Titel:
Entgeltfortzahlungsanspruch - Eigenkündigung - Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung - Erschütterung des Beweiswertes
Normenkette:
EFZG § 3 Abs. 1, § 7 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Die Ausstellung einer ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet eine tatsächliche Vermutung, dass der Arbeitnehmer in Folge Krankheit arbeitsunfähig war. Dem Arbeitgeber obliegt es, die Tatsachen vorzutragen, die den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit erschüttern, weil ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bestehen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Arbeitgeber kann nur so lange die Entgeltfortzahlung nach § 7 Abs. 1 S. 1 EFZG verweigern, wie der Arbeitnehmer seinen Pflichten nicht nachkommt. Reicht der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verspätet beim Arbeitgeber ein, endet ein entsprechendes Zurückbehaltungsrecht gemäß § 7 Abs. 1 EFZG mit Einreichung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, so dass der Arbeitnehmer einen fälligen Anspruch auf die Entgeltfortzahlung für den gesamten Zeitraum hat. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entgeltfortzahlungsanspruch, Eigenkündigung, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Erschütterung des Beweiswertes, krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, Dauer der Kündigungsfrist
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 05.03.2024 – 7 Sa 223/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 49569
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.725,00 Euro brutto sowie Jahreszinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 29.10.2022 zu bezahlen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 4.725,00 Euro festgesetzt.
4. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche des Klägers.
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Der Kläger war seit 01.05.2022 bei dem Beklagten als Disponent zu einem Bruttomonatsgehalt von 3.150,00 Euro bei 174 Stunden monatlich beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch Eigenkündigung des Klägers vom 26.09.2022 zum 15.10.2022 (Anlage zur am 24.10.2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klageschrift, Bl. 2 d.A.).
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Mit E-Mail vom 30.09.2022 (Anlage B2 zum Schriftsatz vom 06.04.2023, Bl. 59 d.A.) teilte der Kläger dem Beklagten u.a. mit:
„(…) Ich möchte gerne alle meine Überstunden bis zum 15.10.2022 abfeiern.
Ich möchte sie nicht alle Auszahlung lassen. (…)“
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Mit Schreiben vom 04.10.2022 forderte der Beklagte den Kläger auf, „sich unverzüglich an Ihrem Arbeitsplatz einzufinden und die fehlende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schnellstmöglich bei uns einzureichen“ (Anlage B1 zum Schriftsatz vom 18.01.2023, Bl. 27 d.A.). Daraufhin erklärte der Kläger mit E-Mail vom 04.10.2022 (Anlage B3 zum Schriftsatz vom 06.04.2023, Bl. 60 d.A.):
„Da ich so etwas geahnt habe.
Und mir noch nie passiert ist sowas wie bei euch.
Das original von letzter Woche bekommt ihr nochmal auf dem Postweg.
Von dieser Woche ist, auch auf dem Postweg zu euch.“
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Im vorliegenden Rechtsstreit legte der Kläger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für folgende Zeiträume vor (Anlagenkonvolut K2 zum Schriftsatz vom 02.03.2023, Bl. 37 ff d.A.):
- Erstbescheinigung vom 22.08.2022 für den Zeitraum vom 22.08.2022 bis 02.09.2022,
- Folgebescheinigung vom 05.09.2022 bis 09.09.2022,
- Erstbescheinigung vom 28.09.2022 für den Zeitraum vom 28.09.2022 bis 30.09.2022,
- Erstbescheinigung vom 04.10.2022 für den Zeitraum vom 04.10.2022 bis zum 08.10.2022,
- Erstbescheinigung vom 10.10.2022 für den Zeitraum vom 10.10.2022 bis zum 14.10.2022.
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Für den Zeitraum vom 01.09.2022 bis zum 15.10.2022 erhielt der Kläger keine Vergütung.
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Mit seiner am 24.10.2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage, die dem Beklagten am 28.10.2022 zugestellt wurde, macht der Kläger Vergütungsansprüche geltend.
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Er trägt vor, er sei im streitgegenständlichen Zeitraum, soweit er keine Arbeitsleistung erbracht habe, arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Er habe nicht vorsätzlich „krank gemacht“, nachdem ihm die Einbringung von Überstunden als Freizeitausgleich nicht gewährt worden sei. Er leide immer noch an einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung, die sich in die Kieferhöhle ausgebreitet habe. Er habe sich aus diesem Grund einer zahnärztlichen Operation unterziehen müssen. Aufgrund der Schwere der Erkrankung sei es dem Kläger nicht mehr möglich gewesen, seiner Beschäftigung bei dem Beklagten nachzugehen.
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.725,00 Euro brutto sowie Jahreszinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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Der Beklagte trägt vor, Zahlungsansprüche des Klägers bestünden nicht. Die Zusammensetzung des geforderten Betrags ergebe sich aus der Klageschrift nicht. Der Kläger behaupte zu pauschal, ihm stehe ein Lohnanspruch für den Zeitraum vom 01.09.2022 bis zum 15.10.2022 zu.
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Es bestünden erhebliche Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21 – bestünden ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung, wenn eine am Tag der Eigenkündigung des Arbeitnehmers ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecke. Nachdem der Kläger am 26.09.2022 seine Eigenkündigung zum 15.10.2022 eingereicht habe, habe er am 27.09.2022 bei dem Beklagten angefragt, ob er etwaige Überstunden während seiner Kündigungsfrist nehmen könne. Dies habe der Beklagte abgelehnt. Daraufhin sei der Kläger ab dem 28.09.2022 nicht mehr bei der Arbeit erschienen. Er habe sich weder krank gemeldet noch habe er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht. Nach der Aufforderung des Beklagten vom 04.10.2022, unverzüglich seine Arbeit wieder aufzunehmen, habe sich der Kläger arbeitsunfähig krank gemeldet. Die Arbeitsunfähigkeit habe exakt bis zum Ablauf der Kündigungsfrist angedauert.
