Titel:
Klagefrist versäumt, anwaltliches Organisationsverschulden, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Kontrollausdruck eines elektronisch geführten Fristenbuches, Reihenfolge der Arbeitsschritte bei der Fristennotierung
Normenketten:
VwGO § 60
VwGO § 74
ZPO § 85 Abs. 2
Schlagworte:
Klagefrist versäumt, anwaltliches Organisationsverschulden, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Kontrollausdruck eines elektronisch geführten Fristenbuches, Reihenfolge der Arbeitsschritte bei der Fristennotierung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 49563
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3.Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die Festsetzung eines Erschließungsbeitrags von 22.465,32 EUR durch den Beklagten. Es steht bereits die Zulässigkeit der Klage in Streit.
2
Mit Bescheid vom 25.09.2020 hat der Beklagte gegenüber dem Kläger einen Erschließungsbeitrag für das Grundstück Fl.-Nr. … der Gemarkung … i.H.v. 22.465,32 EUR festgesetzt (Ziffer 1), den Kläger als Beitragsschuldner in Anspruch genommen (Ziffer 2) und den Betrag einen Monat nach Bekanntgabe des Bescheids fällig gestellt (Ziffer 3).
3
Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 19.10.2020 mit Schreiben seiner Bevollmächtigten Widerspruch einlegen. Beigefügt war dem Schreiben eine auf die Bevollmächtigten lautende Vollmacht.
4
Unter dem 13.01.2021 erließ der Beklagte einen Nacherhebungsbescheid über 2.504,80 EUR. Gegen diesen ließ der Kläger mit Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 21.01.2021 ebenfalls Widerspruch einlegen.
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Der Beklagte half den Widersprüchen nicht ab und legte sie mit Schreiben vom 07.07.2021 dem Landratsamt … zur Entscheidung vor.
6
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022, den Bevollmächtigten des Klägers laut Empfangsbekenntnisses zugestellt am 02.05.2022, wies das Landratsamt … die Widersprüche gegen beide Bescheide zurück. Sie seien zwar zulässig, aber unbegründet.
7
Am 09.06.2022 ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigten mit Schreiben vom selben Tag Klage erheben sowie beantragen,
den Bescheid des Marktes … vom 25.09.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamtes … vom 26.04.2022 aufzuheben.
8
Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen vorgebracht: Dem Kläger sei wegen der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren, weil die Fristversäumung allein auf einem Verschulden der bis dahin stets zuverlässigen Kanzleiangestellten, Frau …, beruhe.
9
Das Notieren von Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelfristen erfolge in der Kanzlei eigenverantwortlich durch die zuständige Sekretärin. Beim Posteinlauf notiere sie die jeweilige Frist im Fristenkalender mit kurzer Bezeichnung des Fristengrundes, des Aktenzeichens, des Kurzrubrums und vermerke den letzten Tag des Fristablaufs. Bei Fristen, die sich aus einem Schriftstück ergeben würden, werde auf dem Schriftstück zudem vermerkt, dass die Frist notiert sei und ein Handzeichen der entsprechenden Mitarbeiterin angebracht. Der Rechtsanwalt überprüfe die Erfassung und richtige Berechnung der Frist. Dies werde so seit Jahren in der Kanzlei praktiziert. Neueingestellten Mitarbeitern werde diese Organisation von Anfang an vermittelt, die Anwendung zunächst durch eine erfahrene Kanzleikraft sowie den zuständigen Rechtsanwalt begleitet, bis eine eigenverantwortliche und ordnungsgemäße Fristennotierung sichergestellt sei. Zusätzlich erfolge in regelmäßigen Abständen eine Belehrung des zuständigen Kanzleipersonals, zuletzt am 24.05.2018. Frau … sei eine erfahrene und zuverlässige Kraft, die – wie regelmäßige Kontrollen ergeben hätten – sorgfältig und fehlerlos arbeite. Insbesondere sei Frau … regelmäßig tätig für das Referat des den Fall bearbeitenden Rechtsanwalts … und somit erfahren mit der Notierung verwaltungsrechtlicher Rechtsmittelfristen.
