Titel:
Anforderungen an den Vortrag zur Wiedereinsetzung bei kurzfristiger Erkrankung des Prozessbevollmächtigten.
Normenketten:
ZPO § 85 Abs. 2, § 233, § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2
BGB § 278
Leitsätze:
1. Gemäß § 85 Abs. 2 ZPO müssen sich Parteien ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Nach hM steht das Verschulden sonstiger Dritter, insbesondere des Büropersonals eines Anwalts der Wiedereinsetzung nicht entgegen, da § 278 BGB in der ZPO keine Entsprechung findet. Zu prüfen ist beim Anwalt allerdings stets, ob nicht ein eigenes Organisationsverschulden vorliegt. Für Anwälte gilt dabei ein objektiver Sorgfaltsmaßstab. Es ist auf die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Anwalts in der jeweiligen Prozesssituation abzustellen. Die diesbezüglichen Anforderungen sind hoch. Ein Anwalt muss sein Büro in der Weise organisieren, dass der Gefahr von Fristversäumungen durch alle nur möglichen zumutbaren Maßnahmen vorgebeugt wird. (Rn. 9 – 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der krankheitsbedingte Ausfall des Anwaltes am letzten Tag der Frist rechtfertigt für sich genommen noch keine Wiedereinsetzung. An einer schuldhaften Fristversäumung fehlt es nur dann, wenn in Folge der Erkrankung weder kurzfristig ein Vertreter eingeschaltet noch ein Verlängerungsantrag gestellt werden konnte; dies ist glaubhaft zu machen. Die Partei hat substantiiert darzulegen, welche Anstrengungen ihr Anwalt zur Einschaltung eines Vertreters, gar eines Kanzleikollegen oder eines anderen Anwaltskollegen, nachdem der Schwindelanfall vorbei war, unternommen hat. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Wiedereinsetzung, Anwalt, Organisationsverschulden, Sorgfaltsmaßstab, Erkrankung
Vorinstanz:
LG Augsburg, Endurteil vom 27.04.2023 – 101 O 4229/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 11.07.2024 – IX ZB 31/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 51264
Tenor
1. Der Antrag der Beklagten auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist wird zurückgewiesen.
2. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 27.04.2023, Aktenzeichen 101 O 4229/21, wird verworfen.
3. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten zu 1), zu 2), zu 3) und zu 4) jeweils 1/6, die Beklagte zu 5) 2/6.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 45.600,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Klägerin verlangt von den Beklagten jeweils Darlehensrückzahlung.
2
Das Landgericht hat der Klage mit Urteil vom 27.04.2023 in vollem Umfang stattgegeben.
3
Die Beklagten haben gegen das ihrer Prozessbevollmächtigten am 02.05.2023 zugestellte Urteil über diese mit Schriftsatz vom 05.06.2023, eingegangen beim Oberlandesgericht München am selben Tage, Berufung eingelegt. Im selben Schriftsatz beantragte die Prozessbevollmächtigte Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist. Auf die Begründung des Wiedereinsetzungsantrags wird Bezug genommen.
4
Die Klagepartei hat über ihren Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 07.06.2023 beantragt, den Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen.
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Der gemäß § 233 Satz 1 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige – insbesondere innerhalb der Frist gemäß § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO gestellte – Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist ist unbegründet.
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Nach § 233 Satz 1 ZPO setzt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand voraus, dass die betroffene Partei ohne ihr Verschulden verhindert war, eine der dort genannten Fristen – unter anderem die Berufungsbegründungsfrist – einzuhalten.
7
Die Beklagten haben die Berufungsbegründungsfrist nicht gewahrt, weil die Berufungsschrift erst am 05.06.2023, mithin nach Ablauf der Frist am 02.06.2023 beim Oberlandesgericht einging.
