung des Schreibens durchgeführt haben.
51
hh) Unter zusammenfassender Würdigung sämtlicher Erwägungen konnte sich die Kammer nicht die Überzeugung bilden, dass die Angeklagte darauf abzielte oder auch nur billigend in Kauf nahm, dass das Schreiben innerhalb des Finanzamts M... oder außerhalb der Finanz- und Strafverfolgungsbehörden an einen größeren Personenkreis weitergegeben wird, sodass sich abgesehen von den wenigen unmittelbar zur inhaltlichen Prüfung berufenen Behördenmitarbeitern ein unbestimmter weiterer Personenkreis mit ihren Ausführungen befassen.
F. Rechtliche Würdigung:
52
Die Angeklagte hat mit dem hier maßgeblichen Schreiben den Holocaust geleugnet und ausländische Menschen pauschal herabgewürdigt. Es fehlt aber an einer Tathandlung im Sinne von § 130 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 StGB in der von 22.09.2021 bis 08.12.2022 geltenden Fassung (§ 2 StGB).
53
1. Durch das Schreiben der Angeklagten soll der NS-Völkermord geleugnet werden, was durch § 130 Abs. 3 StGB unter Strafe gestellt ist. Der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Völkermord an den europäischen Juden ist eine historische Tatsache, die offenkundig ist und deshalb auch keiner Beweiserhebung bedarf (vgl. etwa BVerfG Beschluss vom 9.6.1992 – 1 BvR 824/90, NJW 1993, 916, 917). Diesen wahren Sachverhalt leugnete die Angeklagte, indem sie den Holocaust, also den Völkermord an Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Abrede stellte. Dem steht auch nicht entgegen, dass die Angeklagte vorgibt, die Unbestimmtheit der Strafvorschriften und entsprechender Anklagen angreifen zu wollen, da § 130 Abs. 3 StGB an „eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art“ anknüpft, die offenkundig stattgefunden hat. Die Angeklagte bezeichnet zum einen selbst den Holocaust als „unbestimmten Forschungsgegenstand“. Zum anderen macht sie sich die Tatsachenbehauptungen anderer, so etwa des angeblichen Chemikers G... R... zu eigen. Denn die Zitate des G... R... beinhalten allesamt ebenfalls erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, nämlich dass es keine Anhaltspunkte für die Massentötungen durch Gaskammern in A..., B... oder M... gegeben habe. Indem die Angeklagte vorgibt, aufgrund der vermeintlichen Unbestimmtheit des Forschungstatbestands „Holocaust“ nicht beurteilen zu können, ob diese unwahren Tatsachenbehauptungen stimmen oder nicht, will sie in Wirklichkeit deren offensichtliche Unrichtigkeit bestreiten. Bei dieser Würdigung ist dem Umstand Rechnung getragen, dass es sich bei der Leugnung des Holocaust nach § 130 Abs. 3 StGB um ein persönliches Äußerungsdelikt handelt und die Wiedergabe fremder Äußerungen nur dann tatbestandsmäßig ist, wenn sich der Täter die Äußerung ausdrücklich oder konkludent derart zu eigen macht, dass er selbst leugnet (BGH, Beschluss vom 17.10.2017 – 3 StR 109/17, NStZ 2018, 589, 590). Die Angeklagte stellt nicht nur die Offenkundigkeit des Sachverhalts als solche in Frage, sondern leugnet den offenkundigen Sachverhalt selbst. Denn dass auch solche verklausulierten Formulierungen von § 130 Abs. 3 StGB erfasst sein sollen, ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift und folgt nicht zuletzt aus der ratio der Norm, da andernfalls das Ziel, insbesondere die „Auschwitzlüge“ zu unterbinden, aufgrund der Vielzahl semantischer Möglichkeiten nicht zu erreichen wäre. Bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen sind insoweit dem Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung entzogen, selbst wenn diese auf Schlussfolgerungen oder Bewertungen gestützt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.6.1982 – 1 BvR 1376/79). Die Angeklagte beschränkt sich mit ihrem Schreiben gerade nicht auf eine reine Schilderung von Ereignissen oder rechtstheoretische Ausführungen, sondern gibt im Gesamtzusammenhang klar zu erkennen, dass es den Völkermord an Juden angeblich nicht gegeben habe.