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Frau … habe die Klagefrist berechnet und auf dem Widerspruchsbescheid des Landratsamts … korrekt notiert. Es sei dann im Fristenkalender eine Vorfrist für den 27.05.2022 eingetragen worden. Versehentlich sei der Fristablauf im Fristenkalender jedoch nicht für den 02.06.2022, sondern exakt eine Woche später für den 09.06.2022 notiert worden. Herrn Rechtsanwalt …sei mit den Posteingängen der Widerspruchsbescheid am Tage seiner Zustellung vorgelegt worden. Er habe die auf dem Schreiben handschriftlich vorgenommene Fristberechnung überprüft. Aufgrund des Vermerkes „not.“ ging der Unterzeichner davon aus, dass die Frist entsprechend notiert sei, und unterschrieb das Empfangsbekenntnis. Am Tag der notierten Vorfrist (27.05.2022) sei die Kanzlei aufgrund des Brückentages geschlossen gewesen. Insofern habe Herr Rechtsanwalt … erst am 09.06.2022, also dem Tag, an dem der Fristablauf versehentlich notiert gewesen sei, festgestellt, dass die Klagefrist bereits abgelaufen sei. Die letzte, vorherige Bearbeitung des Aktenvorgangs durch Herrn Rechtsanwalt … sei am 08.04.2022 erfolgt. Dabei habe er das Landratsamt … telefonisch darüber informiert, dass der Widerspruch aufrechterhalten bleibe. Gleichzeitig habe er an die Rechtsschutzversicherung des Klägers eine Deckungsanfrage für das erstinstanzliche Klageverfahren gerichtet, welche noch am gleichen Tage erteilt worden sei.
11
Aus alledem ergebe sich, dass im Rahmen der Büroorganisation durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen worden sei, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre. Herr Rechtsanwalt … habe sich zum Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheids insofern darauf verlassen können, dass die ansonsten beanstandungsfrei tätige Büroangestellte entsprechend der Büroanweisung die Klagefrist notiere. Die besondere Sorgfaltspflicht, die die eigenverantwortliche Überwachung der Wahrung von Fristen durch einen Rechtsanwalt erfordere, schließe es insofern nicht aus, die Notierung, Berechnung und Kontrolle der üblichen Fristen in Rechtsmittelsachen, die wie die hiesige Frist in der Kanzlei der Bevollmächtigten häufig vorkämen und deren Berechnung keine Schwierigkeiten machten, gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal zu überlassen. Da die Akte im Zusammenhang mit sonstigen vorzunehmenden Handlungen von Herrn Rechtsanwalt … seit dem Zugang des Widerspruchsbescheids nicht bearbeitet worden sei, habe es für ihn nach der Zustellung des Widerspruchsbescheids keinen Anlass für eine zusätzliche eigenverantwortliche Überprüfung gegeben.
12
Beigefügt war der Klageschrift u.a. eine „Anweisung und Belehrung über Fristensachen in unserer Kanzlei“ mit datierten Unterschriften über erfolgte Belehrungen, die letzte Seite des Widerspruchsbescheids mit Fristvermerk („End. 02.06.22“) und ein Abdruck des elektronisch geführten Fristenbuches des Falles.
13
Der Beklagte ließ mit Schriftsatz vom 20.06.2022 beantragen,
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass regelmäßige stichprobenartige Kontrollen des nicht anwaltlichen Personals weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden seien. Die Vorfrist sei offenbar auch nicht zur nochmaligen Kontrolle der Hauptfrist genutzt worden.
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Die Bevollmächtigten des Klägers erwiderten darauf im Wesentlichen: Wie bereits vorgetragen, sei auf dem Widerspruchsbescheid die Klagefrist richtig berechnet und notiert sowie durch Herrn Rechtsanwalt … auch kontrolliert worden. Warum dann versehentlich der Fristablauf im Fristenkalender nicht richtig für den 02.06.2022, sondern exakt eine Woche später für den 09.06.2022 notiert worden sei, lasse sich leider nicht mehr nachvollziehen. Vermutlich falle dies in den Verantwortungsbereich von Frau …, die seit über 20 Jahren in der Kanzlei tätig sei und insofern nicht nur eine erfahrene, sondern aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten auch äußerst zuverlässige Kraft sei. Frau … sei im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit im Referat des Unterzeichners noch nie ein vergleichbarer Fehler unterlaufen.
