Titel:
Ausweisung eines wegen Straftaten verurteilten Ausländers mit Niederlassungserlaubnis
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. c, § 55 Abs. 1 Nr. 1
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
Leitsatz:
Der weitere Aufenthalt eines straffällig gewordenen Ausländers kann auch dann die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden, wenn zwar von ihm selbst keine Gefahr mehr ausgeht, aber im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer nicht wirksam von vergleichbaren Verstößen abgehalten werden. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tunesischer Staatsangehöriger, Ausweisung, Vergewaltigung in der Ehe, Zugrundelegung der Feststellungen des Strafurteils, tunesischer Statsangehöriger, Niederlassungserlaubnis, Verurteilung wegen Straftaten, spezialpräventive Gründe, Wiederholungsgefahr, generalpräventive Gründe
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 12.06.2024 – 10 ZB 23.1363
Fundstelle:
BeckRS 2023, 50214
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der am … geborene Kläger ist tunesischer Staatsangehöriger und reiste im Jahr 1996 in das Bundesgebiet ein. Wenige Wochen nach der Einreise heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Dem Kläger wurde am 24. April 1996 eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die in der Folgezeit verlängert wurde. Seit 18. Mai 2004 ist er im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, die als Niederlassungserlaubnis fortgilt. Die Ehe wurde im Jahr 2001 geschieden. Aus der Ehe ist die am … 1998 geborene Tochter hervorgegangen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und bei der Mutter aufgewachsen ist.
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Nach strafgerichtlichen Feststellungen war der Kläger von 2002 bis 2015 mit einer tunesischen Staatsangehörigen verheiratet und lebte mit seiner Ehefrau in … Im Jahr 2018 ging er mit der in Tunesien lebenden Schwester seiner ehemaligen Mitbewohnerin eine Ehe ein, die nicht vollzogen und noch im selben Jahr aufgelöst wurde. Im August 2018 heiratete der Kläger in Tunesien die tunesische Staatsangehörige A.T.
Diese reiste im April 2019 im Rahmen des Familiennachzugs zum Kläger nach Deutschland ein. Seit 31. Mai 2019 leben der Kläger und seine Ehefrau getrennt. Der Kläger hat in Tunesien die Scheidung eingereicht.
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In Tunesien beendete der Kläger die Schule mit dem Abitur und absolvierte anschließend eine Ausbildung in der Gastronomie. Bis 1996 arbeitete er in verschiedenen …-Sterne-Hotels in Tunesien als Restaurantleiter bzw. Betriebsleiter. In Deutschland war der Kläger zunächst als Kellner tätig, stieg in den folgenden Jahren zum Restaurantleiter auf und führte schließlich als Angestellter zwei Betriebe. Im Jahr 2010 wechselte er die Branche und arbeitete fortan als Fahrer und Dolmetscher für das Konsulat der … … … in … Seine Aufgabe bestand hauptsächlich im Transport und in der Begleitung von Medizintouristen. Im Jahr 2017 wurde die Tätigkeit auf eine externe Firma ausgelagert, für die der Kläger bis April 2019 tätig war; es folgten einige Monate Arbeitslosigkeit. Ab Dezember 2019 war der Kläger im Bereich der Personenbeförderung auf Basis einer Umsatzbeteiligung tätig. Der Kläger hat Schulden in Höhe von 7.000 bis 8.000 EUR.
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Strafrechtlich trat der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung:
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1. Amtsgericht … vom … September 2015, fahrlässige Körperverletzung, 50 Tagessätze. Hintergrund war ein vom Kläger verursachter Verkehrsunfall.
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2. Landgericht München I vom … Juli 2020, Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, 2 Jahre 8 Monate Gesamtfreiheitsstrafe.
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Hintergrund war, dass der Kläger im August 2018 in Tunesien die damals 29-jährige tunesische Staatsangehörige A. T. heiratete, die als Jungfrau in die Ehe ging. Im Anschluss an die Feierlichkeiten verbrachte das Paar eine Flitterwoche in Tunesien, während der es zum ersten Geschlechtsverkehr kam. Zurück in Deutschland organisierte der Kläger den Nachzug seiner Ehefrau. Währenddessen schloss diese in Tunesien ihr Studium ab, erwarb Grundkenntnisse der deutschen Sprache und wartete auf die Visumerteilung. Am … April 2019 reiste sie mit einem drei Monate gültigen Visum zum Familiennachzug nach Deutschland ein. Bereits in den ersten Tagen des Zusammenlebens zeigte sich, dass die eigentlich einander fremden Personen nicht miteinander harmonierten und unterschiedliche Erwartungen aneinander hatten. Die Zeit des Zusammenlebens war geprägt von Sprachlosigkeit und wechselseitigen Vorwürfen. Der Kläger zeigte nahezu kein Interesse an seiner Ehefrau, kritisierte ihre Haushaltsführung und empfand ihr Auftreten ihm gegenüber als hochnäsig. Seine Ehefrau wiederum beschwerte sich über sein liebloses Verhalten und darüber, dass er organisatorische Belange wie ihre Wohnsitzanmeldung, die Vorsprache bei der Ausländerbehörde und die Beschaffung einer Krankenversicherungskarte nicht zügig regelte. Während dieses Zeitraums vom 6. bis 16. April 2019 hatte das Ehepaar zweimal einvernehmlich Geschlechtsverkehr. Am späten Abend des … April 2019 kam es in der Ehewohnung zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung. Ausgangspunkt war, dass die Ehefrau ihre Unzufriedenheit mit dem fordernden und lieblosen Verhalten des Klägers ihr gegenüber äußerte. Anschließend zog sie sich in das Schlafzimmer zurück und legte sich schlafen. Der Kläger folgte seiner Ehefrau, legte sich neben sie und begann, diese zu berühren. Sie sagte ihm, dass sie wegen des vorangegangenen Streits keinen Geschlechtsverkehr wünsche, stand aus dem Bett auf und begab sich in Richtung Zimmertür, um das Schlafzimmer zu verlassen. Der Kläger versperrte seiner Ehefrau den Weg aus dem Zimmer. Sodann stieß er sie zurück auf das Bett, wo sie auf dem Rücken zu liegen kam. Der Kläger, der sich bereits der eigenen Hose entledigt hatte, legte sich auf sie. Als sie Anstalten machte, sich aufzurichten, fasste er ihr mit einer Hand an den Hals und drückte sie mit