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Dass die Frist ohne Verschulden versäumt wurde, haben die Beklagten indes nicht dargelegt und auch nicht glaubhaft gemacht (vgl. § 236 Abs. 2 Satz 1, 1. HS ZPO). Im Einzelnen:
9
1. Gemäß § 85 Abs. 2 ZPO müssen sich Parteien ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen. Nach einhelliger Meinung steht das Verschulden sonstiger Dritter, insbesondere des Büropersonals eines Rechtsanwalts oder anderer Hilfspersonen der Wiedereinsetzung nicht entgegen, da § 278 BGB in der ZPO keine Entsprechung findet. Zu prüfen ist beim Rechtsanwalt allerdings stets, ob nicht ein eigenes Organisationsverschulden vorliegt (Grandel in: Musielak / Voit, ZPO, 20. Auflage, 2023, § 233, Rn 3).
10
Für Rechtsanwälte gilt dabei ein objektiver Sorgfaltsmaßstab. Es ist auf die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts in der jeweiligen Prozesssituation abzustellen. Die diesbezüglichen Anforderungen sind hoch. Ein Anwalt muss sein Büro in der Weise organisieren, dass der Gefahr von Fristversäumungen durch alle nur möglichen zumutbaren Maßnahmen vorgebeugt wird (Grandel, a. a. O., Rn 4).
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2. Im vorliegenden Fall beruhte die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist darauf, dass die Beklagtenvertreterin unvorhergesehen an Schwindel litt und auch nicht mehr daran denken konnte, einen Kollegen zu bitten, die Berufungsschrift zu fertigen. Hinzu kam, dass die Beklagtenvertreterin nachdem sich der Schwindel gelegt hatte, sich gegen 19:00 Uhr zurück in die Kanzel begeben wollte, an der Kanzleitür jedoch feststellen musste, dass sie ihren Schlüssel im Zuge ihres Schwindels in der Kanzlei zurückgelassen hat. Einen Kanzleimitarbeiter, der ihr die Tür aufsperren hätte können, habe sie nicht erreichen können.
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3. Der krankheitsbedingte Ausfall der Rechtsanwältin am letzten Tag der Frist rechtfertigt für sich genommen noch keine Wiedereinsetzung. An einer schuldhaften Fristversäumung fehlt es nur dann, wenn in Folge der Erkrankung weder kurzfristig ein Vertreter eingeschaltet noch ein Verlängerungsantrag gestellt werden konnte; dies ist glaubhaft zu machen (vgl. BGH NJW-RR 2021, 635, beck-online). Eine Fristverlängerung für die Einlegung der Berufung ist gesetzlich nicht möglich. Aber dazu, welche Anstrengungen die Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters, gar ihres Kanzleikollegen oder eines anderen Rechtsanwaltskollegen, nachdem der Schwindel vorbei war, unternommen hat, haben die Beklagten bereits nicht dargelegt. So hätte hierzu durchaus ein Zeitraum von über 4 Stunden zur Verfügung gestanden. Dem Senat erscheint nicht fernliegend, dass Kanzleimitarbeiter oder andere Rechtsanwälte innerhalb dieses Zeitraums noch erreicht worden und in der Lage gewesen wären, per beA die schlichte Berufungseinlegung zu veranlassen. Unter diesen Umständen kann auch dahinstehen, ob die Beklagtenvertreterin – wozu auch nicht vorgetragen wurde – für ihren Fall der Erkrankung hinreichende Vorkehrungen/Anweisungen dafür erteilt hat, dass zwingend (nicht verlängerbare) fristgebundene Schriftsätze dennoch den Adressaten rechtzeitig erreichen. Zu Recht verweist der Klägervertreter in diesem Zusammenhang darauf, dass offensichtlich die Kanzleikraft ihren Arbeitsplatz verlassen hat, ohne dass die Frist gestrichen war bzw. werden konnte.
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Da die Berufung nicht innerhalb der Frist gemäß § 520 Abs. 2 ZPO begründet wurde und die Voraussetzungen für eine Wiedersetzung in die Berufungsfrist nicht vorliegen, war die Berufung gemäß § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig zu verwerfen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 100 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47, 48 GKG i.V.m. § 3 ZPO.