Inhalt

LG Regensburg, Beschluss v. 11.05.2023 – 52 T 135/23, 52 T 136/23
Titel:

Einstweilige Anordnung, Ermessensausübung, Begründung der Rechtsbeschwerde, Rechtsbeschwerdegrund, Geplante Abschiebung, Durchführbarkeit der Abschiebung, Abschiebungserschwerung, Abschiebungshaftverfahren, Verfahren der einstweiligen Anordnung, Verfahrensbevollmächtigter, Anschließendes Hauptsacheverfahren, Ausländerbehörde, Persönliche Anhörung, Verfahrenskostenhilfe, Ingewahrsamnahme, Ausreisefrist, Verwaltungsgerichte, Begründung der Beschlüsse, Beschlüsse des Amtsgerichts, Haftantrag

Schlagworte:
Einstweilige Anordnung, Gefahr im Verzug, Ermessensausübung, Verhältnismäßigkeit, Haftdauer, Hauptsacheentscheidung, Kostenentscheidung
Vorinstanz:
AG Kelheim vom -- – XIV 9/23 B
Fundstelle:
BeckRS 2023, 51410

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass sie die Beschlüsse des Amtsgerichts Kelheim vom 16.02.2023 und vom 23.02.2023, Az. XIV 9/23 B, in ihren Rechten verletzt haben.
2. Gerichtskosten (einschließlich Dolmetscherkosten) werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen werden dem Bezirk Niederbayern auferlegt.
3. Der Gegenstandswert der Beschwerdeverfahren wird auf jeweils 2.500 Euro festgesetzt.
4. Der Antrag der Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung des Verfahrensbevollmächtigten für die vorliegenden Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe

A.
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I. Die Betroffene ist georgische Staatsangehörige. Sie reiste erstmals Ende 2021 nach Deutschland ein und stellte am 10.01.2022 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 12.01.2022, zugestellt am 19.01.2022, als unbegründet abgelehnt. Die Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt, der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt; auch ein subsidiärer Schutz wurde nicht zuerkannt, und das Vorliegen von Abschiebungsverboten wurde verneint. Die Betroffene wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung – bzw. im Fall einer Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Verfahrens – zu verlassen. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde der Betroffenen die Abschiebung nach Georgien oder in einen anderen Staat, in den die Betroffene einreisen darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht. Am 20.01.2022 wurde die Betroffene über ihre Mitwirkungspflichten nach dem Aufenthaltsgesetz belehrt. Im dabei geführten sogenannten Ausreisegespräch wurde sie über die Möglichkeiten zur freiwilligen Ausreise aufgeklärt. Dabei gab die Betroffene an, eine freiwillige Ausreise komme für sie nicht in Betracht. Gegen die Entscheidung des BAMF erhob die Betroffene am 25.01.2022 Klage vor dem Verwaltungsgericht Regensburg. Mit Urteil des Verwaltungsgerichts vom 09.06.2022 wurde ihre Klage abgewiesen. Die Entscheidung wurde der Betroffenen am 09.06.2022 zugestellt. Gegen die Entscheidung hat die Betroffene am 05.08.2022 Antrag auf Zulassung der Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gestellt. Der Antrag wurde mit rechtskräftigem Beschluss vom 13.07.2022 zurückgewiesen. Seit dem 13.08.2022 ist die Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig. Sie reiste jedoch nicht aus Deutschland aus, sondern bewohnte weiterhin die Unterkunft W. weg 4, 9...N. a.d.Donau. Nunmehr ist vom Bayerischen Landesamt für Asyl und Rückführungen (LfAR) für den 01.03.2023 die Luftabschiebung der Betroffenen nach Georgien geplant. In der Abschiebehafteinrichtung JVA H. wurde für die Betroffene für die Zeit vom 20.02.2023 bis zum 01.03.2023 ein Platz reserviert. Die erforderlichen Heimreisedokumente mussten aufgrund fehlender Mitwirkung der Betroffenen durch die Ausländerbehörde beschafft werden.
2
II. Mit Schreiben vom 08.02.2023 beantragte die Regierung von Niederbayern, Zentrale Ausländerbehörde Niederbayern (im Folgenden kurz: ZAB), beim Amtsgericht Kelheim, gegen die Betroffene zum Zweck der Durchführung der Abschiebung Ausreisegewahrsam nach § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG für die Dauer vom 20.02.203 bis 01.03.2023 (10 Tage) anzuordnen. Hilfsweise – für den Fall, dass über den Antrag nicht sofort entschieden werden könne – wurde beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung ohne vorherige Anhörung der Betroffenen vorläufig gem. § 427 FamFG zu entscheiden. Zur Begründung trug die Beteiligte den in I. dargestellten Sachverhalt vor und führte im Einzelnen weiter aus: Wegen der Einzelheiten der Antragsbegründung wird auf Blatt 1 ff. der Akte verwiesen.