diesem Handgriff zurück auf das Bett. Die Ehefrau wehrte sich gegen das Vorgehen des Klägers, in dem sie diesen von sich wegzudrücken versuchte. Um sie von ihrer Gegenwehr abzuhalten, schlug der Kläger ihr zwei- oder dreimal heftig mit der flachen Hand ins Gesicht. Die Schläge verursachten starke Schmerzen und steigerten die Angst der Ehefrau vor dem Kläger. Dieser fixierte sodann mit seinem linken Unterarm den Brustkorb seiner Ehefrau auf dem Bett und zog ihr mit der rechten Hand die Shorts aus. Er drückte ihre Beine auseinander und führte sein erigiertes Glied in ihre Scheide ein, was ihr leichte Schmerzen im Vaginalbereich bereitete. Die Ehefrau versuchte vergeblich wegzurutschen und sein Glied herauszuziehen, war ihm aber körperlich unterlegen. Der Kläger vollzog über etwa eine Minute hinweg ohne Kondom den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss. Am … April 2019 kam es in der Ehewohnung erneut zu einem Streit, da die Ehefrau die Wohnung verlassen wollte, womit der Kläger nicht einverstanden war. Dem Kläger missfiel, dass seine Ehefrau seine Meinung nicht akzeptierte, wofür er sie maßregeln wollte. Er umfasste mit beiden Händen von vorn ihren Hals und drückte kurzzeitig zu. Nach dem Lösen des Griffs stieß der Kläger seiner Ehefrau mit beiden Händen kraftvoll gegen die Brust, so dass sie zu Boden stürzte. Hierdurch erlitt die Ehefrau eine blutende Hautabschürfung oberhalb des Schlüsselbeins sowie Schmerzen am Gesäß. Am … April 2019 verließ die Ehefrau des Klägers auf dessen Wunsch hin die Ehewohnung und wohnte fortan abwechselnd bei ihren Schwestern. Das Paar entschloss sich jedoch, der Ehe noch eine Chance zu geben, woraufhin die Ehefrau am … Mai 2019 zum Kläger zurückkehrte. Das erneute Zusammenleben war jedoch weiterhin von Sprachlosigkeit geprägt. In der zweiten Maihälfte hatten die beiden zweimal einvernehmlich Geschlechtsverkehr. Nach knapp zwei Wochen scheiterte der Versuch, die Ehe fortzuführen. Nach einem großen Streit in der Nacht zum … Mai 2019 wies der Kläger seine Ehefrau erneut aus der Wohnung. Während sie ihre Sachen packte, bemerkte sie, dass sich ihr Reisepass nicht mehr in der Handtasche befand. Der Kläger hatte nach Ausspruch des Wohnungsverweises in einem unbeobachteten Moment den Reisepass an sich genommen und wollte ihn seiner Ehefrau vorenthalten, um seine Macht über sie zu demonstrieren. Die Ehefrau kündigte an, die Polizei um Hilfe zu rufen. Der Kläger versuchte, seiner Ehefrau das Mobiltelefon abzunehmen, um einen Anruf bei der Polizei zu unterbinden. Letztlich gelang es dem Kläger nach kurzem Kampf, seiner Ehefrau das Telefon zu entreißen, wobei er ihr eine kleine blutende Hautverletzung im Bereich der Fingerknöchel und zwei weitere am linken Arm zufügte. Der Kläger trug seinerseits Kratzspuren am Arm, am Ohr und im Halsbereich davon. Die Ehefrau war sehr aufgebracht und schrie lautstark in der Hoffnung, dass Nachbarn aufmerksam werden würden. In dieser Situation rief der Kläger den Vater der Ehefrau an und sagte ihm, dass dessen Tochter schreie, randaliere und ihn verletzt habe. Zudem müsse sie aus seiner Wohnung heraus. Gegen 6:00 Uhr verließ die Ehefrau die Wohnung mit ihren persönlichen Gegenständen. Der Kläger hatte die Wohnung bereits zuvor verlassen, um dem Streit mit seiner Ehefrau zu entfliehen. Zwischen dem 31. Mai und dem 3. Juni 2019 sendete die Ehefrau an den Kläger zahlreiche Textnachrichten, in denen sie ihm wiederholt ihre Liebe gestand und ihn zunehmend verzweifelt anflehte, sie nicht fallen zu lassen. Andererseits fühlte sie sich vom Kläger getäuscht, der sie nach Deutschland geholt, schlecht behandelt und nach kurzer Zeit verstoßen hatte. Sie wollte so gedemütigt nicht nach Tunesien zurückkehren, wo sie gesellschaftliche Nachteile befürchtete. Andererseits war ihr bewusst, dass sich ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland vom Kläger ableitete. Sie fühlte sich hilflos und machte dafür den Kläger verantwortlich. Sie war verzweifelt und hatte das Gefühl, nicht vor und nicht zurück zu können. Stressbedingt nahm sie zwei Tage lang kaum Nahrung zu sich und trank nur wenig. Am 5. Juni 2019 kollabierte sie auf der Straße und wurde per Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht. Daraufhin ergriff der Schwager der Ehefrau die Initiative zur Strafanzeige. Die Ehefrau fügte sich der Meinung. Da sie bislang ihre Ehe hatte retten wollen, hatte sie zuvor eine Einschaltung der Polizei abgelehnt. Zugunsten des Klägers wurde gewertet, dass die Durchführung vaginalen Geschlechtsverkehrs der für das Ehepaar üblichen Sexualpraxis entsprach, das Eindringen mit dem Penis nur leichte Schmerzen im Vaginalbereich verursachte, der Akt selbst mit rund einer Minute von kurzer Dauer war, die Tatörtlichkeit mit keinem zusätzlichen Übel für die Geschädigte verbunden war und der Kläger nicht einschlägig vorbestraft ist. Zulasten des Klägers wurde gewertet, dass er zusätzlich die Qualifikation des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB und den Tatbestand der Körperverletzung verwirklicht hat, wobei sich die körperliche Misshandlung auf eine kurzzeitige Schmerzzufügung durch zwei heftige Ohrfeigen und leichte Schmerzen im Vaginalbereich beschränkte. Ferner wurde berücksichtigt, dass er den Geschlechtsverkehr ungeschützt und bis zum Samenerguss in die Scheide durchgeführt hat, wobei diesen Umständen wegen der generellen Bereitschaft seiner Ehefrau zum ungeschützten Geschlechtsverkehr mit ihm bei bestehendem Kinderwunsch nur geringes Gewicht beizumessen war. Hinsichtlich der Taten vom … April und vom … Mai 2019 wurde zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass die Geschädigte in beiden Fällen nur oberflächliche Hautverletzungen davongetragen hat, dass die Übergriffe jeweils Folge einer vorausgegangenen verbalen Auseinandersetzung waren und der Kläger so gut wie nicht vorbestraft ist. Zum Nachteil wurde berücksichtigt, dass er die Geschädigte am … April 2019 durch zwei Tätlichkeiten körperlich misshandelt und am … Mai 2019 tateinheitlich den Tatbestand der Nötigung verwirklicht hat.
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Mit Schreiben vom 25. März 2021 wurden der Kläger und seine Ehefrau zur beabsichtigten Ausweisung des Klägers angehört.