54
2. Eine Tathandlung nach § 130 Abs. 3 StGB liegt nicht vor. Die Angeklagte hat mit ihrem Schreiben den Holocaust weder öffentlich noch in einer Versammlung geleugnet. Die Tathandlung geschieht öffentlich, wenn sie unabhängig von der Öffentlichkeit des fraglichen Orts von einem größeren, nach Zahl und Individualität unbestimmten oder durch nähere Beziehung nicht verbundenen Personenkreis unmittelbar wahrgenommen werden kann (MüKo StGB, Schäfer/Anstotz, § 130 Rn. 33). Hierzu zählen beispielsweise Fälle, in denen der inkriminierte Inhalt nach § 130 Abs. 3 StGB in Fernseh- oder Rundfunkausstrahlungen, über das Internet oder etwa in einer Hauptverhandlung kundgetan werden, sodass potenziell eine unbestimmte Menge von Dritten den Inhalt wahrnehmen können. Es ist also nicht notwendig, dass sich der Täter selbst im Moment der Kundgabe an einem öffentlichen Ort befindet. Ausreichend ist, dass die Möglichkeit der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit im Moment der Kundgabe besteht. Vorliegend richtete sich das gegenständliche individuelle Schreiben der Angeklagten an das Finanzamt M... Eine unmittelbare Wahrnehmung durch eine größere Anzahl von Personen scheidet damit aus. Eine Versammlung liegt ohnehin nicht vor.
55
3. Auch fehlt es an einem Verbreiten im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3, Abs. 5 StGB, da zumindest der hierfür erforderliche subjektive Komponente der Angeklagten nicht zur Überzeugung der Kammer bestand.
56
Einen verschrifteten Inhalt verbreitet, wer die Schrift ihrer Substanz nach einem größeren Personenkreis zugänglich macht, wobei dieser nach Zahl und Individualität unbestimmt oder jedenfalls so groß sein muss, dass er für den Täter nicht mehr kontrollierbar ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH Urt. v. 24.3.1999 – 3 StR 240/98, NJW 1999, 1979,1980 mwN). Eines Verbreitungserfolgs in dem Sinne, dass ein größerer Personenkreis tatsächlich von der Schrift Kenntnis genommen haben muss oder diese zumindest erlangt hat, bedarf es dabei nicht. § 130 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5 StGB ist kein Erfolgs-, sondern ein Tätigkeitsdelikt. Verbreiten ist daher die Verbreitungstätigkeit an sich, also auch schon das Auf-den Weg-Bringen der Schrift als erster Verbreitungsakt. In den Fällen der sogenannten Mengenverbreitung ist ein vollendetes Verbreiten dementsprechend bereits dann anzunehmen, wenn der Täter das erste Exemplar einer Mehrzahl von ihm zur Verbreitung bestimmter Schriften an einen einzelnen Bezieher abgegeben hat (BGH Urt. v. 24.3.1999 – 3 StR 240/98, NJW 1999, 1979,1980 mwN). In der Fallgruppe der Kettenverbreitung ist das Tatbestandsmerkmal mit der Weitergabe der Schrift an einen einzelnen Empfänger schon dann erfüllt, wenn diese seitens des Täters mit dem Willen geschieht, dass der Empfänger die Schrift durch körperliche Weitergabe einem größeren Personenkreis zugänglich machen werde, oder wenn der Täter mit der Weitergabe an eine größere, nicht mehr zu kontrollierende Zahl von Personen rechnet (BGH NStZ-RR 2017, 205).
57
Entscheidend ist nicht, aus wie vielen Personen der Personenkreis besteht, dem die Schrift zugänglich gemacht wird, sondern dass der Täter diesen Personenkreis in Bezug auf eine Weitergabe der Schrift nicht kontrollieren kann, also wenn mit der Weitergabe an andere Personen zu rechnen ist (vgl. BayObLG NStZ 1996, 436, 437). Verbreiten erfordert dabei eine gewisse Streuung, mithin eine nicht ganz kleine Zahl von Empfängern und wenige individuell bestimmte Empfänger (MüKoStGB/Hörnle, 4. Aufl. 2021, StGB § 184b Rn. 21-23).