3
Das Amtsgericht Kelheim ordnete im Verfahren der einstweiligen Anordnung ohne vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen mit Beschluss vom 16.02.2023 (Blatt 20 ff. d. A.) die Ingewahrsamnahme der Betroffenen zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung für die Dauer von 10 Tagen an und bestimmte, dass der Vollzug des Gewahrsams am 20.02.2023 beginnt und spätestens am 01.03.2023 endet. Zur Begründung der einstweiligen Anordnung führte das Amtsgericht im Wesentlichen aus:
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Die Voraussetzungen für die Anordnung des Ausreisegewahrsams seien gegeben. Die Ausreisefrist sei abgelaufen, deren Überschreitung sei erheblich. Ernsthafte Bemühungen der Betroffenen zum freiwilligen Verlassen des Bundesgebietes seien nicht erkennbar. Die Betroffen sei am 20.01.2022 über ihre Mitwirkungspflichten nach dem Aufenthaltsgesetz belehrt worden. Im Rahmen des dabei geführten Ausreisegespräches sei sie über die Möglichkeiten zur freiwilligen Ausreise aufgeklärt worden. Dabei habe die Betroffene angegeben, sie habe etwas dagegen, wenn sie wieder nach Georgien zurück müsse. Am 01.09.2022 hatte die Betroffene bei der Ausländerbehörde wegen eines Termins nachfragen und angeben lassen, dass sie Deutschland verlassen wolle. Auf die Bitte der Ausländerbehörde vom 02.09.2022, für die Ausreise ein Flugticket/Busticket oder sonstiges vorzulegen, damit eine für die Ausreise notwendige Grenzübertrittsbescheinigung ausgehändigt werden könne, habe die Betroffene nicht weiter reagiert. Mit Schreiben vom 13.01.2023 sei die Betroffene erneut über ihre Mitwirkungspflichten nach dem Aufenthaltsgesetz belehrt worden. Die der Betroffenen dazu aufgegebene Vorlage von Dokumenten gesetzte Frist sei fruchtlos abgelaufen. Das von der Betroffenen gezeigte Verhalten lasse erwarten, dass sie weiterhin nicht freiwillig ausreisen werde und die Abschiebung erschweren oder vereiteln werde. Nachdem die Ausreisefrist erheblich überschritten sei, werde gesetzlich vermutet, dass die Betroffene ihre Abschiebung erschweren werde. Aufgrund des vorbezeichneten Verhaltens sei eine Widerlegung dieser gesetzlichen Vermutung nicht erfolgt bzw. gelungen. Die Betroffene sei auch nicht unverschuldet an der Ausreise gehindert worden. Es sei auch nicht offensichtlich oder glaubhaft gemacht, dass sich die Betroffene der Abschiebung nicht entziehen wolle. Außerdem stehe fest, dass die Abschiebung innerhalb der Frist von 10 Tagen durchgeführt werden könne. Die Voraussetzungen des § 62 b Abs. 1 AufenthG lägen vor, es sei daher Ausreisegewahrsam anzuordnen. Im vorliegenden Fall überwiege auch in der Gesamtschau der vorgenannten Aspekte das staatliche Interesse an der zügigen Durchführung der aufwändig organisierten Abschiebung die zu berücksichtigenden Freiheitsinteressen der Betroffenen, die seit August 2022 keine ernsthaften Anstrengungen unternommen habe, ihrer Ausreisepflicht nachzukommen. Die Ingewahrsamnahme sei auch verhältnismäßig, damit die organisatorisch aufwändige Abschiebung nicht erneut deshalb scheitere, weil die Betroffene zufälligerweise zeitlich kurz vor dem beabsichtigten Flugtermin nicht in ihrer Unterkunft anwesend sei oder in dieser nicht aufgefunden werden könne.
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Die einstweilige Anordnung sei wegen Gefahr in Verzug ausnahmsweise vor der persönlichen Anhörung der Betroffenen ergangen. Es bestehe ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden, da nur so die Abschiebung der Betroffenen gesichert werden könne. Würde die Betroffene vorab zur Anhörung geladen werden, würde sie Kenntnis von der geplanten Abschiebung erhalten. Dann bestünde die Gefahr, dass sie sich der Abschiebung entziehe und diese dann nicht mehr durchführbar wäre. Die Anhörung der Betroffenen werde unverzüglich nach ihrer Ingewahrsamnahme nachgeholt.
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In Vollzug des Beschlusses vom 16.02.2023 wurde die Betroffene am 23.02.2023 von Beamten der Polizeiinspektion Kelheim in Gewahrsam genommen. Am selben Tag erfolgte die richterliche Anhörung der Betroffenen mit Dolmetscherin. Im Anhörungstermin erklärte die Richterin der Betroffenen, dass es bei der Anhörung um die Entscheidung über einen Antrag der ZAB auf Anordnung von Ausreisegewahrsam vom 08.02.2023 gehe. Wegen der Einzelheiten der Niederschrift zur Anhörung wird auf Blatt 28 ff. der Akte Bezug genommen.
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Im Anhörungstermin erließ das Amtsgericht Kelheim im Hauptsacheverfahren einen Beschluss, wonach die Betroffene unter Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des Beschlusses zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung für die Dauer von 7 Tagen in Gewahrsam genommen werde, der Vollzug des Gewahrsams am 23.02.2023 beginne und spätestens am 01.03.2023 ende. Zugleich hob das Amtsgericht Kelheim die einstweilige Anordnung vom 16.02.2023 auf. Eine beglaubigte Abschrift des Beschlusses wurde an die Betroffene ausgehändigt und übersetzt. In den Beschlussgründen wiederholte das Amtsgericht im Wesentlichen die in der einstweiligen Anordnung vom 16.02.2023 zu den Voraussetzungen des Ausreisegewahrsams angeführten Gründe und führte ergänzend aus, durch das Verhalten der Betroffenen und die festgestellten Umstände, insbesondere zu den fehlenden finanziellen Möglichkeiten der Rückreise, sei eine Widerlegung der gesetzlichen Vermutung des § 62 b AufenthG nicht erfolgt bzw. gelungen. Wegen der Einzelheiten der Beschlussbegründung wird auf Blatt 32 ff. der Akte Bezug genommen.
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Der angeordnete Gewahrsam wurde anschließend bis zum 01.03.2023 vollzogen.
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Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 24.02.2023 legte der Verfahrensbevollmächtigte der Betroffenen gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts vom 16.02.2023 und 23.02.2023 Beschwerde ein. Er beantragte festzustellen, dass die Beschlüsse die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben, des Weiteren, der Betroffenen Verfahrenskostenhilfe unter seiner Beiordnung zu bewilligen. Eine Nachreichung der Verfahrenskostenhilfeunterlagen wurde angekündigt. Des Weiteren wurde ausgeführt, dass eine Beschwerdebegründung nach Erhalt der beantragten Akteneinsicht erfolgen werde.