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Mit Schreiben vom … April 2021 teilte der Kläger im Wesentlichen mit, er lebe über 25 Jahre, also sein halbes Leben, in der Bundesrepublik. Es sei für ihn seine zweite Heimat und teilweise seine erste. Er habe gute und schlechte Zeiten gehabt, aber immer versucht, sich an die Gesetze zu halten. Er habe sich in kurzer Zeit sehr wohl und integriert gefühlt. Er habe in seiner gesamten Zeit voll gearbeitet und bis 2020 seine Steuern bezahlt. Er sei immer sehr genau und ordentlich gewesen und daher öfter in kurzer Zeit zur Übernahme einer Führungsposition aufgefordert worden. Seine Chefin sei froh, wenn er nach Haftentlassung wieder bei ihr anfangen und weitermachen könne. Er habe sein Geld immer ehrlich verdient. Er genieße jede freie Minute mit seinen Freunden und Bekannten. Er habe auch immer einen sehr guten Kontakt mit seiner Exfrau und seiner erwachsenen Tochter gehabt. Sie sei seine beste Freundin. Die soziale Bindung sei ganz wichtig. Sie stünden ihm alle nah, besonders in diesen schwierigen Zeiten. In Tunesien habe er nichts mehr außer seinen … Jahre alten Eltern, für die er auch sorgen müsste. Nach einem zweiwöchigen Urlaub im Jahr 2015 in Tunesien habe er wieder nach Deutschland zurückkehren wollen. Hier fühle er sich sicher. Es sei für ihn alles in seinem Leben. Mit seiner Muttersprache habe er nach dieser langen Zeit in der letzten Zeit öfter mal Schwierigkeiten gehabt. Er vergesse Worte oder rede mit seinen Eltern unbewusst Deutsch. Er bedauere sehr, dass er in eine solche Situation hineingerutscht sei, aber er habe das Gerichtsurteil akzeptiert. Er könne durch eine gut hergestellte Lüge seine Existenz verlieren. Sein großer Fehler, den er jetzt auch bereue, sei, dass er sich vor der Hochzeit nicht genug Zeit gelassen habe. Man müsse normalerweise die Partnerin, mit der man sein Leben teilen wolle, besser kennenlernen. Bereits drei Tage nach ihrer Einreise nach Deutschland sei es mit den Problemen losgegangen. Am … April hätten sie einen großen Streit gehabt und seine Frau habe vorgeschlagen, dass sie zu ihrer Schwester gehe. Sie sei ca. drei Wochen bei ihrer Schwester gewesen, sie hätten ab und zu telefoniert und sich ein paarmal getroffen, um sich zu versöhnen. Dann hätten sie gedacht, sie versuchen noch mal, die Beziehung zu retten. Sie sei am gleichen Tag nach Hause zurückgekommen, aber es habe sich leider nichts geändert. Es habe nicht lange gedauert, bis es wieder eine große Auseinandersetzung gegeben habe. Er habe sie zur Rede gestellt und ihr ehrlich seine Meinung gesagt, dass sie sich gegenseitig nicht verstehen und es für beide besser sei, sich zu trennen. Dann sei sie außer Kontrolle geraten und habe die ganze Wohnung demoliert. Deshalb habe er von ihr verlangt, die Wohnung zu verlassen und zu ihrer Schwester zu ziehen, bis er für sie ein Ticket nach Tunesien organisiert habe. Er habe aber wegen seiner Arbeit für zehn Tage nach … fliegen müssen. Als er nach Hause gekommen sei, habe er erfahren, dass sie ihn wegen Gewalt und sexueller Nötigung angezeigt habe, die er laut ihrer Aussage am … April bei ihrem ersten Streit ausgeübt habe. Er sei sehr überrascht und enttäuscht gewesen. Zu der Zeit habe er eine schwierige Knie-OP gehabt. Er habe versucht, das Gericht darauf aufmerksam zu machen, warum sie wieder zu ihm zurückgekehrt sei und ihn nicht gleich angezeigt habe, wenn es so gewesen wäre. Das Gericht habe dies jedoch nicht in Betracht gezogen. Sie habe diese Lügen nur erfunden, als ihr bewusst geworden sei, dass sie keine Zukunft mehr hätten und sie wieder nach Tunesien zurückkehren solle. Sie habe ihn nur wegen des Aufenthalts geheiratet. Mithilfe ihrer Schwester und ihres deutschen Schwagers, der sich mit den Gesetzen und den Tricks sehr gut auskenne, sei es ihnen gelungen, das Gericht zu überzeugen. Sie habe es geschafft, glaubwürdiger zu sein. Ihre Aussage sei sehr gut einstudiert und richtig vorbereitet gewesen. Er könne nochmal versichern, dass er ungerecht verurteilt worden sei. Er sei bestraft worden für Sachen, die er nicht begangen habe und niemals machen würde. Er habe es akzeptiert und sich zu seinem Haftantritt selbst gestellt. Er bitte, ihn nicht noch einmal ungerecht zu bestrafen. In der Haft wolle er eine Umschulung als Fachkraft für … machen.
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Im Führungsbericht der JVA … … … vom 23. April 2021 wird der Kläger als beherrscht, ruhig und höflich beschrieben. Das vollzugliche Verhalten habe keinen Anlass zur disziplinarischen Beanstandung gegeben. Bei der Erstüberprüfung für die Teilnahme an einer sozialtherapeutischen Maßnahme für Sexualstraftäter am 19. März 2021 sei festgestellt worden, dass eine derartige Maßnahme indiziert sei. Er sei derzeit nicht für die Teilnahme geeignet, weil er seine Sexualstraftaten vehement leugne und seine ausländerrechtliche Situation nicht geklärt sei.
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Mit Bescheid vom 20. Mai 2021 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen, das unter der Bedingung der nachgewiesenen Straffreiheit auf sechs Jahre, andernfalls auf acht Jahre ab Ausreise befristet wurde (Nr. 2 des Bescheids). Die Abschiebung aus der Haft nach Tunesien wurde angekündigt. Für den Fall der vorherigen Haftentlassung wurde dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist von vier Wochen nach Haftentlassung die Abschiebung nach Tunesien oder in einen anderen Staat angedroht, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 3 des Bescheids).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde, werde ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiege. Durch seinen Aufenthalt werde die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet. Dies ergebe sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen. Durch die rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten erfülle der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. c AufenthG. Vom Kläger gehe nach wie vor eine Wiederholungsgefahr aus. Eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer so hohen Freiheitsstrafe sei auch hinreichender Gradmesser des im Rahmen des Verwaltungsrechts bestehenden Bedürfnisses vorbeugender Schutzmaßnahmen. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens sei die Glaubhaftigkeit der Aussage der Ehefrau des Klägers umfassend geprüft worden. Hier sei u.a. festgestellt worden, dass die Aussagen der Geschädigten Konstanz aufwiesen, in sich schlüssig und widerspruchsfrei waren und sich keine logischen Brüche darin gefunden haben. Es seien keine Gründe festgestellt worden, wonach die Geschädigte einen Grund zur Falschbelastung gehabt haben könnte. Das Strafgericht habe nach umfassender Abwägung aller Umstände keine vernünftigen Zweifel gehabt, dass der Kläger die Vergewaltigung begangen habe. Der Kläger habe auch versucht, seine Ehefrau in ein schlechtes Licht zu rücken. So habe er Fotos der verwüsteten Wohnung vorgelegt, die zeigen sollten, dass sich seine Frau wie eine Furie benommen habe. Das Strafgericht habe in seinem Urteil festgestellt, dass die Bilder bzw. die Wohnung durch den Kläger manipuliert wurde. Die Tatsache, dass der Kläger bis heute die vom Strafgericht abgeurteilte Straftat der Vergewaltigung leugne, zeige, dass ihm die Schwere der Tat und das begangene Unrecht nicht bewusst seien. Auch im Rahmen der Anhörung habe er erklärt, dass seine Ehefrau diese Lüge erfunden und zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Schwager das Gericht davon überzeugt hätte. Alles, was er vorgelegt habe, habe nicht gereicht und sei sinnlos gewesen gegen die einstudierte Aussage der Ehefrau. Er sei ungerecht verurteilt worden. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens habe seine Ehefrau erklärt, dass der Vorfall für den Kläger keine Vergewaltigung gewesen sei. Er sei der Meinung, er habe ein Recht auf Geschlechtsverkehr, auch wenn die Frau keine Lust habe. Hieraus werde seine Einstellung zum Recht anderer auf sexuelle Selbstbestimmung mehr als deutlich. Der Kläger habe sich vollkommen egoistisch verhalten und gegen den erkennbaren Willen der Geschädigten, die ihm gesagt habe, dass sie keinen Geschlechtsverkehr wolle, und auch versucht habe, sich körperlich zur Wehr zu setzen, den Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeübt. Die Tat und die Tatumstände offenbarten ein Frauenbild, das mit den Werten und der Moral der deutschen Gesellschaft nicht vereinbar sei. Darüber hinaus fühle sich der Kläger als Opfer einer Lüge, das nur benutzt worden sei, damit seine Ehefrau einen Aufenthaltsstatus für das Bundesgebiet erhalte und im Fall des Scheiterns der Ehe nicht nach Tunesien zurück müsse. Zu keiner Zeit habe er gegenüber dem Strafgericht oder der Ausländerbehörde sein Bedauern der Vergewaltigung ausgedrückt. Er habe lediglich erklärt, dass es ein Fehler gewesen sei, seine Frau vor der Hochzeit nicht besser kennengelernt zu haben. In der Gesamtschau sei von einem fehlenden Unrechtsbewusstsein und fehlender Empathie für die Geschädigte auszugehen. Insbesondere bei Sexualdelikten sei es so, dass ohne eine tiefgreifende Straftataufarbeitung das Risiko für erneute Straftaten bestehen bleibe. Es stehe zu befürchten, dass es aufgrund des fehlenden Schuldbewusstseins schon bald zu vergleichbaren Delikten kommen werde. In diesem Zusammenhang sei beachtenswert, dass der Kläger keine Therapie für Sexualstraftaten durchführe, obwohl diese von der JVA als indiziert angesehen werde. Solange der Kläger die therapeutisch begleitete Aufarbeitung der Tat in einer Therapie für Sexualstraftäter nicht beendet und sich für eine gewisse Zeit in Freiheit bewährt habe, gehe von ihm eine Gefahr weiterer Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aus. Insofern sei auch unerheblich, dass er nicht bereits vor der Anlasstat wegen Sexualdelikten aufgefallen sei. Hinzu komme, dass in Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen von Sexualdelikten die Verhinderung weiterer Straftaten einem besonders dringenden sozialen Bedürfnis entspreche. Sexualstraftaten seien in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich. Auch die Ehefrau des Klägers habe psychisch massiv unter seinem Verhalten gelitten. Wegen dieser gravierenden Folgen sei der Schutz vor Sexualdelikten eine wichtige Aufgabe und ein Grundinteresse der Gesellschaft. Zu berücksichtigen sei zudem, dass der Kläger die Straftat im Rahmen der geschützten Partnerschaft begangen habe. Gerade in der Ehe sollte das Vertrauensverhältnis zwischen den Partnern ein besonders geschütztes sein, umso mehr, als die Ehefrau sexuell unerfahren gewesen sei und ein Kinderwunsch bestanden habe. Gerade dies habe er jedoch offenbar ausgenutzt, um den Geschlechtsverkehr mit seiner Ehefrau gegen deren ausdrücklichen Willen durchzuführen. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung verbunden mit der Würde des Opfers und der körperlichen und seelischen Integrität der Menschen nähmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen enorm hohen Rang ein. Es gelte, dieser Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit den gegebenen Mitteln des Ausländerrechts wirksam zu begegnen. Darüber hinaus sei es auch zu körperlichen Übergriffen gegenüber der Ehefrau gekommen; zudem habe er ihr den Reisepass abgenommen. Auch durch dieses Verhalten werde noch einmal die Einstellung des Klägers gegenüber Frauen mehr als deutlich. Er nutze seine körperliche Überlegenheit aus und werde gewalttätig, wenn er Konfliktsituationen nicht lösen könne. Gerade auch das Würgen am Hals könne bei den Opfern innerhalb kürzester Zeit dazu führen, dass sie um ihr Leben fürchten und Todesangst erleiden. Er habe zwar schnell von der Geschädigten abgelassen, sie dann aber geschubst, so dass sie zu Boden fiel. Zudem zeige das Abnehmen des Reisepasses, dass der Kläger die Geschädigte massiv unter Druck gesetzt und in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt habe. Er habe den Reisepass allein aus dem Grund der Machtdemonstration gegenüber seiner Ehefrau entwendet. Im Fall des Klägers gehe die Ausländerbehörde nicht davon aus, dass es sich bei der Vergewaltigung um eine Beziehungstat gehandelt habe, zu der es aufgrund von Spannungen in der Ehe oder aus einer besonderen, nicht wiederholbaren Lage heraus gekommen wäre. Vielmehr spiegle das Verhalten des Klägers seine Einstellung zu Frauen im Allgemeinen wieder. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass er im Rahmen weiterer Beziehungen oder in anderen Situationen, in denen er näher mit Frauen zusammentreffe, erneut zur Gewalt greife, um seine vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren oder seinen Willen durchzusetzen. Dass er zu einer so hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, obwohl es sich um die erste Verurteilung handele und er bisher nicht einschlägig und erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, zeige die Schwere der begangenen Straftaten. Es sei durchaus glaubhaft und nachvollziehbar, dass er die Zeit der Inhaftierung sinnvoll nutzen werde, jedoch offenbar nicht zur Aufarbeitung der begangenen Straftaten. Unabhängig vom Vorliegen einer Wiederholungsgefahr sei die Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Bei den vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftaten bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Dies lasse sich insbesondere damit begründen, dass sie sich gegen besonders wichtige Schutzgüter, nämlich gegen das Leben, Gesundheit, die körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung richteten. Das generalpräventive Ausweisungsinteresse sei auch noch aktuell. Die Abwägung führe dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiege. Das Ausweisungsinteresse wiege besonders schwer (s.o.). Das Bleibeinteresse wiege ebenfalls besonders schwer, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Der Kläger sei mit 26 Jahren nach Deutschland eingereist und lebe somit seit knapp 25 Jahren hier. Er sei die meiste Zeit berufstätig gewesen, habe viele Jahre in der Gastronomie, später als Chauffeur gearbeitet. Bezüglich seiner Bindungen sei festzustellen, dass er aus einer früheren Ehe eine deutsche Tochter habe, die inzwischen volljährig sei. Wie eng das Verhältnis zu seiner Tochter sei, sei nicht bekannt. Besuche habe er in der JVA von ihr jedenfalls noch nicht erhalten. Der Kontakt zu seiner Tochter könne durch Kommunikationsmittel auch von Tunesien aufrechterhalten bleiben. Sie sei als erwachsene Frau nicht mehr auf seinen Beistand angewiesen. Von seiner Ehefrau habe er vor der Inhaftierung getrennt gelebt, laut Feststellung des Strafgerichts sei in Tunesien die Scheidung eingereicht worden. Zu sehen sei, dass sich der Kläger grundsätzlich in die Gesellschaft der Bundesrepublik integriert habe. Dennoch habe er sich dazu hinreißen lassen, Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit zu begehen, die eine hohe Verurteilung nach sich gezogen habe. Er selbst habe erklärt, in Tunesien nur noch seine Eltern zu haben, die bereits über 80 Jahre alt seien.
