Inhalt

VG München, Beschluss v. 01.12.2023 – M 18 E 23.5239
Titel:

Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Vorherige Information

Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 24 Abs. 2
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (Stattgabe), Anspruch auf Nachweis eines Betreuungsplatzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege, Vorherige Information
Fundstelle:
BeckRS 2023, 51406

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses vorläufig einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege mit einem Betreuungsumfang von mindestens acht Stunden montags bis freitags ab 2. Januar 2024 nachzuweisen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Der am 2. Januar 2023 geborene Antragsteller begehrt den Nachweis eines Betreuungsplatzes.
2
Die Eltern des Antragstellers meldeten den Bedarf für einen Betreuungsplatz des Antragstellers ab Dezember 2023/Januar 2024 am 26. Juni 2023 bei der Antragsgegnerin.
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Wohl zuletzt am 7. September 2023 teilte die Antragsgegnerin der Antragsseite per E-Mail mit, dass der Bedarf aktiv bearbeitet und noch um ein bisschen Geduld gebeten werde.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers erhob für diesen am 31. Oktober 2023 Klage zum Verwaltungsgericht München und beantragte die Verpflichtung der Antragsgegnerin, dem Kläger zum 2. Januar 2023 einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz nachzuweisen (M 18 K 23.5238).
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Zudem wurde mit Schriftsatz vom selben Tag beantragt,
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die Antragsgegnerin zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache einen dem individuellen Bedarf entsprechenden Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung oder Kindertagespflege im Umfang von täglich mindestens 8 Stunden montags bis freitags zum 2. Januar 2024 nachzuweisen.
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Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass die Eltern des Antragstellers am 24. Oktober 2022 einen Antrag über das Online-Portal der Antragsgegnerin gestellt hätten und zudem mit E-Mail vom 30. März 2023 die Antragsgegnerin um Hilfe bei der Vermittlung gebeten hätten. Unter Verweis auf den Beschluss des OVG Berlin-Bbg. Vom 28. Mai 2019 (OVG 6 S 25.19) wurde ausgeführt, dass eine jetzige Entscheidung von den gesetzlichen Vertretern bereits jetzt benötigt werde.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakten elektronisch vor und beantragte mit Schriftsatz vom 20. November 2023,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antrag mangels Anordnungsgrundes derzeit keine Aussicht auf Erfolg habe. Ein Anspruch auf einen Betreuungsplatz bestehe erst ab dem ersten Geburtstag.
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Durch Beschluss der Kammer vom 28. November 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte auch im Verfahren M 18 K 23.5238 verwiesen.
II.
13
Der Antrag hat Erfolg.
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Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
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Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der vom Antragsteller begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber in zeitlicher Hinsicht vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nach spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßgaben hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
18
Zwischen den Parteien unstreitig hat der Antragsteller gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ab seinem ersten Geburtstag, folglich dem 2. Januar 2024, einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege.
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Auch die Voraussetzung gemäß § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG, dass die Erziehungsberechtigten die Gemeinde und bei einer gewünschten Betreuung durch eine Tagespflegeperson den örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe mindestens drei Monate vor der geplanten Inanspruchnahme in Kenntnis setzen, ist vorliegend erfüllt.
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Entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten kann insoweit zwar nicht auf die E-Mail vom 30. März 2023 abgestellt werden. Denn diese dürfte nicht an eine der Antragsgegnerin zuzurechnende E-Mail-Adresse adressiert worden sein. Soweit dem Gericht bekannt, verwendet die Antragsgegnerin durchgängig andere Endungen bei ihren E-Mail-Adressen. Auch in der vorgelegten Behördenakte findet sich diese E-Mail dementsprechend nicht.
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Allerdings ergibt sich aus der Behördenakte – was der Bevollmächtigte der Antragseite vollständig unerwähnt lässt –, dass am 26. Juni 2023 eine ordnungsgemäße Bedarfsmeldung bei der Antragsgegnerin erfolgte.
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Der Antragsteller hat daher einen Anspruch auf Nachweis eines bedarfsgerechten Platzes in einer Kindertageseinrichtung oder in Kindertagespflege gegen die Antragsgegner im Umfang von werktäglich acht Stunden ab 2. Januar 2024 ausreichend glaubhaft gemacht.
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Zudem hat der Antragsteller – entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin – auch einen Anspruch darauf, dass er vor der tatsächlichen Bereitstellung des Betreuungsplatzes eine Mitteilung hierüber erhält.
24
Denn eine vorherige Mitteilung über einen dann zur Verfügung stehenden Betreuungsplatz ist für die Planungssicherheit zwingend erforderlich (stRspr der Kammer, zuletzt VG München, B.v. 12.9.2023 – M 18 E 23.4244 – juris Rn. 28 m.w.N.). Zwar ist in der Rechtsprechung der erforderliche Zeitraum für diese vorherige Mitteilung nicht geklärt. Grundsätzlich dürfte ein solcher Anspruch nicht vor Ablauf der 3-Monatsfrist nach § 24 Abs. 5 SGB VIII i.V.m. Art. 45a AGSG bestehen, da dieser Zeitraum gerade dazu dient, einen geeigneten Betreuungsplatz zu finden. Diese Frist ist vorliegend jedoch verstrichen, zudem erscheint die Notwendigkeit der vorherigen Information über einen Betreuungsplatz einen Monat vor der Belegung gegeben. Denn um einen Platz zum 2. Januar 2024 tatsächlich in Anspruch nehmen zu können, benötigen die Erziehungsberechtigten sowohl hinsichtlich ihrer privaten Organisation (Hol- und Bringdienste, Eingewöhnungszeit) als auch gegenüber ihren Arbeitgebern einen zeitlichen Vorlauf. Dies auch insbesondere vor dem Hintergrund, dass der fristgerechte Nachweis eines Betreuungsplatzes derzeit – wie allgemein bekannt – bundesweit auf erhebliche Probleme stößt, so dass die Antragsseite nicht selbstverständlich von der rechtzeitigen Erfüllung ihres Anspruchs zum 2. Januar 2024 ausgehen kann.
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Der Antragsteller hat zudem auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
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Unabhängig von der Frage, ob bereits in der irreversiblen Nichterfüllung eines unaufschiebbaren Anspruchs ein Anordnungsgrund zu sehen ist oder darüber hinaus im Rahmen der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ein Nachweis der fehlenden Betreuungsmöglichkeit zu erfolgen hat (vgl. zum Streitstand: VG München, B.v.25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 34 m.w.N.), haben die Eltern des Antragstellers noch – wenn auch ohne jede Vorlage von belegenden Dokumenten – hinreichend glaubhaft gemacht, auf einen Betreuungsplatz im Umfang von werktäglich acht Stunden angewiesen zu sein. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zuzumuten. Zur Vermeidung weiterer Nachteile für den Antragsteller und seiner Eltern ist eine Vorwegnahme der Hauptsache daher angezeigt.
27
Der Antragsgegnerin ist zur Erfüllung des Anspruchs eine Frist bis zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses einzuräumen (vgl. VG München, B.v. 25.1.2023 – M 18 E 22.5844 – juris Rn. 44 m.w.N.).
28
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
29
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.