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Das Amtsgericht Kelheim hat unter Bezugnahme auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses der „Beschwerde gegen den Beschluss vom 23.02.2023 (Bl. 32 ff. d. A.)“ mit Beschluss vom 01.03.2023 nicht abgeholfen und sie dem Landgericht Regensburg zur Entscheidung vorgelegt.
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Die Beschwerdeführerin wurde am 01.03.2023 aus dem Gewahrsam entlassen.
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Das Landgericht Regensburg hob mit Beschluss vom 02.03.2023 (Az. 52 T 66/23; Blatt 45 ff. d. A.) wegen des Nichtabwartens der vom Verfahrensbevollmächtigten angekündigten Beschwerdebegründung durch das Amtsgericht dessen Nichtabhilfe- und Vorlagebeschluss vom 01.03.2023 auf und gab die Sache zur erneuten Entscheidung über eine Abhilfe an das Amtsgericht Kelheim zurück.
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Mit Schriftsatz vom 25.04.2023 (Blatt 58 ff. d. A) begründete der Verfahrensbevollmächtigte der Betroffenen die Beschwerden gegenüber dem Amtsgericht wie folgt:
„Betreffend die einstweilige Anordnung vom 16.02.2023 sei die 10-Tage-Frist des § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht gewahrt worden. Denn am 16.02.2023 habe der Endzeitpunkt des Ausreisegewahrsams länger als 10 Tage voraus gelegen. Die amtsgerichtliche Entscheidung sei daher unzulässig gewesen [wurde näher ausgeführt]. Zudem stehe die Anordnung von Ausreisegewahrsam im Ermessen des Gerichts. Deshalb müssten entsprechende Beschlüsse ausdrücklich erkennen lassen, dass das Gericht sein Ermessen ausgeübt habe, was auch für einstweilige Anordnungen gelte. Eine Ermessensausübung sei vorliegend nicht erkennbar. Des Weiteren sei auch vor Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 FamFG die Betroffene grundsätzlich vorher vom Gericht anzuhören. Der pauschale Hinweis im Beschluss auf ein mögliches Untertauchen reiche nicht aus, von der Anhörung abzusehen.“
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Betreffend den weiteren Beschluss vom 23.02.2023 sei zu rügen, dass ebenfalls keine Ermessensausübung erkennbar sei.
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Das Amtsgericht Kelheim hat mit Beschluss vom 02.05.2023 (Blatt 70 ff. d. A.) den Beschwerden der Betroffenen gegen die Beschlüsse vom 16.02.2023 und 23.02.2023 nicht abgeholfen und sie dem Landgericht Regensburg zur Entscheidung vorgelegt. Zur Begründung führte das Amtsgericht im Wesentlichen aus:
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Auf die weiterhin zutreffenden Begründungen der Beschlüsse werde Bezug genommen. Im Beschluss vom 16.02.2023 sei die 10-Tage-Frist des § 62 b AufenthG gewahrt worden. Das vorangegangene Verhalten der Betroffenen sei im Rahmen einer Gesamtschau bei der Ermessensausübung geprüft und gewürdigt worden.
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Die Ausländerakte hat dem Amtsgericht und dem Beschwerdegericht vorgelegen.
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Die vom Verfahrensbevollmächtigten angekündigten Unterlagen zur Verfahrenskostenhilfe wurden nicht vorgelegt.
B.
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Gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Kelheim vom 16.02.2023 und 23.02.2023 ist gemäß § 106 Abs. 2 AufenthG, § 58 Abs. 1 FamFG die Beschwerde statthaft. Die Beschwerde wurde durch den Verfahrensbevollmächtigten der Betroffenen jeweils form- und fristgerecht eingelegt (§ 63 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 1, §§ 64, 10 Abs. 2 Satz 1 FamFG). Die Beschwerden sind trotz der durch die Entlassung aus dem Gewahrsam jeweils eingetretenen Erledigung des Verfahrensgegenstandes in der Hauptsache mit dem Rechtsschutzziel des Feststellungsantrags nach § 62 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 FamFG weiterhin zulässig geblieben.
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Beide Beschwerden sind begründet. Sie führen zu der Feststellung, dass die Entscheidungen des Gerichts des ersten Rechtszugs die Beschwerdeführerin in ihren Rechten verletzt haben (§ 62 Abs. 1 FamFG). Im Einzelnen:
I. Einstweilige Anordnung vom 16.02.2023:
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Die ZAB Niederbayern war für den Antrag auf Freiheitsentziehung sachlich gemäß § 1 Nr. 2, § 3 Abs. 1, Abs. 2, Nr. 1 a ZustVAuslR und örtlich gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 ZustVAuslR zuständig, jeweils in Verbindung mit § 71 Abs. 1 AufenthG (§ 417 Abs. 1 FamFG).
1. Kein zulässiger Gewahrsamsantrag
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Der Gewahrsamsantrag der ZAB war unzulässig und demnach keine tragfähige Grundlage für die einstweilige Anordnung. Nach § 417 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 FamFG muss die Antragsbegründung unter anderem auch „Tatsachen“ zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung enthalten (vgl. BGH FGPrax 2012, 225; BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2016, V ZB 167/14, Rz. 6 f., juris). Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den in § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Anforderungen an die Begründung entspricht. Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (BGH, Beschluss vom 20. September 2018, V ZB 4/17, bei juris). Mit solchen Anforderungen an die Zulässigkeit eines Haftantrags wird die Vortragslast der Ausländerbehörde nicht unzumutbar überspannt. Soweit sie dazu auf Erkenntnisse Dritter angewiesen ist, insbesondere auf solche des Landesamts für Asyl und Rückführungen oder der Polizeibehörden, kann sie sich diese Erkenntnisse dort beschaffen.