Wenn die Eltern nicht mehr leben würden, habe er niemanden mehr im Heimatland. Es sei jedoch davon auszugehen, dass er nach wie vor auch weitere Kontakte in Tunesien habe. Dies ergebe sich schon daraus, dass ihm die Ehe im Heimatland von einer befreundeten Familie vermittelt worden sei. Aufgrund der Tatsache, dass er eine tunesische Frau in Tunesien geheiratet habe, sei davon auszugehen, dass ihm die Sitten und Gebräuche des Heimatlandes bekannt seien und er der Muttersprache nach wie vor einwandfrei mächtig sei. Seinen Lebensunterhalt könne er auch im Heimatland bestreiten. Als Chauffeur könne er auch in Tunesien tätig sein. Vor seiner Ausreise nach Deutschland sei er zudem in verschiedenen Hotels und Restaurants in Tunesien tätig gewesen, so dass er auch Berufserfahrung im Heimatland vorweisen könne. Selbst unter Würdigung des langen Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber einer womöglich ungesicherten Situation im Heimatland träfen ihn die Folgen der Aufenthaltsbeendigung zwar schwer, aber nicht unverhältnismäßig. Er sei ein alleinstehender, arbeitsfähiger Mann im mittleren Alter. Ihm sei aufgrund der begangenen schwerwiegenden Straftaten und der daraus resultierenden Verurteilung zuzumuten, sich im Land seiner Staatsangehörigkeit zurechtzufinden. Die Beendigung seines Aufenthalts sei eine Konsequenz seiner massiven Straffälligkeit. Der Schutz der hier rechtschaffen lebenden Bevölkerung vor einer künftigen Beeinträchtigung sei höher anzusiedeln als sein berechtigtes Interesse am Schutz seines Privat- und Familienlebens im Bundesgebiet. Die Ausweisung widerspreche somit nicht dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter, der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr und den generalpräventiven Erwägungen werde auch im Hinblick auf die persönlichen Interessen im Bundesgebiet ein Zeitraum von sechs Jahren für erforderlich gehalten, um dem Gefahrenpotenzial Rechnung tragen zu können. Bedingung sei, dass keine neuen Ausweisungsgründe verwirklicht werden. Sollte die Bedingung nicht erfüllt werden, werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf acht Jahre ab Ausreise befristet. Unter erneuter Berücksichtigung der öffentlichen und privaten Interessen erscheine eine Verlängerung der Grundfrist um zwei Jahre geeignet, erforderlich und angemessen.
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Mit Schriftsatz vom … Juni 2021, bei Gericht am selben Tag eingegangen, hat der Klägerbevollmächtigte zu 1) Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 2021 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei der Auffassung, dass die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten wegen der ihm zur Last gelegten Delikte nicht für eine Ausweisung ausreiche. Der Kläger halte sich seit 1996 im Bundesgebiet auf. Aus erster Ehe habe er eine Tochter mit deutscher Staatsangehörigkeit. Er sei bis auf eine Verurteilung aus dem Jahr 2015 wegen fahrlässiger Körperverletzung, der ein Verkehrsunfall zugrunde gelegen habe, niemals straffällig geworden.
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Mit Schriftsatz vom 8. Juli 2021 hat die Beklagte beantragt,
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Mit Schriftsatz vom … September 2022 hat sich die Klägerbevollmächtigte zu 2) bestellt.
19
Mit Beschluss des Landgerichts … vom … November 2022 wurde die Vollstreckung des Strafrestes nach Verbüßung von mehr als zwei Drittel der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. Eine Entlassung könne unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden. Der nicht nennenswert vorgeahndete Kläger sei zwar Erstverbüßer, der sich zum Strafantritt selbst gestellt habe, und seine vollzugliche Führung sei frei von Beanstandungen und die Entlassungssituation sei im Hinblick auf Wohnung und Arbeit geordnet. Er habe sich jedoch einer besonders gefährlichen Straftat schuldig gemacht, die ein besonders hohes Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für ein künftiges straffreies Leben voraussetze. Beim Kläger sei eine sozialtherapeutische Maßnahme indiziert. Zu einer Teilnahme sei es jedoch aufgrund der Unschuldsbehauptung des Klägers und der seinerzeit ungeklärten ausländerrechtlichen Situation nicht gekommen. Zwischenzeitlich sei die verbleibende Haftzeit nicht mehr ausreichend. Tatsächlich habe bisher keinerlei Aufarbeitung der in der Tat zutage getretenen deliktsursächlichen Defizite stattgefunden. Im Hinblick auf das bedrohte Rechtsgut könne ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Tat und der Aneignung von Rückfallvermeidungsstrategien eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nicht verantwortet werden.
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Im Führungsbericht der JVA … … … vom 31. Januar 2023 wird im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe sich am … Februar 2021 selbst zum Strafantritt gestellt. Er sei zunächst in einer der Werkhallen beschäftigt gewesen, seit … März 2021 komme er seiner Arbeitspflicht im hiesigen Schreinereibetrieb nach. Dort werde er als beherrscht, ruhig, sachlich und hilfsbereit wahrgenommen. Seinen Arbeitsplatz halte er sauber. Gegenüber Betriebsbediensteten verhalte er sich respektvoll und sei gut ansprechbar. Gegenüber anderen Gefangenen sei er hilfsbereit und verträglich. Im Betrieb zeige er sich gewissenhaft, zuverlässig und fleißig. Er könne einfache Arbeiten selbständig durchführen und anleiten. Von den Bediensteten des Vollzugsdienstes werde er als ruhig, freundlich und zurückhaltend charakterisiert. Er trete selbstbewusst auf, allerdings in einer zurückhaltenden und unauffälligen Weise. Sein Haftraum sei aufgeräumt und ordentlich. Er verhalte sich gegenüber dem Stationspersonal angemessen und freundlich. Er gestehe sich ein, dass er nicht zu Unrecht inhaftiert sei, allerdings spreche er nicht weiter über seine Tat. Insgesamt handele es sich um einen unauffälligen Gefangenen, der angenehm im täglichen Umgang sei. Aus disziplinarischer Sicht führe er sich bislang beanstandungsfrei. Privatbesuche empfange der Kläger regelmäßig von zwei Freunden und gelegentlich von einer Cousine. Telefonate führe er fast ausschließlich mit seiner in Tunesien lebenden Mutter, seltener mit einem Freund. Nach eigenen Angaben könne er nach der Haft in der …-straße … in … Wohnsitz beziehen und bei einem …-dienst tätig werden. Entsprechende Nachweise seien bislang nicht aktenkundig. Die erste Überprüfung für die Teilnahme an einer sozialtherapeutischen Maßnahme für Sexualstraftäter habe am 19. März 2021 stattgefunden. Beim Kläger sei eine sozialtherapeutische Maßnahme indiziert. Allerdings sei er nicht für eine Teilnahme geeignet, da er seine Sexualstraftaten vehement leugne und sein ausländerrechtlicher Status zum damaligen Zeitpunkt nicht geklärt gewesen sei. Inzwischen sei zudem die verbleibende Haftzeit für eine sozialtherapeutische Behandlung nicht mehr ausreichend. Folglich sei der Kläger unbehandelter Sexualstraftäter.