58
Hier liegt die Konstellation einer Kettenverbreitung vor, da es um die mögliche Weitergabe des einzelnen inkriminierten Schreibens der Angeklagten ging. Insoweit ist entscheidend, ob die Angeklagte bei Einreichung ihres Schreibens mit der Weitergabe an eine größere, nicht mehr zu kontrollierende Zahl von Personen gerechnet hat, somit dies von ihrem Vorsatz umfasst war. Dabei ist umstritten, ob es bezüglich dieser subjektiven Komponente einer Absicht bedarf oder ob auch eine andere Vorsatzart ausreichen kann (ausdrücklich offen gelassen BGH NStZ-RR 2017, 205). Insoweit muss aber zumindest der im Zeitpunkt der Übergabe der Schrift erforderliche Vorsatz des Täters mit Blick auf den weiteren Kausalverlauf präzisiert werden.
59
Die Frage, ob auch dolus eventualis ausreichend ist, kann hier dahinstehen, da nach den getroffenen Feststellungen die Angeklagte nicht einmal billigend in Kauf genommen hat, dass sie das maßgebliche Schreiben einem größeren Personenkreis zugänglich macht, der nach Zahl und Individualität unbestimmt oder jedenfalls so groß war, dass er für sie nicht mehr kontrollierbar ist. Sie ging vielmehr davon aus, dass das Schreiben nur zu den Steuervorgängen genommen und in diesen auch nur von den mit der Sachbearbeitung betrauten berechtigten Personen gelesen werden kann. Dieser Personenkreis ist jedoch nicht nach Zahl und Individualität unbestimmt. Zwar kennt die Angeklagte diese Personen nicht persönlich, gleichwohl ist der Personenkreis durch die Zugriffsberechtigung auf die Steuervorgänge der Angeklagten hinreichend individualisiert und auch zahlenmäßig aufgrund der behördlichen Zuständigkeits- und Geschäftsverteilung begrenzt. Die Weitergabe an einzelne bestimmte Dritte allein vermag das Merkmal des Verbreitens jedoch nicht zu erfüllen, wenn – wie hier – nicht feststeht, dass der Dritte seinerseits die Schrift an weitere Personen überlassen wird. Entscheidend ist, ob die Schrift, nicht etwa bloß ihr geistiger Inhalt, so vielen Personen zugänglich gemacht wird, dass es sich bei den Empfängern um einen für den Täter nicht mehr kontrollierbaren Personenkreis handelt (vgl. dazu BGHSt 13, 257, 258). Insofern würde es auch nicht ausreichen, wenn die Angeklagte billigend davon ausging, dass über den Inhalt des Schreibens innerhalb der Behörde weiter diskutiert wird, da aufgrund des Körperlichkeitsprinzips maßgeblich allein die Zugänglichmachung des Schreibens an sich ist.
60
4. Soweit die Angeklagte in Betracht zog, dass beim Finanzamt neben der Sachbearbeitung in den Steuervorgängen eine interne Prüfung, ob weitere Maßnahmen zu erfolgen haben, stattfinden wird, und dass das Schreiben möglicherweise zur Prüfung auch an die Ermittlungsbehörden und gegebenenfalls in der Folge an ein Strafgericht weitergeleitet wird handelt es sich aufgrund der bestehenden Zuständigkeiten in einem Behördenapparat ebenfalls um einen eng begrenzten Personenkreis, bei dem es sich noch nicht um einen größeren handelt, wie auch der tatsächliche Geschehensablauf zeigt, und der letztlich auch aufgrund der Verschwiegenheitspflichten nicht unkontrollierbar ist.
61
Eine Strafbarkeit würde aber auch deshalb ausscheiden, weil es insoweit ausnahmsweise an einer Geeignetheit zur Störung des öffentlichen Friedens im Sinne des § 130 Abs. 3, Abs. 5 StGB fehlt. Gestört ist der öffentliche Frieden unter anderem dann, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird (BGHSt NJW 2001, 624), die Äußerungen „auf die Betroffenen als Ausdruck unerträglicher Missachtung wirkt” (BT-Dr 9/2090, S. 7). Dabei kommt es nicht darauf an, ob nachgewiesen ist, dass der öffentliche Friede tatsächlich gestört wurde. Es genügt vielmehr die konkrete Eignung der Tathandlung zur Störung des öffentlichen Friedens. Mit der Eignungsformel wird die Volksverhetzung zu einem abstrakt-konkreten Gefährdungsdelikt. Für die Eignung zur Friedensstörung ist deshalb zwar der Eintritt einer konkreten Gefahr nicht erforderlich. Vom Tatrichter verlangt wird aber die Prüfung, ob die jeweilige Handlung bei genereller Betrachtung gefahrengeeignet ist (BGH NJW 2001, 624).