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Im vorliegenden Fall legt die Begründung der ZAB zur beantragten Gewahrsamsdauer von 10 Tagen nahe, dass sie diese Dauer in entsprechenden Fällen, in denen sie die übrigen Voraussetzungen des § 62 b AufenthG als gegeben ansieht, regelmäßig und ohne nähere Betrachtung des Einzelfalls für erforderlich hält (vgl. Seite 7 Mitte des Antragsschreibens). Das widerspricht dem Gesetz. Denn der Ausreisegewahrsam setzt nach § 62 b Abs. 3 in Verbindung mit § 62 Abs. 1
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AufenthG voraus, dass er auf die kürzest mögliche Dauer beschränkt wird (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Dass diese nach dem Willen des Gesetzgebers nicht pauschal identisch mit der gesetzlichen Höchstdauer von 10 Tagen sein kann, versteht sich von selbst. Weitere tragfähige Ausführungen dazu, weshalb die Gewahrsamdauer 10 Tage betragen muss, fehlen im Antrag und im Beschluss.
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Der Mangel ist nicht etwa deshalb unbeachtlich, weil die Ausländerbehörde die Betroffene nach § 62 b Abs. 4 AufenthG möglicherweise auch ohne vorherige richterliche Anordnung hätte festhalten und vorläufig in Gewahrsam nehmen können. Die Behörde hat nicht diese Vorgehensweise gewählt, sondern sich dafür entschieden, einen Antrag nach § 427 Abs. 1 FamFG zu stellen. Um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen, muss der Eingriff den Voraussetzungen der konkret gewählten Rechtsgrundlage entsprechen (BVerfG, Beschluss vom 09.02.2012, 2 BvR 1064/10, juris).
2. Keine Gefahr im Verzug (§ 427 Abs. 2 FamFG)
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Weder aus der Antragsbegründung der ZAB noch aus der Begründung im Beschluss des Amtsgerichts ergibt sich in ausreichender Weise, dass Gefahr im Verzug und damit die von § 427 Abs. 2 FamFG geforderte, gegenüber § 427 Abs. 1 FamFG gesteigerte Dringlichkeit vorlag (das dringende Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden ist notwendige Voraussetzung für die einstweilige Anordnung als solche) und deshalb ausnahmsweise von der nach § 51 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG vor Erlass der einstweiligen Anordnung durchzuführenden Anhörung der Betroffenen abgesehen werden durfte. Der 08.02.2023 (Antragseingang beim Amtsgericht) war ein Mittwoch, sodass nicht ersichtlich ist, dass eine persönliche Anhörung nicht vor dem oder am 16.02.2023 vor Erlass der einstweiligen Anordnung hätte erfolgen können; ein solcher Grund liegt vielmehr fern. Ist der Aufenthalt eines Betroffenen bekannt und wird in anderer Weise seine Festnahme konkret geplant, bedarf es dazu einer vorherigen richterlichen Haftanordnung. Fälle, in denen die Ausländerbehörde befürchtet, dass der Betroffene die Ladung zu einem Anhörungstermin mit der Mitteilung des Haftantrags dazu nutzen wird, sich nunmehr der Abschiebung zu entziehen, können im Einzelfall die Annahme von Gefahr im Verzug rechtfertigen. Jedoch musste solches in der gerichtlichen Entscheidung in Bezug auf die Betroffene konkret begründet werden. Nicht ausreichend ist jedenfalls die bei einer Vorladung eines Ausländers zur persönlichen Anhörung zu einem Haftantrag der Ausländerbehörde allgemein bestehende Gefahr, dass er sich aufgrund der Ladung dem Verfahren durch Untertauchen entzieht (Göbel in: Sternal, FamFG, 21. Auflage 2023, Rz. 14 zu § 427; Heinze/Roffael in: Bork/Jacoby/Schwab, FamFG, 4. Aufl. 2021, Rz. 4 zu § 427). Auch das Eingreifen einer gesetzlichen Vermutung nach § 62 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die materiell-rechtlichen Charakter hat, reicht zur Annahme der konkret festzustellenden, verfahrensrechtlich maßgeblichen Gefahr im Verzug im Sinne des § 427 Abs. 2 FamFG nicht aus. Die Feststellung des Amtsgerichts, dass, nachdem die Ausreisefrist erheblich überschritten wurde, gesetzlich vermutet wird, dass die Betroffene ihre Abschiebung erschweren werde, genügt also nicht für die Annahme von Gefahr im Verzug.
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Auch aus § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG ergibt sich nichts für die Annahme von Gefahr im Verzug. Diese Bestimmung, wonach nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden.darf, richtet sich an die Ausländerbehörde, nicht an das Gericht (und gilt auch für die Ausländerbehörde nicht gegenüber dem Gericht). Vielmehr muss in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft der Antrag der Verwaltungsbehörde dem Betroffenen vom Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs vollständig bekanntgegeben (und übergeben) werden (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2011, V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257 juris). Aus diesem Erfordernis kann jedoch nicht ohne Hinzutreten konkreter, einzelfallbezogener und im Beschluss zu benennender Umstände gefolgert werden, dass ein Betroffener die Ladung zu einem Anhörungstermin mit der Mitteilung des Haftantrags dazu nutzen wird, sich nunmehr der Abschiebung zu entziehen.
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Vorliegend fehlt es an solchen tragfähigen, konkreten, einzelfallbezogenen und im Beschluss zu benennenden Umständen. Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler, da sich die Gründe für die Annahme von Gefahr im Verzug auch nicht aus den Akten entnehmen lassen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 27.07.2000, 3 Z BR 64/00, NJW-RR 2001, 654). Ein begründeter Verdacht, dass sich ein Ausländer der Abschiebung entziehen will, ergibt sich nicht bereits daraus, dass er keine festen sozialen Bindungen im Bundesgebiet hat oder mittellos ist. Es müssten konkrete Umstände vorliegen, die den Verdacht der Absicht begründen, die Abschiebung zu verhindern oder ihr sonst zu entgehen. Dass die Betroffene, wie sich aus dem Vorbringen der ZAB ergibt, erklärte, „nicht freiwillig ausreisen“ zu wollen, genügt weder für sich allein noch in Verbindung mit der vorgebrachten Verletzung von Mitwirkungspflichten zur Annahme von Gefahr im Verzug. Die Verweigerung der freiwilligen Ausreise würde nicht einmal für § 62 Abs. 3 a Nr. 6 AufenthG genügen (Winkelmann/Broscheit in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, Rz. 48 zu § 62 Abs. 3 a Nr. 6 AufenthG, zur Fluchtgefahr, mit weiteren Nachweisen). Der Umstand, dass ein Ausländer nicht freiwillig ausreist, ist für sich genommen nicht einmal ein Haftgrund, sondern rechtliche Voraussetzung für seine Abschiebung.