21
Mit Schriftsatz vom … Februar 2023 führte die Klägerbevollmächtigte zu 2) im Wesentlichen aus, der Kläger bestreite nach wie vor die abgeurteilten Taten. Er lege Wert auf die Feststellung, dass er für den Fall, dass er eine Hausfrau hätte heiraten wollen, niemals eine Studentin geheiratet hätte. Es sei bereits vor und bei der Eheschließung klar gewesen, dass die Ehefrau ihr Studium in Deutschland beenden werde und der Kläger finanziell dafür aufkommen müsse. Der Kläger sei auch in zweiter Ehe mit einer tunesischen Staatsangehörigen verheiratet gewesen. Nachdem die zweite Ehe nicht seiner Vorstellung entsprochen habe, habe er sich scheiden lassen. Weder die erste noch die zweite Ehefrau hätten jemals vorgetragen, dass der Kläger Gewalt in irgendeiner Form gegen sie angewandt hätte. Mit seiner dritten Ehefrau habe der Kläger lediglich ein paar Tage in Deutschland zusammengelebt. Die Ehefrau habe mehr bei ihren Schwestern als beim Kläger gewohnt. Der Kläger wolle sich endgültig von seiner Ehefrau trennen. Er habe bereits mit der Familie der Ehefrau wegen einer Scheidung telefoniert. Der Zustand, der zu ihrem Krankenhausaufenthalt geführt habe, könne auf das Fasten im Ramadan zurückzuführen sein, da die Ehefrau unter Diabetes leide. Dem Kläger sei nicht bekannt, ob seine Ehefrau eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland erhalten habe. Sollte sie eine solche erhalten haben, ergebe sich, dass nach ca. einwöchigem ehelichen Zusammenleben und einem zweimonatigen Aufenthalt in Deutschland die Ehefrau eine Aufenthaltserlaubnis erhalten habe, der Kläger mit Niederlassungserlaubnis jedoch das Land verlassen solle. Mit Schriftsatz vom … Februar 2023 wurde weiter ausgeführt, am ersten Verhandlungstag sei die Ehefrau des Klägers sehr schüchtern aufgetreten, habe sehr angespannt gewirkt und leise gesprochen. Nach der Sachverständigen C. sei sie jedoch fast arrogant aufgetreten, was auch vom Kläger so empfunden worden sei. Es könne daher sein, dass die Ehefrau des Klägers ihr Verhalten jeweils den Umständen angepasst habe. Zum Aussageverhalten werde ausgeführt, dass die Ehefrau des Klägers nicht schlecht über ihn geredet habe. Ausweislich Bl. 45 des Urteils habe jedoch die Schwester ausgesagt, dass die Ehefrau sehr über den Kläger geschimpft habe. Der Kläger selbst sei ca. 25 Jahre beanstandungsfrei in Deutschland, seine dritte Ehefrau habe lediglich zweieinhalb Monate die Ehe mit ihm geführt und ca. zwei Wochen mit ihm in ehelicher Gemeinschaft gelebt. Die Situation sei nun so, dass der Kläger eine Ausweisungsverfügung gegen sich habe und dass zu vermuten sei, dass die Ehefrau eine Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet erhalten habe. Auch im Strafverfahren sei dieser Aspekt beleuchtet worden. Das Gericht habe als tragenden Aspekt gegen die These, die Ehefrau hätte diese Situation bewusst herbeigeführt, ausgeführt, sie habe gewusst, dass sie das Visum zum Zweck des Familiennachzugs erhalten habe und der Aufenthalt in Deutschland an die eheliche Lebensgemeinschaft mit dem Kläger geknüpft sei. Demgemäß habe sie befürchtet, mit dem Scheitern der Ehe ausreisen zu müssen. In dieser Weise habe sie sich gegenüber dem Vernehmungsbeamten geäußert. So gesehen sei die Strafanzeige gegen den Kläger für ihren Aufenthalt in Deutschland eher schädlich gewesen. Die Falschbelastung ihres Ehemannes, insbesondere mit dem schweren Vorwurf der Vergewaltigung, habe unweigerlich die Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft nach sich ziehen müssen. Sie hätte erst nach dreijähriger Ehedauer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht erlangt. Von der Voraussetzung sei zwar zur Vermeidung einer besonderen Härte abzusehen; eine besondere Härte liege insbesondere vor, wenn dem Ehegatten das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar sei. Das eigenständige Aufenthaltsrecht setze allerdings voraus, dass der Ehegatte vorher eine Aufenthaltserlaubnis gehabt habe. Über eine solche habe sie nicht verfügt. Dies seien tragende Gründe gewesen, die Aussage der Ehefrau als glaubhaft zu bewerten, die dann zur Verurteilung des Klägers geführt hätten. Es sei schwierig für ein Gericht, bei einer Aussage-Aussage-Konstellation zu bewerten, wer die Wahrheit sage. Es stelle sich die Frage, woher das Gericht gewusst habe, dass ein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch gar nicht gestellt worden sei. Falls doch eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden sei, stelle sich die Frage, aus welchem Rechtsgrund. Habe die Ehefrau eine Aufenthaltserlaubnis als eigenständiges Aufenthaltsrecht erhalten, habe sich das Gericht ganz eindeutig geirrt, sowohl hinsichtlich der Motivation bei der Anzeige der Vergewaltigung als auch in der Rechtsfolge (kein eigenständiges Aufenthaltsrecht mangels vorangegangenen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis). Gestützt werde die Meinung noch durch SMS der Ehefrau nach den angeblichen Vorfällen (Bl. 65 des Urteils). Nach dem Chat-Verlauf werde nicht der Eindruck vermittelt, dass es die Ehefrau als unzumutbar empfunden habe, die Ehe fortzusetzen. Das Gericht habe ferner ausgeführt, dass die psychische Belastungssituation der Ehefrau auf die Gesamtumstände zurückzuführen sei; hierbei seien die strafrechtlich relevanten Übergriffe des Klägers ein Aspekt neben anderen, namentlich dem Scheitern der Ehe nach kürzester Zeit, dem Zerplatzen des Traums der Familiengründung sowie die ungewisse Zukunft bezüglich Lebensort und Lebensgestaltung. Nicht zuletzt habe das Strafgericht ausgeführt, dass die Ehefrau eine konsistente Aussage durch das Verfahren abgegeben hätte, was für ihre Glaubhaftigkeit sprechen würde, da sie kein Deutsch spreche und die Nebenklägervertreterin wohl gesagt habe, dass ihr die Akten nicht zur Verfügung gestellt worden seien. Nachdem beide Schwestern offensichtlich gut Deutsch sprechen, seien dies keine Gründe, die überzeugten. Es sei unumgänglich, dem Kläger die Ausländerakte der Ehefrau zur Verfügung zu stellen.
22
Mit Schriftsatz vom … März 2023 führte der Klägerbevollmächtigte zu 1) im Wesentlichen aus, die Abwägung werde einseitig zulasten des Klägers getroffen. Ihm werde unterstellt, die Tat und sein Verhalten danach spiegle seine Einstellung zu Frauen wider. Man erkenne eine Machtdemonstration gegenüber der Frau. Besonders werde deren Todesangst hervorgehoben. Dabei entferne sich die Beklagte weit von den Feststellungen der Strafkammer. Auf Seite 79 des Urteils werde nämlich festgestellt, dass keine konkrete oder abstrakte Lebensgefahr bestanden habe. Auch vergesse die Beklagte, dass die Geschädigte nach der Tat für längere Zeit zusammen mit dem Kläger in der Wohnung gewesen sei. Dies würde doch der „Todesangst“ widersprechen. Die Strafkammer sei zu dem Ergebnis gekommen, dass gemessen an der denkbaren Bandbreite von Vergewaltigungen die Tat am unteren Rahmen anzusiedeln sei. Somit habe sie eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren 6 Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet. Im Bescheid werde der Kläger dagegen fast schon als Monster, zumindest als frauenverachtender Sexualstraftäter, dargestellt. Die Fakten ergäben jedoch ein anderes Bild des Klägers. Vor seiner Ehe mit der Geschädigten sei der Kläger zweimal verheiratet gewesen, mit seiner ersten Frau habe er ein gemeinsames Kind. Die Ehe sei einvernehmlich geschieden worden. Es habe keine Ärgernisse gegeben. Der Kläger habe sich auch an die Umgangsregelungen gehalten. Mit seiner zweiten Frau sei der Kläger 13 Jahre verheiratet gewesen. Mit der Zeit sei es zu einer Entfremdung gekommen und man habe sich zur Scheidung entschlossen. Der Kläger halte zu seiner Exfrau aber weiterhin Kontakt und sie habe ihn sogar in der JVA besucht. Während der Zeit der zwei Ehen von 1996 bis 2015, einem Zeitraum von 20 Jahren, habe es keine Übergriffe oder Vorwürfe gegeben, die zu einem strafrechtlich relevanten Verfahren geführt hätten. Zugunsten des Klägers sei weiter zu berücksichtigen, dass es keine Vorahndungen wegen Gewalttätigkeit, Beleidigung oder Nötigung gegeben habe. Die einzige Eintragung liege im ausländerrechtlichen Bagatellbereich und betreffe eine fahrlässige Körperverletzung im Straßenverkehr. Wesentliche Bedeutung für die Gefahrenabwägung habe auch das Verhalten des Klägers nach der Tat, insbesondere nach der Anklage. Der Kläger sei bis zuletzt auf freiem Fuß gewesen, er habe sich nicht in Untersuchungshaft befunden. Auch nach dem Urteil habe er seine Strafe nicht sofort antreten müssen, sondern habe das