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Am 17.01.2023 hat das Gericht beschlossen, Beweis zu erheben durch Vernehmung von Frau … als Zeugin in der mündlichen Verhandlung.
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Ergänzend wird gemäß § 117 Abs. 3 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf die Gerichtsakte mit dem Sitzungsprotokoll vom 24.02.2023 und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unzulässig, da die Klagefrist nicht gewahrt wurde.
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1. Die Klage hätte nach § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids erhoben werden müssen. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrungversehene Widerspruchsbescheid vom 26.04.2022 wurde den Klägerbevollmächtigten mittels Empfangsbekenntnis am 02.05.2022 zugestellt (§ 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO i.V.m. §§ 3, 7 VwZG). Demzufolge begann die Klagefrist nach § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 187 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 03.05.2022 und endete gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 02.06.2022. Die Klageerhebung am 09.06.2022 ist demnach verfristet. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
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2. Dem seitens des Klägers form- und fristgerecht gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ist nicht stattzugeben, da die Fristversäumnis nicht unverschuldet war.
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Gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 294 ZPO).
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Die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind vorliegend nicht erfüllt, weil der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten. Eine Säumnis ist schuldhaft, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist. Das Verschulden eines Bevollmächtigten ist dem vertretenen Beteiligten wie eigenes Verschulden zuzurechnen (§ 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO). Das Verschulden von Hilfspersonen eines Bevollmächtigten ist dem Beteiligten nicht zuzurechnen. Allerdings kann den Prozessbevollmächtigten ein eigenes Verschulden treffen, wenn die Organisation seines Büros mangelhaft ist oder er die Hilfspersonen nicht mit der erforderlichen Sorgfalt auswählt, überwacht und anleitet. Das Verhalten des Prozessbevollmächtigten ist dann nicht schuldhaft, wenn er darlegen kann, dass es zu einem Büroversehen gekommen ist, obwohl er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen geeignet sind, die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen, und er ferner darlegt, dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat. Besondere Sorgfalt muss ein Rechtsanwalt bei der Überwachung und Berechnung von Fristen verwenden. Er muss organisatorisch sicherstellen, dass Fristen zuverlässig eingetragen und überwacht werden.
23
Eine Büroorganisation, die diesen Voraussetzungen genügt, ist dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht zu entnehmen. Vielmehr haben die Aussagen in der mündlichen Verhandlung am 24.02.2023 aufgezeigt, dass ein anwaltliches Organisationsverschulden vorliegt.
24
a. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben im Umgang mit dem elektronischen Fristenkalender nicht alle Vorkehrungen getroffen, die nach vernünftigem Ermessen geeignet sind, die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen.
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Die Verwendung einer elektronischen Kalenderführung darf keine hinter der manuellen Führung zurückbleibende Überprüfungssicherheit bieten. Bei der Eingabe von Fristen in den elektronischen Fristenkalender bestehen spezifische Fehlermöglichkeiten. Dazu zählen nicht nur Datenverarbeitungsfehler der EDV, sondern auch Eingabefehler, insbesondere durch Vertippen. Das bedeutet, dass der Rechtsanwalt, der laufende Fristen in einem elektronischen Fristenkalender erfasst, durch geeignete Organisationsmaßnahmen die Kontrolle der Fristeingabe gewährleisten muss. Dies kann durch einen Ausdruck der eingegebenen Einzelvorgänge oder eines Fehlerprotokolls erfolgen. Werden die