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Der von der ZAB vorgetragene Sachverhalt ist auch nicht so gelagert, dass bereits ein vorangegangener Überstellungsversuch vereitelt wurde. Soweit das Amtsgericht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausführt, die Ingewahrsamnahme sei verhältnismäßig, damit die organisatorisch aufwändige Abschiebung nicht „erneut“ deshalb scheitere, weil die Betroffene zufälligerweise zeitlich kurz vor dem beabsichtigten Flugtermin nicht in ihrer Unterkunft anwesend sei oder in dieser nicht aufgefunden werden könne, ist festzustellen, dass die ZAB keinen solchen Sachverhalt vorgetragen hat. Es gab demnach keinen vorherigen, gescheiterten Überstellungsversuch.
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Auf eine Unverzüglichkeit der Nachholung der persönlichen Anhörung (§ 427 Abs. 2, zweiter Halbsatz FamFG) kommt es daher hier nicht an. Der Verfahrensfehler wurde wegen des Verfassungsrangs der Verfahrensgarantien der Art. 103 Abs. 1, 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht durch die Nachholung der Anhörung geheilt (BGH, Beschluss vom 17.06.2010, V ZB 127/10, NVwZ 2010, 1318, Rz. 9, juris; .BVerfG, Beschluss vom 07.10.1981, 2 BvR 1194/80, NJW 1982, 691, 692; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04. August 2020, 2 BvR 1692/19, FamRZ 2020, 1864, juris BayObLG, a. a. O.).
3. Fehlerhafte Ermessensausübung, Verhältnismäßigkeit
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Nach § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer unabhängig von den Voraussetzungen der Sicherungshaft nach § 62 Absatz 3 AufenthG, insbesondere unabhängig vom Vorliegen einer Fluchtgefahr, zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung auf richterliche Anordnung bis zu zehn Tage in Gewahrsam genommen werden, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist, es sei denn, der Ausländer ist unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist ist nicht erheblich (Nr. 1), und wenn feststeht, dass die Abschiebung innerhalb dieser Frist durchgeführt werden kann (Nr. 2), und der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird (Nr. 3 Satz 1). Letzteres wird gemäß § 62 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Satz 2 AufenthG unter anderem dann vermutet, wenn er die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat (lit. d).
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Der Ausreisegewahrsam setzt nach § 62 b Abs. 3 in Verbindung mit § 62 Abs. 1 AufenthG zudem voraus, dass er verhältnismäßig ist. Dies ist nur der Fall, wenn der Zweck des Gewahrsams nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und wenn der Gewahrsam auf die kürzest mögliche Dauer beschränkt wird (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Nach § 62 b Abs. 1 Satz 2 AufenthG ist von der Anordnung des Ausreisegewahrsams abzusehen, wenn der Ausländer glaubhaft macht oder wenn offensichtlich ist, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will.
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Bei der Regelung des § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG handelt es sich – anders als bei der Vorbereitungshaft (§ 62 Abs. 2 AufenthG) und der Sicherungshaft (§ 62 Abs. 3 AufenthG) um eine gerichtliche Ermessensentscheidung (“kann“). Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert deshalb, auch wenn alle Voraussetzungen des § 62 b AufenthG vorliegen, eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind – wenn auch in knapper Form – gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG in der Entscheidung darzulegen. Erforderlich ist, dass eine Ermessensentscheidung überhaupt erkennbar stattgefunden hat und dass sie fehlerfrei – insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – erfolgte (BGH NVwZ-RR 2018, 746; Winkelmann/Broscheit in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, Rz. 17 zu § 62 b AufenthG, mit weiteren Nachweisen).
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Vorliegend lässt sich der im angefochtenen Beschluss vom 16.02.2023 gegebenen Begründung noch entnehmen, dass dem Amtsgericht das Erfordernis einer Ermessensausübung bewusst war. Das Amtsgericht formulierte:
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Die Voraussetzungen des § 62 b Abs. 1 AufenthG liegen vor, es ist daher Ausreisegewahrsam anzuordnen. Im vorliegenden Fall überwiegen auch in der Gesamtschau der vorgenannten Aspekte das staatliche Interesse an der zügigen Durchführung der aufwändig organisierten Abschiebung die zu berücksichtigenden Freiheitsinteressen der Betroffenen, die seit August 2022 keine ernsthaften Anstrengungen unternommen habe, ihrer Ausreisepflicht nachzukommen. Die Ingewahrsamnahme ist auch verhältnismäßig, damit die organisatorisch aufwändige Abschiebung nicht erneut deshalb scheitert, weil die Betroffene zufälligerweise zeitlich kurz vor dem beabsichtigten Flugtermin nicht in ihrer Unterkunft anwesend ist oder in dieser nicht aufgefunden werden kann.
