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VG München, Urteil v. 02.03.2023 – M 27 K 20.2432
Titel:

Untätigkeitsklage, Nichtentscheidung über Einbürgerungsantrag ohne zureichenden Grund, Vorfall häuslicher Gewalt beim Einbürgerungsbewerber, Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse

Normenketten:
VwGO § 75 S. 1
StAG § 10 Abs. 1 S. 1
Schlagworte:
Untätigkeitsklage, Nichtentscheidung über Einbürgerungsantrag ohne zureichenden Grund, Vorfall häuslicher Gewalt beim Einbürgerungsbewerber, Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse
Fundstelle:
BeckRS 2023, 50730

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

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Der 1988 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im September 2010 war er vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 12. Juli 2011 als Flüchtling anerkannt worden. Im Jahr 2016 war ihm eine Niederlassungserlaubnis erteilt worden, nachdem er im September 2013 in Teheran eine Afghanin geheiratet hatte. Sein Bruder N. hatte dort zum gleichen Zeitpunkt die Schwester dieser Afghanin geheiratet. Ebenfalls im Jahr 2016 kam eine Tochter des Klägers im Bundesgebiet zur Welt.
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Am 26. November 2018 beantragte der Kläger beim Landratsamt … (Landratsamt) seine Einbürgerung und legte hierzu zahlreiche Dokumente und Unterlagen über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor. Als Adresse gab er „S.-Weg 14“ in … an. Dort lebe er zusammen mit seiner Frau M., seinem Bruder N. und dessen Frau D. in einer gemeinsamen Wohnung.
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Am 6. September 2019 ging beim Landratsamt eine Auskunft der Kriminalpolizeiinspektion … zur ausländerrechtlichen Sicherheitsprüfung ein, wonach in der landespolizeilichen Vorgangsverwaltung eine Anzeige gegen den Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung eingetragen sei. In einem am 19. September 2019 dem Landratsamt übersandten polizeilichen Kurzbericht „Häusliche Gewalt“ wird ein Einsatz einer Streifenbesatzung am … Juni 2019 um 11:50 Uhr in der Wohnadresse des Klägers geschildert. Frau D. habe bei der Einsatzzentrale angerufen und mitgeteilt, dass sie von ihrem Ehemann bedroht und geschlagen worden sei. Beim Eintreffen der Beamten in der Wohnung hätten die Frauen D. und M. sichtlich eingeschüchtert gewirkt. Die Beamten hätten den Eindruck gehabt, es wäre den Frauen etwas zugestoßen, was jedoch im Beisein der Ehemänner nicht zum Vorschein gekommen sei. Die Frauen seien zur Seite genommen und in einem separaten Raum ruhig befragt worden. Es habe sich ergeben, dass Frau D. nach einer Diskussion mit ihrem Ehemann von diesem mit seinem Handy auf den linken Handrücken geschlagen worden sei. Kurz vor dieser Diskussion habe es auch Probleme zwischen dem Kläger und dessen Ehefrau gegeben. Die lautstarke Diskussion habe am Ende dazu geführt, dass der Kläger seine Ehefrau stärker gewürgt habe, sodass leicht blutunterlaufene Würgemale zu erkennen gewesen seien. Als einer der Beamten Frau M. auf diese Würgemale angesprochen habe, habe diese zu weinen begonnen und lediglich geflüstert: „Mein Mann“. Keine der beiden Frauen habe sich im Beisein der Ehemänner etwas zu sagen getraut. In einem weiteren polizeilichen Bericht vom 18. Oktober 2019 ist erwähnt, dass von polizeilicher Seite mit beiden Frauen telefonisch Kontakt aufgenommen worden sei. Beide hätten angegeben, seit die Polizei dagewesen sei, sei es zu keinerlei Vorfällen im Rahmen häuslicher Gewalt mehr gekommen. Zu einer Aussage oder Strafantragstellung gegen den jeweiligen Ehemann sei keine der beiden Geschädigten bereit gewesen. Das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung (** … …*) war von der Staatsanwaltschaft München II am 4. November 2019 eingestellt worden.