Eingaben in den EDV-Kalender nicht durch Ausgabe der eingegebenen Einzelvorgänge über den Drucker oder durch Ausgabe eines Fehlerprotokolls durch das Programm kontrolliert, ist darin nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein anwaltliches Organisationsverschulden zu sehen. Die Fertigung eines Kontrollausdrucks ist erforderlich, um nicht nur Datenverarbeitungsfehler des EDV-Programms, sondern auch Eingabefehler oder -versäumnisse mit geringem Aufwand rechtzeitig zu erkennen und zu beseitigen (so zum Ganzen BGH, B.v. 28.02.2019 – III ZB 96/18 – juris Rn. 13 m.w.N.; vgl. ebenso BFH, B.v. 30.04.2013 – IV R 38/11 – juris Rn. 20). Durch die Fertigung eines Kontrollausdrucks besteht eine erheblich geringere Gefahr einer unvollständigen bzw. unrichtigen und nicht kontrollierten Fristeingabe. Das Fehlen eines erforderlichen Kontrollausdrucks springt unmittelbar ins Auge, insbesondere wenn der Vorgang im Rahmen einer Arbeitsroutine von erfahrenem Büropersonal durchgeführt wird. Es ist ein Warnzeichen, das der mit der Fristeintragung befassten Person deutlich signalisiert, dass die Fristeingabe noch nicht kontrolliert und möglicherweise sogar noch nicht abgeschlossen wurde. Nur der durch den Ausdruck herbeigeführte – in vorliegendem Zusammenhang sinnvolle – „Medienbruch“ zwischen Eingabe am Bildschirm und Kontrolle mittels eines Ausdrucks gewährleistet mithin ein hohes Maß an Sicherheit in Bezug auf eine zutreffende Fristeingabe und -speicherung (so zum Ganzen BGH, B.v. 28.02.2019 – III ZB 96/18 – juris Rn. 19). Nach neuester Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann von der Anfertigung eines Kontrollausdrucks auch im Fall rein elektronischer Aktenführung allenfalls dann abgesehen werden, wenn andere Vorkehrungen getroffen werden, die ein vergleichbares Maß an Sicherheit ermöglichen (BGH, B.v. 02.02.2021 – X ZB 2/20 – juris Rn. 13).
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Diesen – zweifelsohne hohen – Anforderungen genügt die Büroorganisation der Bevollmächtigten des Klägers, konkret des hier maßgeblichen Dezernats von Herrn Rechtsanwalt …, nicht. Dass eine Anweisung bestand, den Fristenkalender auszudrucken, wurde nicht vorgetragen. Im Rahmen der Büroorganisation ist somit nicht durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen worden, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Frist mit Sicherheit gewahrt worden wäre (vgl. BayVGH, B.v. 06.07.2006 – 4 ZB 05.3239, auf den der Kläger verwiesen hat). Wie die Zeugin, Frau …, in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, wird der elektronisch geführte Fristenkalender auch tatsächlich nicht ausgedruckt; vielmehr schauen sie sich den Fristenkalender nur auf dem Monitor an. Dieses Vorgehen ist jedoch nicht gleich effektiv und sicher wie eine Kontrolle anhand eines Papierausdrucks. Sie erfolgt ausschließlich EDVgestützt über die Einsichtnahme in die auf dem Bildschirm angezeigten Daten. Eine solche Kontrolle ist deutlich anfälliger insbesondere für ein sogenanntes Augenblicksversagen der mit ihr beauftragten Mitarbeiter als eine Kontrolle mittels eines Ausdrucks (vgl. BGH, B.v. 28.02.2019 – III ZB 96/18 – juris Rn. 16). Soweit Herr Rechtsanwalt … in der mündlichen Verhandlung darauf verwiesen hat, dass er die Posteingänge kontrolliere und bei der täglichen Arbeit mit dem Kalender mitbekomme, ob die Fristen richtig notiert seien, bietet diese Handhabung ebenfalls nicht ein vergleichbares Maß an Sicherheit wie ein Kontrollausdruck des Fristenkalenders. Die „Arbeit mit dem Kalender“ besteht nämlich, wie er in der mündlichen Verhandlung näher erläuterte, nicht etwa in einer Einsichtnahme in den elektronischen Fristenkalender selbst, sondern in einen elektronischen Kalender, in dem ihm alle für den jeweiligen Tag notierten Fristabläufe angezeigt werden. Ein solcher Kalender lässt zwar das Fristende, nicht aber u.a. den Fristbeginn ersehen, obwohl sich ein Eingabefehler allenfalls aus dem Zusammenspiel der Fristdaten sicher erkennen ließe. Zudem kann bei Einsichtnahme in diesen Kalender im Zeitpunkt des notierten Fristablaufs die Frist – wie vorliegend geschehen – schon abgelaufen sein. Außerdem findet kein „Medienbruch“ statt.