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Im Hinblick auf diese Formulierung muss zwar davon ausgegangen werden, dass die – neben der Bejahung aller Voraussetzungen des § 62 b AufenthG erforderliche – Ermessensausübung durch das Amtsgericht vorgenommen wurde und die verwendete Formulierung, „(…), es ist daher Ausreisegewahrsam anzuordnen“ lediglich das Ergebnis der Ermessensausübung beschreibt. Die Ermessensausübung war jedoch fehlerhaft. Denn soweit das Amtsgericht ausführt, die Ingewahrsamnahme sei verhältnismäßig, damit die organisatorisch aufwändige Abschiebung nicht „erneut“ deshalb scheitere, weil die Betroffene zufälligerweise zeitlich kurz vor dem beabsichtigten Flugtermin nicht in ihrer Unterkunft anwesend sei oder in dieser nicht aufgefunden werden könne, muss festgestellt werden, dass die ZAB keinen solchen Sachverhalt vorgetragen hat. Es gab keinen vorherigen, gescheiterten Überstellungsversuch.
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Dieser Mangel wurde im Beschwerdeverfahren – zu dem gemäß § 68 FamFG bereits das Abhilfeverfahren gehört – nicht behoben und hätte hier auch nicht mehr behoben werden können. Zwar entspricht es der ganz überwiegenden, zutreffenden Ansicht, dass etwa bei einer unterlassenen Anhörung deren Vornahme in der Beschwerdeinstanz zwar keine rückwirkende Heilungswirkung entfaltet, jedoch zur Rechtmäßigkeit der Maßnahme ab der Beschwerdeentscheidung führen kann (Abramenko in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Aufl. 2023, Rz. 2 zu § 69 FamFG, mit weiteren Nachweisen), und auch, dass das Beschwerdegericht dort, wo ein Ermessen auszuüben ist, dies eigenständig zu tun und nicht lediglich eine Ermessensausübung der Vorinstanz auf ihre Vertretbarkeit zu prüfen hat (Abramenko, a.a.O.; Sternal in: Sternal, FamFG, 21. Auflage 2023, Rz. 64 zu § 68). Jedoch könnte in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die Betroffene bereits (vor dem die Vornahme einer Ermessensausübung klarstellenden Nichtabhilfebeschluss) aus dem Gewahrsam entlassen wurde, eine erstmalig zutreffende Ermessensausübung des Beschwerdegerichts die fehlerhafte Ermessensausübung des Amtsgerichts und seine bereits daraus folgende Rechtswidrigkeit nicht rückwirkend beseitigen oder heilen (so zum Ermessensausfall OLG München, Beschluss vom 17. November 2009, 34 Wx 69/09, BayVBl. 2010, 447, Rz. 14 bei juris; vgl. auch BGH FGPrax 2012, 223, Rz. 12 bei juris: keine Rückwirkung einer in der Beschwerdeinstanz bewirkten Heilung eines unzulässigen Haftantrags). Dass vorliegend die amtsgerichtliche Entscheidung in jedem Fall so wie geschehen hätte ergehen müssen, weil eine Ermessensreduzierung auf Null vorlag, ist nicht ersichtlich.
II. Hauptsacheentscheidung vom 23.02.2023:
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Der Beschluss vom 23.02.2023 weist die gleichen Mängel auf, wie oben in I. 1. und 3. zur einstweiligen Anordnung dargestellt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird darauf Bezug genommen.
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Somit war gemäß § 62 Abs. 1 FamFG auf Antrag der Beschwerdeführerin festzustellen, dass sie die Entscheidungen des Amtsgerichts Kelheim in ihren Rechten verletzt haben.
C.
40
Obgleich es für die Beschwerdeentscheidung auf Weiteres nicht ankommt, sieht sich die Kammer veranlasst, auf Folgendes hinzuweisen:
41
I. Die vom Amtsgericht vorgenommene Bestimmung der Vollzugsdauer ist insofern nicht zu beanstanden, als darin auf einen späteren Vollzugsbeginn (20.02.2023) als dem Tag des Beschlusserlasses (16.02.2023) abgestellt wurde, denn damit wurde die Höchstfrist des § 62 b AufenthG nicht überschritten wurde. Die von der Beschwerdeführerin angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG a.F. bzw. zu § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG (BGH, Beschluss vom 12. Mai 2011, V ZB 309/10, Tz. 15, juris) ist auf § 62 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht übertragbar, da die Regelung der gesetzlichen Fristen in beiden Normen an unterschiedliche Umstände anknüpft: Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung auf richterliche Anordnung „bis zu zehn Tage in Gewahrsam genommen werden“. Diese Bestimmung regelt demgemäß lediglich die absolute Höchstfrist des angeordneten Gewahrsams, besagt jedoch nichts über deren Beginn. Für die Fristberechnung ist auf den im Beschluss angeordneten Tag der Festnahme abzustellen, im Falle fehlender Bestimmung des Tages der Festnahme im Beschluss auf den tatsächlichen Tag der Festnahme (vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Auflage 2020, § 8 Abschiebungshaft, Rz. 81). Demgegenüber wäre eine nach § 62 Abs. 3 AufenthG mögliche (hier nicht beantragte) Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (Satz 3). Maßgeblicher Zeitpunkt für jene Prognose, ob die Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate möglich erscheint, ist der Erlass der Haftanordnung, nicht der mutmaßliche Beginn des Vollzugs der Abschiebungshaft.
42
II. Die ZAB hatte den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, gegen die Betroffene zum Zweck der Durchführung der Abschiebung Ausreisegewahrsam nach § 62 b AufenthG für die Dauer vom 20.02.203 bis 01.03.2023 (10 Tage) anzuordnen. Hilfsweise – für den Fall, dass über den Antrag nicht sofort entschieden werden könne – wurde beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung ohne vorherige Anhörung der Betroffenen vorläufig gem. § 427 FamFG zu entscheiden.
