Inhalt

AG Erding, Endurteil v. 13.07.2023 – 104 C 1182/23
Titel:

Führen nur Verschärfungen der Einreisebedingungen zu einem Nachfragerückgang für eine Flugverbund sind dies keine besonderen Umstände nach Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechte-VO

Normenkette:
VO (EG) 261/2004 Art. 5 Abs. 1 lit. c, Art. 5 Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 lit. b
Leitsatz:
Ein Nachfragerückgang für eine Flugverbindung, der allein darauf beruht, dass sich die Einreisebedingungen für die Passagiere aufgrund der COVID-19-Pandemie verschärft haben, begründet keine außergewöhnlichen Umstände iSv Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fluggastrechteverordnung, COVID-19 Pandemie, Einreisebedingungen, Nachfragerückgang, außergewöhnliche Umstände, Ausgleichszahlung
Rechtsmittelinstanz:
LG Landshut, Hinweisbeschluss vom 25.06.2024 – 12 S 1898/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 50669

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Kläger zu 1) und zu 2) jeweils einen Betrag in Höhe von 400,00 €, jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von jeweils 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz jeweils seit 19.04.2023 zu bezahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 800,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren eine Ausgleichszahlung nach Flugannullierung.
2
Die Kläger buchten einen Flug mit der Beklagten von München nach Reykjavik für den 20.09.2020, FI 533, mit planmäßigem Start um 14:05 Uhr und vorgesehener Landung um 16:00 Uhr und einer Flugdistanz von mehr als 1.500 km. Der Flug wurde von der Beklagten annulliert, worüber die Kläger weniger als 2 Wochen vor planmäßigem Abflug unterrichtet wurden. Die isländische Regierung hatte aufgrund der COVID-10-Pandemie die Einreisebestimmungen verschärft, weshalb viele betroffene Flugpassagiere keine Buchungen mehr vorgenommen oder storniert haben. Der streitgegenständliche Flug hat am 04.09.2020 nur noch eine Auslastung von 11 % aufgewiesen, wobei die Auslastung noch am 17.08.2020 bei 32 % gelegen hat. Die Beklagte hat sich daher 2 Tage vor planmäßigem Start zur Annullierung des streitgegenständlichen Fluges entschlossen. Für den 20.09.2020 sind bei der Beklagten insgesamt 11 Flugumläufe gestrichen worden und nur noch 7 Flüge der Beklagten zur tatsächlichen Durchführung verblieben. Hätte die Beklagte den streitgegenständlichen Flug durchgeführt, wären bei einer zu erwartenden Auslastung von 11-15 % nur noch 21-27 Passagiere mit einem Flugzeug mit 183 Sitzplätzen transportiert worden. Die Kläger wurden von der Beklagten umgebucht auf eine Verbindung mit Lufthansa von München nach Kopenhagen und von dort weiter mit der Beklagten nach Reykjavik. Die Kläger erreichten ihr Reiseziel am 20.09.2020 mit einer Verspätung von 2 Stunden und 50 Minuten gegenüber ihrer Buchung.
3
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1. und zu an die Klägerin zu 2. jeweils einen Betrag in Höhe von 400,00 EUR, jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
4
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
5
Die Beklagte wendet ein, dass die Annullierung aus ihrer Sicht auf außergewöhnlichen Umständen beruhe. Da die coronabedingten staatlichen Restriktionen für den drastischen Rückgang der Auslastung ursächlich seien, könne sich die Beklagte entsprechend den Auslegungsleitlinien der Europäischen Kommission nach Art. 5 Abs. 3 VO entlasten. Die Durchführung des streitgegenständlichen Fluges mit nur noch 21-27 Passagieren mit einem Flugzeug mit 183 Sitzplätzen sei der Beklagten, da die Ticketeinnahmen nun außer Verhältnis zu den Flugkosten gestanden hätten, nicht mehr zumutbar gewesen.
6
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die Schriftsätze der Klagepartei vom 20.02.2023 und vom 22.05.2023 sowie der Beklagten vom 04.05.2023 und vom 30.05.2023, nebst Anlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