62
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist davon auszugehen, dass das Tatbestandsmerkmal der Leugnung eine tatbestandsmäßige Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens indiziert (BVerfG NJW 2018, 2858, 2860). Eigenständige Bedeutung soll die „Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“ nur in atypischen Situationen haben, wenn diese Vermutung auf Grund besonderer Umstände nicht trägt. Bei dem öffentlichen Frieden handelt es sich insoweit nicht um ein strafbegründendes Tatbestandsmerkmal, sondern um eine „Wertungsformel zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle”, die erlauben soll, auch grundrechtlichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen.
63
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe liegt unter Würdigung der Gesamtumstände ein atypischer Einzelfall vor. Insofern war zu berücksichtigen, dass das Schreiben im Rahmen eines Einspruchs an das Finanzamt als äußerst datensensible Behörde gesandt wurde. Die inkriminierten Äußerungen betreffen auch nur einen Teilbereich des 339-seitigen Schreibens, nämlich die Seiten 36 bis 89, ohne dass diesem Teil innerhalb des Schreibens eine besonders hervorgehobene Bedeutung zukommt. Sämtliche mögliche Personen, die das Schreiben potenziell in die Hand bekommen konnten, unterliegen der Verschwiegenheitspflicht. Eine irgendwie geartete Tiefen- oder Breitenwirkung des Schreibens war mithin nicht zu erwarten, da die Behördenangehörigen regelmäßig professionell damit umgehen und, wie der Geschehensablauf zeigt, auch tatsächlich umgegangen sind. Sowohl die Zeugin S... als auch die Zeugin G... berichteten über den professionell-distanzierten Umgang mit dem Schreiben, das keinerlei relevante Auswirkung auf die Behörde und ihre Mitarbeiter hatte, zumal im Vordergrund ohnehin die Problematik „Reichsbürger“ stand. Auch war aufgrund der bestehenden Verschwiegenheitspflichten klar, dass das Schreiben zunächst innerhalb des Finanzamts nur durch einen kleinen Mitarbeiterkreis gelesen werden kann, der durch die Geschäftsverteilung vorbestimmt ist. Bei den Strafverfolgungsbehörden lagen ebenfalls eng umrissene Zuständigkeiten und eine an der reinen Strafbarkeitsprüfung orientierte Datensensibilität und Verschwiegenheitspflichten vor.
64
Die Kammer verkennt dabei nicht, dass es letztlich zu einer öffentlichen Hauptverhandlung gekommen ist, in der die Äußerungen der Angeklagten Gegenstand waren. Hierdurch ist aber der atypische Einzelfall, in dem eine Gefährdung des öffentlichen Friedens bis dahin ausgeschlossen ist, nicht relativiert. Unabhängig davon, dass es in der Hauptverhandlung nicht zur öffentlichen Verlesung des Schreibens kam und dies mit Blick auf dessen Umfang und die Möglichkeiten des § 249 Abs. 2 StPO (Selbstleseverfahren) auch nicht zu erwarten war, ist auch die Struktur des Strafprozesses zu berücksichtigen: Im Fall einer Anklageerhebung wird erst mit dem Eröffnungsbeschluss, dem bereits eine abschließende Beratung über die überwiegende Verurteilungswahrscheinlichkeit zugrunde liegen muss, über die Durchführung einer Hauptverhandlung entschieden. Insofern kann das Argument einer (möglicherweise) anstehenden Hauptverhandlung zu einem Zeitpunkt, in dem diese Frage gerade noch ergebnisoffen ist, nicht strafbarkeitsbegründend sein. Dies gilt umso mehr, als die übrigen Umstände hier gerade nicht darauf hindeuten, dass die Angeklagte ihre schriftlichen Ausführungen in eine strafgerichtliche Hauptverhandlung transportieren wollte oder auch nur damit ernsthaft mit einer solchen gerechnet hat.
65
Trotz der nachfolgenden öffentlichen Hauptverhandlung ist mithin aufgrund des nur kleinen Kreises mit Leseberechtigung, der bestehenden Verschwiegenheitspflichten und der Würdigung des Schreibens in seiner Gesamtheit ausnahmsweise auch die Vermutung der Geeignetheit zur Friedensstörung widerlegt.