43
Das Amtsgericht hat seine erste Haftanordnung am 16.02.2023, wie sich aus den Beschlussgründen ergibt, im Verfahren der einstweiligen Anordnung (§ 427 FamFG) erlassen. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 427 Abs. 1 FamFG ist unter anderem, dass über die endgültige Freiheitsentziehung nicht rechtzeitig entschieden werden kann und dies feststeht (Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 13. Auflage 2022. Rz. 6 zu § 427). Deshalb ist ein Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässig, wenn bereits eine Hauptsacheentscheidung möglich und damit auch geboten ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 17.12.2015, 18 T 1191/15, juris, vorgehend BGH, Beschluss vom 16.09.2015, V ZB 40/15; Rz. 11 a.E., juris). Eine Hauptsacheentscheidung schien dem Amtsgericht am 16.02.2023 nicht möglich, da nur im Verfahren der einstweiligen Anordnung und bei Vorliegen von Gefahr im Verzug von der in § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG vorgesehenen vorherigen persönlichen Anhörung abgesehen werden durfte. Unter dieser vom Amtsgericht angenommenen Prämisse, wonach eine Hauptsacheentscheidung noch nicht möglich sei, war allerdings ein Hauptsacheverfahren und damit eine Hauptsacheentscheidung am 23.02.2023 nach der Anhörung der Betroffenen nicht mehr geboten. Nach § 51 Abs. 3 Satz 1 FamFG ist ein Verfahren der einstweiligen Anordnung gegenüber einem Hauptsacheverfahren ein selbstständiges Verfahren (selbst wenn eine Hauptsache anhängig ist). Im FamFG ist die einstweilige Anordnung (im Gegensatz zur Rechtslage im FGG) nicht mehr nur als vorläufige Regelung ausgestaltet, die in einem von Amts wegen einzuleitenden Hauptsacheverfahren durch eine endgültige Maßnahme zu ersetzen ist (Prütting/Helms/Roth, FamFG, 6. Aufl. 2023, Rz. 3 zu § 331). Bei der einstweiligen Anordnung handelt es sich um eine anfechtbare Endentscheidung im Sinne der § 38 Abs. 1 Satz 1, § 58 Abs. 1 FamFG. Beantragt die Behörde den Erlass einer einstweiligen Anordnung, weil große Eile gegeben sei und ein kurzfristiger Gewahrsam genügt, hat es hiermit regelmäßig sein Bewenden, weil in einem Hauptverfahren infolge der Erledigung der Sache keine sinnvolle weitere gerichtliche Tätigkeit entfaltet werden kann (Grotkopp in: Bahrenfuss, FamFG, 3. Aufl. 2017, Rz. 33 zu § 427, juris). Hat die Behörde einen Antrag auf Durchführung eines Hauptsacheverfahrens und hilfsweise – wie hier – den Antrag gestellt, die beantragte Haftdauer im Wege einer einstweiligen Anordnung zu beschließen, und stellt sich heraus, dass das Hauptsacheverfahren wegen der Eilbedürftigkeit nicht durchzuführen ist, so ist – bei Nichtbeharren der Behörde auf der Durchführung eines Hauptverfahrens, weil sie aufgrund der durch das Gericht getroffenen Anordnung der beantragten Maßnahme und der beantragten Dauer bereits in der Sache Erfolg hat –, wie vorliegend beim Amtsgericht Kelheim der Fall, ein Hauptsacheverfahren – unabhängig von der Frage des Rechtsschutzbedürfnisses für ein Hauptsacheverfahren – bereits mangels Fortbestehen eines auf ein Hauptsacheverfahren gerichteten Antrags nicht mehr durchzuführen. Der ursprüngliche Antrag der ZAB auf Durchführung eines Hauptsacheverfahrens war hier mangels anderweitiger Erklärung als durch den in der Sache bereits durch die einstweilige Anordnung des Amtsgerichts erzielten, gleichwertigen Erfolg auflösend bedingt gestellt anzusehen; in einem anschließenden Hauptsacheverfahren hätte infolge der alsbald durch Abschiebung zu erwartenden Erledigung der Sache keine der ZAB hilfreiche weitere gerichtliche Tätigkeit entfaltet werden können.
44
Demzufolge hätte das Amtsgericht bei der nach Erlass der einstweiligen Anordnung – und zu ihr – nachgeholten Anhörung der Betroffenen vorliegend nicht unter gleichzeitiger Aufhebung der einstweiligen Anordnung in ein Hauptsacheverfahren übergehen dürfen, und es musste mangels Klärung des Fortbestehens eines auf Durchführung des Hauptverfahrens gerichteten Antrags der ZAB auch kein solches mehr einleiten (und durfte dies mangels gegenteiliger Bekundung der ZAB auch nicht). Erforderlich und ausreichend war, nach dem Ergebnis der nachgeholten Verfahrenshandlung – aber weiterhin im Verfahren der einstweiligen Anordnung – zu prüfen, ob die einstweilige Anordnung vom 16.02.2023 aufrechtzuerhalten, aufzuheben (§ 426 FamFG) oder gegebenenfalls mit Auflagen außer Vollzug zu setzen ist (§ 424 Abs. 1 FamFG). Wenn diese Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass die Haftvoraussetzungen weiterhin vorliegen und die Fortdauer der Haft erforderlich ist, muss das Gericht gegenüber dem Betroffenen und den weiteren Verfahrensbeteiligten (durch Beschluss oder mindestens durch protokollierte Erklärung im Anhörungstermin) lediglich klarstellen, dass die einstweilige Anordnung bestehen bleibt (zur Entscheidung nach nachträglicher Anhörung bei § 332 Satz 2 FamFG: Sternal/Giers, FamFG, 21. Auflage 2023, Rz. 6 f.; Fa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04. August 2020, 2 BvR 1692/19, FamRZ 2020, 1864, juris; vgl. auch zu § 427 FamFG Koch in: Kluth/Hornung/Koch, Zuwanderungsrecht, 3. Auflage 2020, 2. Teil, § 5, Rz. 435).
D.
45
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 FamFG.