7
Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.
I.
8
Die Kläger können von der Beklagten eine Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils 400,00 € aus Art. 5 Abs. 1 lit.c (iii), 7 Abs. 1 lit.b) der VO (EG) 261/2004 verlangen.
9
1. Der Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordung ist gem. Art. 3 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 lit.a VO (EG) 261/2004 eröffnet. Die Kläger wollten den Flug in München im Gemeinschaftsgebiet antreten und verfügten über eine Buchungsbestätigung.
10
2. Der Flug wurde von der Beklagten annulliert. Die Kläger wurde von der Beklagten zudem weniger als 7 Tage vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet. Den Klägern wurde von der Beklagten kein Ersatzflug innerhalb der zeitlichen Vorgaben nach Art. 5 Abs. 1 lit.c (iii) VO (EG) 261/2004 angeboten, sodass der Ausgleichsanspruch auch nicht ausgeschlossen ist.
11
3. Die Beklagte kann sich nicht aufgrund außergewöhnlicher Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 entlasten.
12
a) Nach den Erwägungsgründen (14) und (15) sowie Art. 5 Abs. 3 der VO (EG) 261/2004 in der Auslegung durch den EuGH ist das Luftfahrtunternehmen von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen an die Fluggäste gem. Art. 7 Abs. 1 VO (EG) 261/2004 befreit, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und es bei Eintritt eines solchen Umstands die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt, ohne dass jedoch von ihm angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer verlangt werden könnten (vgl. EuGH, Urt. vom 04.04.2019 – C-501/17 – Germanwings, RRa 2019, 109, Rz. 19 und EuGH, Urt. vom 11.06.2020, C-74/19 – TAP, RRa 2020, 187 Rz. 36). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH können dabei als „außergewöhnliche Umstände“ i.S.v. Art. 5 Abs. 3 der Verordnung Nr. 261/2004 Vorkommnisse angesehen werden, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind, wobei diese beiden Bedingungen kumulativ erfüllt sein müssen, vgl. EuGH, Urt. v. 12.3.2020 – C-832/18 – Finnair, RRa 2020, 72, Rz. 38. Als außergewöhnliche Umstände in diesem Sinne werden von der Rechtsprechung paradigmatisch Naturkatastrophen, versteckte Fabrikationsfehler oder terroristische Sabotageakte angeführt, vgl. EuGH (4. Kammer), Urteil vom 22.12.2008 – C-549/07 Wallentin-Herman/Alitalia – Linee Aeree Italiana SpA, NJW 2009, 347 und BGH, Urteil vom 12.11.2009 – Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070. In den Erwägungsgründen (14) und (15) der VO (EG) 261/2004 sind als außergewöhnliche Umstände beispielsweise politische Instabilität, schlechte Wetterbedingungen, unerwartete Sicherheitsrisiken und Flugsicherheitsmängel, beeinträchtigender Streik und Entscheidungen des Flugverkehrsmanagements genannt, wobei auch diese Aufzählung nicht abschließend ist.
13
b) Die Annullierung des streitgegenständlichen Fluges beruht zur Überzeugung des Gerichts nicht auf solchen außergewöhnlichen Umständen i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004. Die Durchführung des streitgegenständlichen Fluges wäre vielmehr unstreitig auch unter Berücksichtigung der zum damaligen Zeitpunkt vorherrschenden COVID-19-Pandemie möglich gewesen. Es gab unstreitig weder ein staatlich noch ein behördlich angeordnetes Flugverbot für die Flugverbindung von München nach Rejkjavik oder ein Einreiseverbot für die Kläger oder die weiteren Fluggäste, welche diesen Flug gebucht hatten. Lediglich die isländischen Einreisebedingungen haben sich zu dieser Zeit unstreitig dahingehend verändert, dass einreisende Flugpassagiere vor der Ankunft in Island eine Online-Anmeldung durchführen und bei der Einreise negative Corona-Tests vorlegen bzw. eine mehrtägige Quarantäne-Zeit einhalten mussten. Die Umbuchung der Kläger auf einen Flug von München über Kopenhagen nach Rejkjavik vom selben Tage und die unstreitig erfolgte Durchführung dieses Ersatzfluges mit den Klägern belegen, dass tatsächlich keine staatlichen oder behördlichen Restriktionen angeordnet wurden, die eine Personenluftbeförderung mit dem streitgegenständlichen