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Nach einer innenministeriellen Bewertung des Vorgangs (IMS v. 10.6.2020) forderte die Regierung von Oberbayern (Regierung) das Landratsamt auf, beim Kläger eine Sicherheitsanhörung durchzuführen, die daraufhin am 7. Juli 2020 im Landratsamt stattfand. Auf die Frage, ob es schon mal vorgekommen sei, dass er seiner Ehefrau gegenüber Gewalt angewendet habe, erklärte der Kläger, es sei nicht Gewalt, sondern eine Diskussion in der Wohnung mit seiner Schwägerin und seinem Bruder gewesen. Er habe keine Gewalt angewendet (Frage 21). Unter Vorhalt des Polizeiberichts auf die Frage, ob es sich noch an den Vorfall am … Juni 2019 erinnere, als die Polizei bei ihm zu Hause gewesen sei, als seine Frau Würgemale am Hals gehabt habe und dass das so ganz ohne Gewalt nicht gewesen sein könne, erklärte der Kläger, dass das eigentlich nicht so gewesen sei. Sie sei im Zimmer seines Bruders gewesen, er habe ihr gesagt, dass sie da rausgehen solle (Frage 22).
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Das Landratsamt legte mit Schreiben vom 13. Juli 2020 der Regierung ein Bewertungsschreiben vor und empfahl darin, das Einbürgerungsverfahren für zwei Jahre zurückzustellen, um abzuwarten, ob es einen erneuten Vorfall von häuslicher Gewalt gebe. Die Regierung übersandte mit Schreiben vom 17. Juni 2020 dem Landratsamt in Beantwortung dieses Schreibens ein (weiteres) innenministerielles Schreiben vom 22. September 2020 (* …*). Darin wird u.a. ausgeführt, insgesamt sei festzuhalten, dass sich aus den polizeilichen Feststellungen und den im Zusammenhang mit den Vorfällen erfolgten Angaben des Klägers, die einstudiert und unglaubwürdig wirken würden, nach wie vor deutliche Zweifel ergeben würden, ob sich der Kläger hinreichend in die deutschen Lebensverhältnisse eingeordnet habe. Eine abschließende Bewertung sei derzeit nicht möglich. Hierzu bedürfe es noch einer Wohlverhaltensfrist bis Mitte des Jahres 2023. Nach Ablauf dieser Frist könne das Einbürgerungsverfahren fortgesetzt werden, sofern keine weiteren polizeilichen Erkenntnisse mehr über „polizeiliche“ (gemeint wohl: häusliche) Gewalt angefallen seien. In diesem Fall könne davon ausgegangen werden, dass dann eine hinreichende Einordnung erfolgt sei. Bei der Fortführung des Verfahrens werde gebeten, mit dem Kläger nochmals ein umfassendes Gespräch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen und ein Bekenntnis hierzu abgeben zu lassen.
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Bereits am *. Juni 2020 ließ der Kläger beim Bayerischen Verwaltungsgerichts München Untätigkeitsklage erheben (M 25 K 20.2432) und beantragen,
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den Beklagten zu verurteilen, ihn in den deutschen Staatsverband einzubürgern.
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Zur Begründung ließ er vortragen, nachdem bis zum 3. Juni 2020 trotz mehrfacher vorheriger Sachstandsanfragen beim Landratsamt von diesem keine Entscheidung getroffen worden sei, sei Klage geboten. Alle Voraussetzungen für eine Einbürgerung gemäß § 10 StAG lägen vor.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Mit Schreiben vom 2. Juli 2020 beantragte das Landratsamt die Aussetzung des Verfahrens, damit aufgrund des Vorfalles von häuslicher Gewalt vom … Juni 2019 sowie aufgrund einer entsprechenden innenministeriellen Anweisung eine Anhörung des Klägers erfolgen könne. Der Bevollmächtigte des Klägers stimmte dem Ruhen des Verfahrens mit Schreiben vom *. August 2020 nicht zu und wies darauf hin, dass er auch das Einbürgerungsverfahren des Bruders N. des Klägers vor Gericht vertrete (M 25 K 20.2430). Das Ermittlungsverfahren sei seit mehreren Monaten gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden, auch eine Anhörung des Klägers durch das Landratsamt und Sicherheitsbehörden habe bereits stattgefunden.