46
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht es unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 5 Abs. 5 EMRK billigem Ermessen, diejenige Körperschaft, der die beteiligte Behörde (§ 418 Abs. 1 FamFG) angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (BGH FGPrax 2010, 212; FGPrax 2012, 44; FGPrax 2012, 223). Zwar wird diese Rechtsprechung in der Literatur für die Fälle abgelehnt, in denen keine Mitveranlassung durch die antragstellende Behörde (Mitveranlassung etwa durch einen nicht den Anforderungen genügenden oder sachlich nicht gerechtfertigten Haftantrag) gegeben ist, sondern allein ein Verfahrensfehler oder sonstiger Fehler des Gerichts zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme führt (Drews in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Auflage 2023, Rz. 6 a zu § 430 FamFG). So liegt der hiesige Fall zum einen jedoch nicht, zum anderen nimmt der Bundesgerichtshof diesbezüglich ersichtlich keine Differenzierung vor (Göbel in: Sternal, FamFG, 21. Auflage 2023, Rz. 14, 16 zu § 430), sondern sieht als Kostenträger diejenige am Verfahren beteiligte Körperschaft an, die aufgrund des Haftantrags ihrer Ausländerbehörde für die Verletzung der Rechte faktisch mitursäch-lich geworden ist. Dieser Sichtweise folgt das Beschwerdegericht:
47
Ist § 430 FamFG – wie hier – tatbestandlich nicht erfüllt, richtet sich die Entscheidung über die (Kosten und) notwendigen Auslagen der Beteiligten nach § 81 ff. FamFG. Da es einerseits nicht billigem Ermessen entspricht, die von einer rechtswidrigen Haftanordnung betroffene, mit ihrem Rechtsmittel erfolgreiche Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen selbst tragen zu lassen, und andererseits in Freiheitsentziehungssachen im Sinne des § 415 FamFG eine Auferlegung zulasten der Staatskasse mangels einer Parallelvorschrift zu §§ 307, 337 Abs. 1 FamFG nach einhelliger Ansicht ausscheidet – der Staatskasse können Kosten nach § 81 FamFG nur auferlegt werden, wenn sie formell Beteiligter des Verfahrens ist (Feskorn in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Aufl. 2023, Rz. 4 zu § 81 FamFG) –, entspricht es billigem Ermessen im Sinne des § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG, diejenige Körperschaft, der die beteiligte Behörde angehört, in der Kostenentscheidung zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten, da sie für die Freiheitsentziehung mitursächlich geworden ist. Eine Verweisung der Beschwerdeführerin auf einen hinsichtlich ihrer notwendigen Auslagen außerhalb des Beschwerdeverfahrens geltend zu machenden materiell-rechtlichen Entschädigungsanspruch entspräche demgegenüber nicht billigem Ermessen (so auch LG Hannover, InfAuslR 2012, 424, juris; anderer Ansicht: Wendtland in: Münchener Kommentar zum FamFG, 3. Auflage 2019, Rz. 6 zu § 430; Drews, a.a.O., Rz. 6 a).
48
Erstattungsschuldner außergerichtlicher Auslagen eines Betroffenen in einem Abschiebungshaftverfahren ist also selbst in Fällen, in denen der zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme führende Fehler allein beim Gericht lag, nicht die Staatskasse (Justizfiskus), sondern die Körperschaft, der die antragstellende Behörde „angehört“ (vgl. § 430 FamFG). Dies ist vorliegend der Bezirk Niederbayern. Allerdings stellt der Vollzug des Aufenthaltsgesetzes eine unter anderem von den Kreisverwaltungsbehörden und von den Regierungen (Zentrale Ausländerbehörden) als Staatsbehörden wahrzunehmende Aufgabe dar (§ 71 AufenthG, §§ 1 ff. der bayerischen Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht – ZustVAuslR). Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Landratsamt und die Bezirksregierung beim Tätigwerden als untere beziehungsweise mittlere Staatsbehörde nicht dem Freistaat Bayern „angehören“, sondern ihrer jeweiligen Gebietskörperschaft, also dem Landkreis oder dem Bezirk als Rechtsträger. Soweit bei Fragen der Amtshaftung und der verwaltungsgerichtlichen Passivlegitimation die Einordnung anders, nämlich nach der konkreten Wahrnehmung von Funktionen (Staatsbehörde oder eigener/übertragener Wirkungskreis) vorgenommen wird, ist dies auf die Bestimmung des Erstattungsschuldners im Kostenrecht nicht übertragbar. Es besteht keine Regelungslücke, die eine Rechtsanalogie rechtfertigen könnte. So lässt auch § 430 FamFG nicht zu, daß der Staat nur deshalb zum verfahrensrechtlichen Erstattungsschuldner der außergerichtlichen Kosten eines Betroffenen bestimmt wird, weil die einer anderen Gebietskörperschaft zuzuordnende Behörde als Staatsbehörde tätig wurde (vgl. Drews, a.a.O., Rz. 6 a: lediglich materiell-rechtlicher Entschädigungsanspruch gegen den Staat als Träger des Gerichts; Göbel, a.a.O., Rz. 16; ebenso zur Vorgängerregelung des § 16 FreihEntzG: BayObLGZ 1980, 288; OLG München, Beschluss vom 09. November 2006, 34 Wx 123/06, juris).
49
Bei Betroffenen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, ist regelmäßig nach § 81 Abs. 1 Satz 2 FamFG anzuordnen, dass von der Erhebung von Dolmetscherkosten abzusehen ist (vgl. Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK; BGH FamRZ 2010, 809).
50
Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf § 36 Abs. 2, Abs. 3 GNotKG.
51
Gegen diesen Beschluss ist ein Rechtsmittel nicht statthaft. Nach § 70 Abs. 4 FamFG findet gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung die Rechtsbeschwerde nicht statt.
E.
52
Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten für die Beschwerdeverfahren war abzulehnen, weil das gemäß § 117 Abs. 4 ZPO, § 76 Abs. 1 FamFG zwingend zu verwendende Formular betreffend die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse trotz angekündigter Nachreichung nicht vorgelegt wurde. Eine Ausnahme vom Formularzwang ist nicht ersichtlich; sie ergäbe sich insbesondere nicht daraus, wenn sich die Beschwerdeführerin seit Anfang März 2023 wieder im Ausland aufhielte.