Flug von München nach Rejkjavik oder eine Einreise der Kläger in Island per Flugzeug verhindert hätten. Die Kläger sind unstreitig mit dem Ersatzflug am selben Tag geflogen und in Island eingereist. Die Beklagte war auch nicht durch behördliche Auflagen oder Beschränkungen des Personenverkehrs zur Annullierung des Fluges gezwungen. Den in den Erwägungsgründen (14) und (15) vom Verordnungsgeber exemplarisch angeführten entlastenden Umständen ist gemeinsam, dass sie jeweils die tatsächliche Flugdurchführung oder die Flugsicherheit in Frage stellen. Eine solche Situation ist hier nicht gegeben. Denn vorliegend hätte der streitgegenständliche Flug tatsächlich planmäßig durchgeführt werden können, ohne dass die Flugsicherheit beeinträchtigt gewesen wäre. Eine Infektionsgefahr für die Mitarbeiter und Passagiere ist durch das Zusammenlegen mehrerer Flüge im Übrigen auch nicht reduziert, sondern durch das Generieren einer höheren Auslastung pro Flug vielmehr sogar erhöht worden. Aspekte des Umweltschutzes spielen im Rahmen von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 keine Rolle.
14
c) Entgegen der Auffassung der Beklagten begründet ein Nachfragerückgang für eine Flugverbindung, auch soweit er tatsächlich allein darauf beruhen sollte, dass sich die Einreisebedingungen für die Passagiere aufgrund der COVID-19-Pandemie verschärft haben, keine außergewöhnlichen Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004. Der Ausnahmetatbestand des Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 ist restriktiv auszulegen. Ein pandemiebedingter Nachfragerückgang kann entgegen der für das Gericht nicht bindenden Anmerkung unter Ziff. 3.4 in den Auslegungsleitlinien der Europäischen Kommission, vgl. Bekanntmachung der EU-Kommision vom 18.03.2020, Auslegungsleitlinien zu den EU-Verordnungen über Passagierrechte vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Situation im Zusammenhang mit Covid-19, (2020/C 89 I/01), zu keiner Entlastung führen. Die von der Kommission gewählte, konturlos weit gefasste Formulierung „in solchen Situationen kann es legitim sein (…) den Flug zu annullieren“ begründet ein Einfallstor für wirtschaftliche Erwägungen von Luftfahrtunternehmen, die aber Lichte des tragenden Erwägungsgrundes der VO (EG) 261/2004, ein hohes Schutzniveau für Verbraucher zu schaffen, zu keiner Entlastung führen können, vgl. Staudinger/Achilles-Pujol in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 89. Ist die Annullierung eines Fluges wie vorliegend primär auf die Folge einer Umplanung des Flugprogramms aufgrund ökonomischer Überlegungen eines Luftfahrtunternehmens zurückzuführen (hier: die Umbuchung der Fluggäste zur besseren Auslastung der Flugzeuge) liegt nach zutreffender Ansicht des HG Wien (19.3.2021 – 60 R 20/21 b, BeckRS 2021, 30117 = RRa 2021, 244; ebenso AG Köln 2.2.2021 – 120 C 64/20, BeckRS 2021, 3684 Rn. 27) kein außergewöhnlicher Umstand vor, vgl. BeckOK Fluggastrechte-VO/Schmid, 27. Ed. 1.7.2023, Fluggastrechte-VO Art. 5 Rn. 208 a. Eine Entlastung nach Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 scheidet aus, wenn die Annullierung primär aus wirtschaftlichen oder organisatorischen Gründen erfolgt, zum Beispiel weil die an sich plangemäß einsetzbare Maschine wegen des Ausbleibens von Buchungen bzw. der Häufung von Stornierungen unzureichend besetzt hätte fliegen müssen, vgl. so auch Woitkewitsch, NJW 2022, 1134 Rn. 3. So liegt es hier.
15
4. Die gem. Art. 7 Abs. 1 S. 2 VO (EG) 261/2004 zu Grunde zu legende Entfernung zwischen dem Abflughafen München und dem Zielflughafen in Rejkjavik beträgt nach der gem. Art. 7 Abs. 4 VO (EG) 261/2004 maßgeblichen Großkreisberechnungsmethode mehr als 1.500 Kilometer, sodass sich die Anspruchshöhe jeweils aus Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit.b) VO (EG) 261/2004 ergibt und jeweils 400,00 € beträgt.
II.
16
Die Verurteilung zur Zahlung der Zinsen folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
III.
17
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
IV.
18
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.