Ergebnis der Revision abwarten können. Nach Rechtskraft des Urteils habe er als Selbststeller seine Strafe sofort angetreten. Während der fünf Verhandlungstage sei er pünktlich erschienen, niemals unangenehm aufgefallen und habe jeden Kontakt zu seiner Exfrau vermieden. Dieses vorbildliche Verhalten zeige, dass der Kläger in der Lage sei, sich einzuordnen, Entscheidungen zu akzeptieren und Ergebnisse anzuerkennen. Damit sei kein Platz für spezialpräventive Überlegungen, weil vom Kläger keine Gefahr ausgehen werde. Auch generalpräventive Maßnahmen dürften überzogen sein, da die Tat sich im häuslichen Bereich abgespielt habe. Dem Kläger könne man auch nicht vorwerfen, er leugne seine Sexualstraftaten vehement und würde damit eine Gefahr als unbehandelter Sexualstraftäter darstellen. Zum einen sei fraglich, ob der Kläger in der JVA überhaupt an sozialtherapeutischen Maßnahmen hätte teilnehmen können, da er einen Ausweisungsbescheid erhalten habe. Die subjektive Einstellung bei dieser Straftat innerhalb der Ehe könne problematisch sein. Die abgeurteilte Straftat sei aber vor gar nicht so langer Zeit meistens noch straflos geblieben. Was letztlich vorgefallen sei, könne anhand objektiver Kriterien nicht mehr festgestellt werden. Das Gericht habe sich auf die Aussagen der Geschädigten und ihrer Freunde/Verwandten verlassen. Es falle aber auf, dass die Geschädigte nach der Trennung ihren Aufenthalt im Bundesgebiet behalten habe. Dass ihr dies gelungen sei, werde wohl an der Straftat gelegen haben. Auffallend sei in diesem Zusammenhang auch das Verhalten der Geschädigten im Ausweisungsverfahren. Sie habe sich nicht daran beteiligt und sich nicht geäußert, was sich unterschiedlich bewerten lasse. Zugunsten des Klägers sei auch sein vorbildliches Verhalten in der JVA zu sehen. Angesichts der 27 Jahre Aufenthalt falle die Entscheidung der Beklagten schon sehr einseitig aus. Vor allem die Ausführungen auf S. 13 seien so gehalten, dass man eine gewisse Voreingenommenheit erkennen müsse. Da sei von krimineller Energie die Rede, dass er sich nicht um die Aufarbeitung seiner Straftat kümmern würde, sondern nur um seine Umschulung statt um seine Einstellung zu Frauen im Allgemeinen. Dies sei keine objektive Abwägung der Interessen.
23
Mit Schriftsatz vom … März 2023 führte die Klägerbevollmächtigte zu 2) aus, als Rechtsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis scheine doch eine Unzumutbarkeit der Fortsetzung der Ehe angenommen worden zu sein. Damit sei jedoch dem Strafurteil ein tragender Gesichtspunkt entzogen. Beigefügt waren eine Bestätigung über eine Wohn- und Arbeitsgelegenheit nach der Entlassung aus der JVA.
24
Mit Schriftsatz vom 22. März 2023 teilte die Beklagte mit, dass der geschiedenen Ehefrau des Klägers am 29. März 2021, Monate nach der Rechtskraft des Strafurteils, ein Aufenthaltstitel erteilt worden sei.
25
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerbevollmächtigte zu 2) ein Schreiben der ersten Ehefrau des Klägers vom … März 2023 vorgelegt, wonach ihre Ehe und Beziehung mit dem Kläger in der Ehezeit von April 1996 bis Mai 2001 und davor 1994 bis 1996 stets gewaltlos gewesen sei. Es habe auch keine Aggressionen gegeben. Der Kläger sei nie gewalttätig oder aggressiv gewesen, auch nicht zu ihrer gemeinsamen Tochter, um die er sich immer als fürsorglicher Papa gekümmert habe. Sie könne nicht nachvollziehen, wie man behaupten könne, dass er dies getan haben soll.
26
Der Beklagtenvertreter hat die Frist in Nr. 2 Satz 2 des streitgegenständlichen Bescheids auf vier Jahre und die Ausreisefrist in Nr. 3 Satz 2 auf vier Wochen nach Vollziehbarkeit des Bescheids festgesetzt.
27
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
28
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
29
Der Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 2021 in der Fassung, die er in der mündlichen Verhandlung gefunden hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30
a) Die in Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 20. Mai 2021 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
31
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch die Beklagte getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
32
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
33
Dem Kläger kommt ein erhöhter Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3, 3a und 4 AufenthG nicht zu, da er keiner der dort genannten Personengruppen angehört.
34
Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
35
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
36
Die der Ausweisungsentscheidung und der Verurteilung des Landgerichts München I vom 6. Juli 2020 zu Grunde liegenden Straftaten (Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung), weswegen der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten verurteilt wurde, sind schwerwiegend.
37
Der Schutz der Bevölkerung vor sexuellen Übergriffen, zumal in Form der Vergewaltigung, sowie vor Körperverletzungsdelikten stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Die betroffenen Schutzgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und lösen staatliche Schutzpflichten aus.
38
Zwar bestreitet der Kläger die abgeurteilten Taten. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die Anwendung der auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung abstellenden Ausweisungstatbestände jedoch keine Prüfung, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Soweit es bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung etwa auf die Umstände der Tatbegehung ankommt (z.B. im Rahmen der Feststellung der Wiederholungsgefahr) besteht zwar keine strikte Bindung an eine rechtskräftige Verurteilung. Die Ausländerbehörden und demzufolge auch die zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung berufenen Gerichte können in dieser Beziehung jedoch ohne Weiteres in aller Regel von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen und dürfen die darin getroffenen Feststellungen ihrer Entscheidung zugrunde legen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn strafgerichtliche Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder die Ausländerbehörden oder Verwaltungsgerichte über bessere Erkenntnismöglichkeiten als die Strafgerichte verfügen (BayVGH, B.v. 10.6.2020 – 10 CS 20.840 – juris). Eine derartige Fallkonstellation liegt hier nicht vor. Soweit die Klägerbevollmächtigte zu 2) geltend macht, dass angesichts der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Ehefrau des Klägers tragende Gründe des Urteils weggefallen wären, greift sie lediglich einen Teilaspekt der umfassenden, fast 20-seitigen Gesamtwürdigung der Glaubwürdigkeit der Aussage der Ehefrau des Klägers bzgl. des Vorwurfs der Vergewaltigung und vorsätzlichen Körperverletzung im Strafurteil heraus, der zudem in ausländerrechtlicher Hinsicht, nämlich der Beurteilung der ausländerrechtlichen Situation der Ehefrau des Klägers in Bezug auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gem. § 31 AufenthG, im Strafurteil zutreffend dargestellt ist. Hieraus ergibt sich weder eine offensichtliche Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen noch bessere Erkenntnismöglichkeiten des Verwaltungsgerichts mit Blick auf die Täterschaft des Klägers. Dass der Ehefrau des Klägers gut vier Monate nach der Rechtskraft des Strafurteils eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde, ändert an der Feststellung des Strafgerichts, dass die Strafanzeige für ihren Aufenthalt eher schädlich war und dieser durch die Anzeige erschwert und unsicher wurde, nichts. Selbst wenn die Ehefrau ihre aufenthaltsrechtliche Situation anders beurteilt hätte oder von einem eigenständigen Aufenthaltsrecht in Deutschland ausgegangen wäre, bedeutet dies nicht, dass ihre Aussage im Umkehrschluss trotz der umfangreichen Würdigung sämtlicher Umstände des Falles durch das Strafgericht nunmehr als unglaubhaft einzustufen wäre; dies umso mehr, als bereits das Strafgericht gegen die Hypothese eines Falschbelastungsmotivs mit der Rückkehr der Ehefrau nach einigen Wochen Trennung einen weiteren Aspekt darlegt (S. 69 des Strafurteils letzter Absatz). Auch die weiteren Ausführungen der Klägerseite führen nicht dazu, dass die strafgerichtlichen Feststellungen als offensichtlich unrichtig zu beurteilen wären oder das Verwaltungsgerichte nunmehr über bessere Erkenntnismöglichkeiten als die Strafgerichte verfügen würde. Es besteht daher keine Veranlassung, im verwaltungsgerichtlichen Verfahren von den strafgerichtlichen Feststellungen abzuweichen.