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Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 28.09.2022 bis 30.09.2022 sei dem Beklagten am 05.10.2022 zugegangen, ebenso die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 04.10.2022 bis zum 08.10.2022. Die den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen zu Grunde liegenden Erkrankungen würden bestritten. Der Beklagte mache von seinem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch.
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Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften vom 14.12.2022 und vom 19.07.2023 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Rechtswegzuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen ergibt sich aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 a ArbGG. Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Nürnberg ist gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 12, 17 ZPO gegeben.
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Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Arbeitsvergütung, Feiertagsvergütung und Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von insgesamt 4.725,00 Euro brutto.
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1. Für die Zeiträume, in denen der Kläger seine Arbeitsleistung erbracht hat, besteht ein Vergütungsanspruch gemäß § 611a Abs. 2 BGB. Der Beklagte hat keine Gründe vorgebracht, weshalb dem Kläger für geleistete Arbeit kein Vergütungsanspruch zustehen sollte. Ein Zurückbehaltungsrecht besteht nicht.
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2. Bei dem 03.10.2022 handelt es sich um einen gesetzlichen Feiertag. Der Anspruch auf Vergütung ergibt sich insoweit aus § 611a Abs. 2 BGB i.V.m. § 2 EFZG.
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3. Der Kläger hat Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die durch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nachgewiesenen Krankheitszeiten gemäß § 611a Abs. 2 BGB iVm § 3 Abs. 1 EFZG.
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a) Gemäß § 3 Abs. 1 EFZG hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.
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b) Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
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aa) Einer ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Mit der Ausstellung einer solchen besteht eine tatsächliche Vermutung, dass der Arbeitnehmer in Folge Krankheit arbeitsunfähig war. Der Arbeitgeber kann wie bei jeder tatsächlichen Vermutung Tatsachen vortragen, aus denen der Richter den Schluss ziehen kann, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeit erschüttert ist, weil ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit bestehen (vgl. ErfK/Reinhard 23. Aufl. § 5 EFZG Rn. 14).
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bb) Dies hat der Beklagte nicht getan. Die von ihm vorgetragenen Umstände genügen nicht, um ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu begründen.
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(1) Für die Krankheitszeiten vor Ausspruch der Eigenkündigung (22.08.2022 bis 02.09.2022 sowie 05.09.2022 bis 09.09.2022) trägt der Beklagte keine Umstände vor, die ernsthafte Zweifel an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers begründen könnten.
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(2) Auch für die Krankheitszeiten nach Ausspruch der Eigenkündigung am 26.09.2022 lassen die vom Beklagten vorgetragenen Tatsachen den Schluss auf solche Zweifel nicht zu. Der Kläger hat seine Krankheit weder angekündigt noch im Zusammenhang mit seiner Eigenkündigung gegenüber der Beklagten erklärt, dass er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zur Arbeit kommen werde. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich in entscheidungserheblicher Weise von dem Sachverhalt, der der von dem Beklagten herangezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde lag. Während in der zitierten Entscheidung eine am Tag der Eigenkündigung ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung exakt den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist erfasste, ist dies hier nicht der Fall. Vielmehr war der Kläger bei der Übergabe der Kündigung und am Folgetag arbeitsfähig. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wurde am 28.09.2022 ausgestellt und erfasste mitnichten passgenau die Kündigungsfrist. Vielmehr endete der von ihr erfasste Zeitraum bereits am 30.09.2022. Deshalb ist es auch nachvollziehbar, dass der Kläger die E-Mail vom 30.09.2022 verfasste, um auf einen Überstundenausgleich hinzuwirken. Die weitere Arbeitsunfähigkeit schloss sich hierauf erst ab 04.10.2022 an. Der Beklagte hat nach alledem den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht erschüttert.
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c) Ein Zurückbehaltungsrecht des Beklagten besteht nicht. Der Arbeitgeber kann nur so lange die Entgeltfortzahlung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 EFZG verweigern, wie der Arbeitnehmer seinen Pflichten nicht nachkommt. Wenn der Arbeitnehmer seine Obliegenheit erfüllt, erlischt das Leistungsverweigerungsrecht rückwirkend. Der Arbeitnehmer hat einen nunmehr fälligen Anspruch auf die Entgeltfortzahlung für den gesamten Zeitraum (vgl. ErfK/Reinhard 23. Aufl. § 7 EFZG Rn. 9). So liegt der Fall hier. Auch wenn der Kläger, wie der Beklagte vorträgt, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen teilweise verspätet bei ihm eingereicht haben sollte, endete ein entsprechendes Zurückbehaltungsrecht gemäß § 7 Abs. 1 EFZG mit Einreichung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen.
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4. Der vertraglich geschuldete Bruttomonatsverdienst beträgt unstreitig 3.150,00 Euro. Für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.09.2022 bis 15.10.2022 steht dem Kläger daher insgesamt ein Vergütungsanspruch in der geltend gemachten Höhe von 4.725,00 Euro brutto zu.
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5. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG, § 91 Abs. 1 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG, § 3 ZPO.
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Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung ergeht gemäß § 64 Abs. 3 a ArbGG. Berufung kann gemäß § 64 Abs. 2 lit. b ArbGG eingelegt werden. Umstände, welche die gesonderte Zulassung der Berufung gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG begründet hätten, sind nicht gegeben.