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Mit Schreiben vom 16. November 2020 teilte das Landratsamt mit, dass am 7. Juli 2020 die sicherheitsrechtliche Anhörung des Klägers durchgeführt worden sei. Das Wortprotokoll der Anhörung sowie die bewertende Stellungnahme der Einbürgerungsbehörde hierzu sei am 13. Juli 2020 an die Regierung zur sicherheitsrechtlichen Bewertung gesandt worden. Am 7. Oktober 2020 habe die Einbürgerungsbehörde die einbürgerungsrechtliche Bewertung der Anhörung sowie die Anordnung des weiteren Fortgangs des Einbürgerungsverfahren von der Regierung sowie vom Innenministerium erhalten. Hiernach sei eine abschließende Bewertung, ob der Kläger tatsächlich bereits in Deutschland angekommen sei und sich damit auch hinreichend in die deutschen Lebensverhältnisse eingeordnet habe, sowie, ob er ein Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung auch inhaltlich wirksam abgeben könne, derzeit nicht möglich. Nach Auffassung des Innenministeriums bedürfe es hierzu einer Wohlverhaltensfrist bis Mitte des Jahres 2023. Erst nach Ablauf dieser Frist können davon ausgegangen werden, dass eine hinreichende Einordnung erfolgt sei, sofern keine weiteren polizeilichen Erkenntnisse mehr über „polizeiliche“ (gemeint wohl: häusliche) Gewalt angefallen seien.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 25. Januar 2022 wurde den Beteiligten mitgeteilt, dass das Verfahren an eine andere Kammer des Gerichts abgegeben worden sei und das neue Aktenzeichen M 24 K 20.2432 erhalte. Mit Schreiben vom … November 2022 erhob der Bevollmächtigte des Klägers Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 GVG. Es bestehe Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werde. Mit gerichtlichem Schreiben vom 13. Januar 2023 wurde den Beteiligten mitgeteilt, dass das Verfahren an die nunmehr zuständige Kammer des Gerichts abgegeben worden sei und das neue Aktenzeichen M 27 K 20.2432 erhalte.
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Das Landratsamt, welches zunächst mit Schreiben vom 12. Januar 2023 dem Gericht mitgeteilt hatte, die Wohlverhaltensfrist von zwei Jahren sei im Verfahren des Klägers positiv verlaufen, aktuell eingeholte Stellungnahmen der Kriminalpolizei sowie des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz würden keine Erkenntnisse dem Kläger gegenüber aufweisen, das Einbürgerungsverfahren könne somit fortgesetzt werden, teilte mit Schreiben vom 24. Januar 2023 mit, dass nach einem Hinweis des Innenministeriums vom 20. Januar 2023 die „vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration auferlegte Wohlverhaltensfrist bis 31.06.2023“ andauere. Erst nach Ablauf dieser Frist werde eine erneute Anfrage an die beteiligten Behörden gestellt und das Einbürgerungsverfahren weiterbearbeitet. Auf Anforderung des Gerichts legte das Landratsamt am 8. Februar 2023 den polizeilichen Ermittlungsbericht vom … Juni 2019 vor.
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In der mündlichen Verhandlung vom 2. März 2023, in welcher die Gerichtsakten zum Einbürgerungsverfahren des Bruders N. des Klägers (M 27 K 20.2430) beigezogen wurden, erklärte die Vertreterin des Beklagten, aus ihrer Sicht stelle das innenministerielle Schreiben vom 22. September 2022 eine Anweisung dar, dass die Einbürgerungsbehörde vor Ablauf einer Wohlverhaltensfrist Ende Juni 2023 das Einbürgerungsverfahren des Klägers nicht fortsetzen dürfe. Die Auferlegung einer Wohlverhaltensfrist sehe sie in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG begründet, wonach die Einordnung eines Einbürgerungsbewerbers in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet sein müsse. Das Auferlegen dieser Frist beruhe auf prozessökonomischen Gründen und auf Erhalt der vom Kläger bei Antragstellung bereits gezahlten Gebühr, die dieser bei Fortsetzung des Antrags nicht mehr (erneut) bezahlen müsse.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachstandes wird auf Gerichts und Behördenakten sowie auf die beigezogene Akte im Verfahren M 27 K 20.2430 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Einbürgerung.