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b. Im Übrigen haben die Bevollmächtigten des Klägers bei der Organisation der Fristennotierung die erforderliche Sorgfalt auch hinsichtlich eines weiteren Aspekts nicht gewahrt.
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Ein Rechtsanwalt darf nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Empfangsbekenntnis über eine an ihn erfolgte Urteils- bzw. Bescheidzustellung erst unterzeichnen und zurückgeben, wenn in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist. Die Handakte muss durch entsprechende Erledigungsvermerke oder auf sonstige Weise erkennen lassen, dass die Fristen in den Fristenkalender eingetragen worden sind. Dieses Vorgehen soll sicherstellen, dass die Fristen tatsächlich (richtig) eingetragen sind und dem Anwalt eine entsprechende Kontrolle anhand der Handakten möglich ist. Zu einer ordnungsgemäßen Büroorganisation gehört daher eine klare Anweisung, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender eingetragen werden müssen, bevor ein entsprechender Vermerk in der Akte eingetragen werden kann. Denn sonst besteht die Gefahr, dass der Erledigungsvermerk in der Handakte bereits vor der Eintragung in einen Kalender angebracht wird und die Gegenkontrolle versagt (vgl. zum Ganzen BGH, B.v. 12.09.2019 – IX ZB 13/19 – juris Rn. 13). Dass eine entsprechende Anweisung bestanden hat, kann im Wiedereinsetzungsverfahren nur Berücksichtigung finden, wenn der übrige Vortrag erkennen lässt, dass die Anweisung im Anwaltsbüro grundsätzlich praktiziert wird (BGH, B.v. 06.05.1997 – VI ZB 12/97 – juris LS und Rn. 5).
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Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die mit der Klageschrift vorgelegte „Anweisung und Belehrung über die Behandlung von Fristensachen in unserer Kanzlei“ listet die Handlungsabfolge zwar korrekt auf, wenngleich sie nicht betont, dass der Erledigungsvermerk stets erst nach Eintragung in den Fristenkalender vorzunehmen ist. Wie die Zeugin, Frau …, in der mündlichen Verhandlung aber ausführte, weicht die tatsächliche Handhabung in der Kanzlei davon ab. Konkret bringt sie den Erledigungsvermerk teils vor und teils nach Eintragung in den Fristenkalender an. Damit ist die Vorgabe, stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender einzutragen, bevor der Erledigungsvermerk angebracht wird, nicht gewahrt.
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Soweit die Zeugin weiter angibt, dass sie immer abschließend das Datum des Fristablaufs auf der Handakte mit dem im Fristenkalender überprüfe, macht dies die Einhaltung der Vorgabe, den Erledigungsvermerk erst nach Eintragung in den Fristenkalender anzubringen, nicht entbehrlich. Denn der Büroalltag von Rechtsanwaltsfachangestellten, insbesondere wenn sie eine Art Bürovorstehertätigkeit ausüben, ist geprägt durch zahlreiche Arbeitsvorgänge, die in kurzer Abfolge zu erledigen sind. Nicht selten müssen sie wegen anderer vordringlicher Aufgaben oder Aufträge unterbrochen werden (z.B. eingehende Telefonate, Anfragen von anwesenden Mandanten, eilige Aufträge der Rechtsanwälte). Dies birgt die Gefahr, dass eine Aufgabe und der Stand ihrer Erledigung, etwa wenn sie begonnen, aber unterbrochen wurde, in Vergessenheit geraten beziehungsweise irrig als vollständig erledigt erinnert werden. Eine solche Gefahr besteht in erhöhtem Maße, wenn die Aufgabe in zwar mehrstufigen, aber jeweils nur kurze Zeit benötigenden Arbeitsschritten durchzuführen ist (vgl. zum Ganzen BGH, B.v. 28.02.2019 – III ZB 96/18 – juris Rn. 17).
31
c. Die unter Buchst. a. und b. festgestellten anwaltlichen Pflichtverletzungen sind dem Kläger auch zuzurechnen, weil nicht auszuschließen ist, dass sie für die Versäumung der Klagefrist ursächlich sind.