39
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Sexual- und Körperverletzungsdelikte, ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe. Zwar unterstellt es das Gericht als wahr, dass der Kläger während seiner ersten beiden Ehen weder aggressiv noch sexuell übergriffig war. Dennoch ist er gegenüber seiner letzten Ehefrau mit einem schwerwiegenden Sexualdelikt unter mehrfacher Gewaltanwendung massiv straffällig geworden. Dies belegt eine erhebliche kriminelle Energie und die mittlerweile bestehende Bereitschaft des Klägers, die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse gegenüber Frauen auch gewaltsam durchzusetzen. Beim Kläger ist daher eine sozialtherapeutische Maßnahme für Sexualstraftäter indiziert. Eine solche hat der Kläger aufgrund seiner Unschuldsbehauptung jedoch noch nicht einmal begonnen. Eine Aufarbeitung der in der Tat zutage getretenen deliktursächlichen Defizite hat somit in keiner Weise stattgefunden. Ohne jegliche Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Tat und der Aneignung entsprechender Rückfallvermeidungsstrategien besteht eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit für erneute Sexualstraftaten. Dementsprechend konnte mit Beschluss des Landgerichts … vom … November 2022 auch der Strafrest nicht zur Bewährung ausgesetzt werden.
40
Abgesehen davon bestehen auch erhebliche generalpräventive Gründe für die Ausweisung. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verstöße zu begehen. Diese Auslegung des Wortlauts wird systematisch durch § 53 Abs. 3 ff. AufenthG, die ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangen, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BTDrs. 18/4097 S. 49) bestätigt. Auch aus weiteren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, z.B. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, ergibt sich, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BeckRS 2019, 16744 Rn. 17). Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06; B.v. 22.8.2000 – 2 BvR 1363/2000 – juris). Es liegt vorliegend im öffentlichen Interesse, die vom Kläger begangenen Sexual- und Körperverletzungsdelikte mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Straftaten, vor allem auch wenn sie gegenüber dem Ehepartner begangen werden, mit der Aufenthaltsbeendigung und mit einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht werden. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen.
41
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
42
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
43
Im Fall des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, nachdem der Kläger vom Landgericht München I zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren 8 Monaten verurteilt wurde. Zudem besteht auch ein besonders schweres Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1a Buchst. c AufenthG aufgrund der Einsatzstrafe von 2 Jahren 6 Monaten Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung.
44
Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit 1996 rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
45
Die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG durchzuführende Gesamtabwägung ergibt unter Berücksichtigung der §§ 54, 55 AufenthG und unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass die Ausweisung des Klägers rechtmäßig ist, weil das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiegt.
46
Im Rahmen einer umfassenden Gesamtabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände kann festgestellt werden, ob das Interesse an der Ausweisung das Bleibeinteresse überwiegt (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 49). Vorliegend überwiegt das besonders schwere Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AufenthG die Interessen des Klägers an einem Verbleib im Bundesgebiet, insbesondere sprechen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht gegen die Ausweisung des Klägers.
47
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
48
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden.
Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
49
Obwohl sich der Kläger seit 1996 und damit seit 27 Jahren ununterbrochen in Deutschland aufhält, erscheint eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland nicht unzumutbar. Trotz seiner langjährigen Sozialisation im Bundesgebiet ist es dem Kläger angesichts der von ihm begangenen schwerwiegenden Sexualstraftat und der von ihm mangels Therapie und Aufarbeitung seiner Delinquenz auch weiterhin ausgehenden hohen Wiederholungsgefahr zumutbar, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zu übersiedeln. Der Kläger ist in Tunesien geboren und aufgewachsen und hat dort bis zu seinem 26. Lebensjahr gelebt. Den Kläger erwarten daher im Fall einer Rückkehr weder unüberbrückbare sprachliche noch kulturelle Hürden. Letzteres zeigt sich bereits daran, dass ihm nach Aktenlage seine letzte Ehefrau in Tunesien vermittelt wurde und er diese auch in Tunesien geheiratet hat. Sollten tatsächlich mittlerweile sprachliche Defizite bestehen, kann der Kläger diese mit zumutbarer Anstrengung überwinden und sich in Tunesien integrieren, zumal in Tunesien die Eltern des Klägers leben, so dass er dort auch einen ersten Anlaufpunkt hat. Zwar ist zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass seine Integration im Bundesgebiet in wirtschaftlicher Hinsicht durchaus als gelungen anzusehen ist; der Kläger war während seines Aufenthalts überwiegend sozialversicherungspflichtig beschäftigt und hätte auch nach Haftentlassung eine berufliche Perspektive. Der Kläger hat jedoch in Tunesien das Abitur abgelegt, eine Ausbildung in der Gastronomie gemacht und als Restaurant- bzw. Betriebsleiter in hochklassigen Hotels gearbeitet. Vor diesem Hintergrund sind die Chancen des Klägers auf dem Arbeitsmarkt in Tunesien nicht schlechter zu beurteilen als in Deutschland; es wird dem Kläger auch in Tunesien möglich sein, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Die gelungene berufliche Integration vermag das spezial- und generalpräventive besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse daher nicht zu überwiegen. Auch die persönlichen Bindungen im Bundesgebiet vermögen dies nicht. Eine eheliche Lebensgemeinschaft führt der Kläger im Bundesgebiet nicht mehr. Zwar lebt die Tochter des Klägers im Bundesgebiet. Diese ist jedoch mittlerweile volljährig und damit nicht mehr auf die Unterstützung des Klägers angewiesen, wie auch der Kläger umgekehrt nicht auf deren Unterstützung angewiesen ist. Den Kontakt zu seiner Tochter wie auch zu seinen in Deutschland lebenden Ex-Frauen kann der Kläger auch von Tunesien aus über Fernkommunikationsmittel oder Besuche dort aufrechterhalten. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG).
50
Unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden erheblichen Gefahr, fällt nach alledem die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
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b) Die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots beruht auf § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
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Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf zuletzt vier Jahre unter der Bedingung der Straffreiheit, anderenfalls auf acht Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die persönlichen Interessen des Klägers berücksichtigt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit sowie der hohen Wiederholungsgefahr ist auch unter Berücksichtigung des langjährigen Aufenthalts und der persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet eine Frist von vier Jahren unter der Bedingung der Straffreiheit, anderenfalls von acht Jahren, nicht zu beanstanden. Ggf. bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
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c) Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, entspricht § 59 Abs. 1 AufenthG
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).