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1. Die Untätigkeitsklage ist gemäß § 75 Satz 1 VwGO zulässig, da zum Zeitpunkt der Klageerhebung kein zureichender Grund bestand, nicht sachlich über den Einbürgerungsantrag des Klägers zu entscheiden. Dem Landratsamt ist der Vorfall von häuslicher Gewalt vom … Juni 2019 am 6. September 2019 als Eintragung in der polizeilichen Vorgangsverwaltung bekannt geworden. Der diesbezügliche polizeiliche Ermittlungsbericht datiert vom 19. September 2019 und ging nach den vom Landratsamt dem Gericht erstmals am 8. Februar 2023 auf entsprechende gerichtliche Anforderung hin vorgelegten Unterlagen am 19. September 2019 in Abdruck an das Ausländeramt des Landratsamts. Eine gegebenenfalls erforderliche einbürgerungsrechtliche Anhörung des Klägers hierzu hätte innerhalb der darauffolgenden Monate erfolgen können. Ein hinreichender Grund, mit dieser Anhörung bis Juli 2020 zu warten, ist nicht erkennbar.
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Ebenfalls kein hinreichender Grund, seitens der Einbürgerungsbehörde über den Einbürgerungsantrag des Klägers nicht zu entscheiden, ist das dem Gericht vorgelegte innenministerielle Schreiben vom 22. September 2019. Die darin gegenüber der Regierung geäußerte Auffassung, es bedürfe einer „Wohlverhaltensfrist“ bis Mitte des Jahres 2023, bevor über den Antrag des Klägers entschieden werden könne, entspricht nicht den einbürgerungsrechtlichen Grundlagen und kann insbesondere nicht auf § 10 Abs. 1 Satz 1 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) in der Fassung seit 2019 gestützt werden. Die Auferlegung einer „Wohlverhaltensfrist“ ist weder im Staatsangehörigkeitsgesetz noch in anderen vorliegend anzuwendenden Vorschriften vorgesehen. Ebenso rechtswidrig wäre im Übrigen wohl eine Anweisung gegenüber der Einbürgerungsbehörde gewesen, das Verfahren für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren nicht weiterzubearbeiten. Aufgrund der im Schreiben des Innenministeriums vom 22. September 2019 geäußerten deutlichen Zweifel daran, ob sich der Kläger hinreichend in die deutschen Lebensverhältnisse „eingeordnet hat“, hätte das Landratsamt umso mehr Anlass gehabt, den Antrag des Klägers deshalb abzulehnen, weil dieser seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nicht im Sinne von § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG gewährleistet. Ob der Kläger nach Ablauf von zwei bzw. zweieinhalb Jahren erneut seine Einbürgerung beantragt, ist ihm überlassen. Ob die Einbürgerungsbehörde dann aufgrund von Zeitablauf die Gewährleistung als erfüllt ansieht, obliegt ihrer Beurteilung und Entscheidung.
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2. Die Untätigkeitsklage ist jedoch unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch darauf hat, eingebürgert zu werden (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Abzustellen ist hierbei auf das Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 in der Fassung vom 4. August 2019 (BGBl I S. 1124, zuletzt geändert durch Art. 1 Viertes ÄndG v. 12.8.2021, BGBl. I S. 3538)
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Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG ist ein Ausländer, der die sonstigen Voraussetzungen erfüllt, dann auf Antrag einzubürgern, wenn er „seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse gewährleistet“. Diese Voraussetzung war im Falle einer Ermessenseinbürgerung in § 8 StAG schon seit 1969 enthalten und wurde vom Gesetzgeber aufgrund einer vorangegangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage des gleichzeitigen Verheiratetseins mit mehreren Ehegatten als Einbürgerungshindernis (U.v. 29.5.2018 – 1 C 15/17 – BVerwGE 162, 153 – juris) im August 2019 auch in § 10 StAG als Voraussetzung für eine Anspruchseinbürgerung aufgenommen (vgl. zum Ganzen VGH BW, B.v. 20.8.2020 – 12 S 629/19 – juris Rn. 32 ff.; Berlit in GK zum StAR, Stand Dezember 2022, § 10 StAG Rn. 330.1 ff.). Da für die Beurteilung des Einbürgerungsbegehrens des Klägers die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Kammer maßgeblich ist (BVerwG, U.v. 1.6.2017 – 1 C 16.16 – juris Rn. 9), gilt trotz des Zeitpunktes der Antragstellung noch 2018 und damit vor Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes in der Fassung vom 4. August 2019 (BGBl. I.S. 1124) am 9. August 2019 die geänderte Fassung von § 10 StAG mit der oben genannten Ergänzung „Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“.