66
5. Weitere mögliche Tathandlungen des § 130 Abs. 2 StGB sind vorliegend nicht ersichtlich. Weder wurde das Schreiben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht noch einer Person unter 18 Jahren angeboten, überlassen oder zugänglich gemacht. Auch eine Herstellung im Sinne von § 130 Abs. 2 Nr. 2 StGB liegt nicht vor, da das Schreiben als Inhalt im Sinne von § 11 Abs. 3 StGB nicht hergestellt wurde, um dieses zu verbreiten oder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
67
6. Ein Versuch gemäß § 130 Abs. 6 StGB ist nicht gegeben, da die Angeklagte keinen Tatentschluss gehabt hat, das Schreiben zu verbreiten.
68
7. Schließlich ergibt sich auch keine Strafbarkeit, soweit die Angeklagte auf Seite 246 ausgeführt hat, dass Tatsache sei, dass von Immigranten bzw. Ausländern viele schwerwiegende Verbrechen begangen werden.
69
Inhaltlich sind die Äußerungen im Sinne von § 130 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 c) StGB inkriminiert.
70
Die Tathandlung des Verbreitens gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1 c) StGB liegt jedoch auch unter diesem Gesichtspunkt nicht vor.
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Für eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB fehlt es an der Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören. Vorausgesetzt ist die konkrete Eignung der Äußerung zur Störung des öffentlichen Friedens, was weder den Eintritt einer Friedensstörung noch auch nur eine konkrete Gefährdung voraussetzt (BGH NJW 2001, 624, 621). Kriterien für die vorzunehmende Eignungsprüfung und die damit durchzuführende Gesamtwürdigung sind zunächst der Inhalt sowie die Intensität des Angriffs. Konkrete Tatumstände müssen bei genereller Betrachtung zu der Befürchtung Anlass geben, dass das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit durch die Äußerung erschüttert werde, wofür es hinreicht, dass eine Vertrauenserschütterung innerhalb der Bevölkerungsgruppe zu befürchten ist, gegen die sich die Hetze wendet oder dass in empfänglichen Kreisen die Neigung zu Rechtsbrüchen gegen die angegriffene Gruppe geweckt oder verstärkt werden könnte (OLG Stuttgart NStZ 2010, 453, 455). Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens muss auch tatbestandlichen Äußerungen zukommen, die sich gegen ausländische Gruppen bzw. Gruppenmitglieder richten (OLG Karlsruhe BeckRS 2018, 22244). Bei der erforderlichen umfassenden Würdigung aller relevanten Umstände ist daneben zum Beispiel aber auch die Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für die betreffenden Angriffe von Belang. Zu beachten ist gegebenenfalls auch das Vorhandensein offener oder latenter Gewaltpotentiale.
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Bei Anwendung dieser Grundsätze drängt sich – zumal unter den derzeitigen Umständen bei einer zunehmenden Hetze gegen Ausländer – die konkrete Eignung zur Friedensstörung bei solchen inkriminierten Äußerungen zwar regelmäßig auf. Gleichwohl war hier aber zu sehen, dass die Äußerung der Angeklagten im Rahmen eines Einspruchsschreibens an das Finanzamt auf Seite 246 erfolgt ist. Insofern ist die Äußerung nur eine von vielen, die in dem gesamten Umfang des Schreibens auch unter Berücksichtigung der Fallaufzählung auf den folgenden Seiten keine herausgehobene Bedeutung zukommt und aufgrund des Gesamtumfangs auch überlesen werden kann, wenngleich nicht unberücksichtigt bleibt, dass sie in einem ausländerfeindlichen Gesamtkontext getätigt wurde. Ferner waren wiederum die hohe Datensensibilität der Finanzbehörden und die Verschwiegenheitspflicht zu berücksichtigen, außerdem der Umstand, dass im Kontext bayerischer Behörden samt ihrer Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst weder empfängliche Kreise für Rechtsbrüche vorliegen noch erwartbar war, dass die Äußerung an die Öffentlichkeit gelangt. Eine Erschütterung des Vertrauens innerhalb der angesprochenen Bevölkerungsgruppe stand damit bereits im Ansatz nicht zu besorgen. Vielmehr wurde innerhalb des Finanzamts erwartbar professionell mit nichtöffentlichen Maßnahmen reagiert und eine interne Prüfung vorgenommen.
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Zusammenfassend bestand hier trotz der inhaltlich inkriminierten Hetze gegen Ausländer und des Gesamtkontextes des Schreibens eine Eignung zur Friedensstörung nicht.
G. Kosten:
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.