32
Liegen mehrere Pflichtverletzungen vor, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Wiedereinsetzung nur dann gewährt werden, wenn glaubhaft gemacht wird, dass sie sich nicht auf die Fristversäumung ausgewirkt haben können. Besteht hingegen die Möglichkeit, dass die Versäumung der Frist auf dem festgestellten Verschulden beruht, scheidet eine Wiedereinsetzung aus (so zum Ganzen BGH, B.v. 12.09.2019 – IX ZB 13/19 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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Das unter Buchst. a. diagnostizierte Organisationsdefizit war für die Fristversäumnis höchstwahrscheinlich kausal. Hätte in der Kanzlei der Klägerbevollmächtigten die tatsächlich praktizierte Anweisung bestanden, durch Fertigung eines Kontrollausdrucks die korrekte Eintragung des Fristablaufs zu prüfen, wäre der Tippfehler (02.06.2022 statt 09.06.2022) vermutlich festgestellt worden (vgl. BGH, B.v. 12.04.2018 – V ZB 138/17 – juris Rn. 11).
34
Es liegt nahe, dass die Fristversäumnis auch allein auf dem unter Buchst. b. konstatierten Organisationsverschulden der Prozessbevollmächtigten des Klägers beruht. Denn es ist zumindest nicht auszuschließen, dass vorliegend der Erledigungsvermerk vor Eintragung im Fristenbuch angebracht wurde und eine grundsätzlich danach vorgenommene Kontrolle der Eintragung im Fristenbuch, die den Tippfehler hätte erkennen lassen, aus welchen Einzelfallumständen auch immer unterblieb. Dies ist umso wahrscheinlicher als, wie die mündliche Verhandlung ergeben hat, vorliegend eine Auszubildende an der Fristberechnung und -notierung mitgewirkt hatte.
35
d. Da nach den obigen Ausführungen die Fristversäumnis zurechenbar verschuldet war, muss weiteren etwaigen Verschuldensgründen nicht nachgegangen werden. So kann insbesondere offenbleiben, ob Rechtsanwälte auch bei solchen Angestellten, denen während ihrer langjährigen Tätigkeit weder ein Fristversäumnis noch eine Ungenauigkeit im Zusammenhang mit Terminen oder Fristen unterlaufen ist, durch geeignete Stichproben überprüfen müssen, ob ihre Beschäftigten die Fristennotierung und die Fristenüberwachung ordnungsgemäß durchführen (dafür: BGH, B.v. 21.09.2000 – IX ZB 67/00 – juris Rn. 5; B.v. 08.11.1967 – VIII ZB 38/67 – juris Rn. 8; dagegen: BGH, B.v. 09.10.2007 – XI ZB 14/07 – juris Rn. 9). Ebenfalls dahinstehen kann folglich, ob der Umgang mit der Vorfrist vorliegend schuldhaft war, obwohl bei Rechtsmitteleinlegungen grundsätzlich keine Vorfrist notiert zu werden braucht (vgl. u.a. BVerwG, B.v. 24.04.2019 – 2 B 1/19 – juris Rn. 11 f.; BGH, B.v. 10.06.2008 – VI ZB 2/08 – juris Rn. 6 f.), sowie ob das Zurückbleiben der Büroorganisation hinter der eigenen Anweisung, die Fristen auch auf dem Handaktenblatt zu notieren, ein Verschulden begründen kann (vgl. Borgmann, in Hamm, Beck’sches Rechtsanwaltshandbuch, 12. Aufl. 2022, § 66 Rn. 10). Nicht aufzuklären war des Weiteren vor allem auch, ob auf dem Herrn Rechtsanwalt … bei Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses vorgelegten Exemplar des streitgegenständlichen Widerspruchsbescheids – anders als auf dem als Anlage zur Klageschrift vorgelegten Exemplar – tatsächlich der Eingangsstempel nebst Zustelldatum angebracht war (zu den diesbezüglichen Anwaltspflichten: BGH, B.v. 12.09.2019 – IX ZB 13/19 – juris Rn. 13).
36
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, wonach die unterliegende Partei die Verfahrenskosten zu tragen hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.