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Die „Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Beurteilung unterliegt (vgl. VGH BW, B.v. 20.8.2020 a.a.O. Rn. 41 m.w.N.). Der Begriff „Einordnung“ lässt Raum für eine Auslegung, die auch jenseits der stets vorauszusetzenden Bereitschaft zur Beachtung von Gesetz und Recht auch eine tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens, die als unverzichtbare außerrechtliche Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens zu werten sind, verlangt (BVerwG, U.v. 29.5.2018 a.a.O. Rn. 20; ebenso Begründung zur Beschlussempfehlung der jetzigen Fassung des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG, BT-Drs. 19/11083 v. 25.6.2019, S. 10 f.). Als einen Fall nicht gewährleisteter Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse nennt die 2019 entsprechend geänderte Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG die Mehrehe, und zwar offensichtlich auch dann, wenn die Doppelehe im Ausland wirksam geschlossen wurde und nicht gegen das deutsche Strafrecht verstößt (vgl. BVerwG, U.v. 29.5.2018 a.a.O. Rn. 24). Lehnt ein Einbürgerungsbewerber infolge einer fundamentalistischen Kultur- und Wertevorstellung das Händeschütteln mit jeglicher Frau deshalb ab, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung bzw. unmoralischen Handelns gilt, dann gewährleistet er damit ebenfalls nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse (VGH BW, B.v. 20.8.2020 a.a.O. Rn. 52, 59), obwohl auch dieses Verhalten der Verweigerung des Frauenhändeschüttelns nicht strafbar ist.
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Auch das Würgen der Ehefrau im Rahmen häuslicher Gewalt mit der Folge sichtbarer blutunterlaufener Würgemale gewährleistet die Einordnung in die deutschen Lebensverhaltnisse im Sinne von § 10 Abs. 1 nicht, und zwar unabhängig von der Strafbarkeit dieses Verhaltens. Deshalb kommt es auf die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Weise der Vorfall vom … Juni 2019 in der Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau zu einer Strafverurteilung des Klägers geführt hat, für die Frage seiner Einbürgerung nicht an. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die im Kurzbericht enthaltenen Beobachtungen der Einsatzkräfte am … Juni 2019 zu diesem Vorfall der Wahrheit entsprechen und die Situation wahrheitsgemäß wiedergeben, insbesondere auch deshalb, weil in einem nachfolgenden polizeilichen Bericht zu diesem Vorfall vom 18. Oktober 2019 beide Frauen in einem nachfolgenden polizeilichen Telefon Kontakt angegeben hatten, seit die Polizei da gewesen sei, sei es zu keinerlei Vorfällen im Rahmen häuslicher Gewalt mehr gekommen. Dieser nachfolgende Kontakt und die darin getätigten Aussagen der Frauen bestätigt, dass es vorher zumindest einen solchen Vorfall gegeben haben muss. Weil es demnach substantiierte Hinweise darauf gibt, dass der Kläger seine Frau in der von den Polizeibeamten beschriebenen Weise misshandelt hat, gewährleistet er nicht seine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse.
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Der Kläger kann nicht einwenden, dass der Gesetzgeber in § 11 StAG („Ausschluss der Einbürgerung“) einen abschließenden Kanon von Gründen aufgeführt hat, der einer Einbürgerung entgegensteht, mit der – vermeintlichen – Folge, dass jegliches anderes Verhalten dem nicht entgegenstehe. Ebenso kann er nicht einwenden, dass abgesehen von den in § 12a StAG genannten Tatbeständen (etwa § 12a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2: „Verurteilung zu Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen“) Verhaltensweisen, die etwa zu niedrigeren Verurteilungen geführt haben, nicht gleichwohl Hinweis sein können auf das Fehlen einer „Gewährleistung der Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ im oben dargestellten Sinn. Das Verhaftetsein eines Einbürgerungsbewerbers in patriarchalischen Familienstrukturen und eine hierauf beruhende Missachtung elementarer grundrechtlicher Freiheits- und Gleichheitsprinzipien kann bei Ablehnung des Grundsatzes der Gleichberechtigung der Geschlechter, eines Rechts auf schulischer Bildung, der Achtung jeglicher sexuelle Identität oder der vollen und wirksamen gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen äußerlich wahrnehmbare und bestätigte Formen annehmen, die eine solche Gewährleistung als nicht erfüllt erscheinen lassen, auch wenn eine klare Grenzziehung hierzu nicht immer möglich sein mag (näher Berlit a.a.O. Rn. 330.7).
II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung hingegen auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.