Titel:
Schmerzensgeld nach der Fluggastrechteverordnung
Normenketten:
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 6 Abs. 1 lit. c, Art. 7 Abs. 1 lit. b, Art. 9 Abs. 1 lit. a, lit. c
BGB § 254 Abs. 1, § 280, § 281 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
Leitsatz:
Muss ein Passagier 4,5 Stunden in der Warteschlange am Flughafen bei Temperaturen über 38 Grad an den Gepäckbändern warten, rechtfertigt dies einen Anspruch auf Schmerzensgeld gegen das Luftfahrtunternehmen. (Rn. 19 und 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Flugverspätung, Schmerzensgeld, Hitze, Warteschlange, stundenlanges Warten
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 20 U 39/24 e
Weiterführende Hinweise:
Hinweis d. Red.: Nach Hinweisbeschluss des OLG München wurde Berufung zurückgenommen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 49466
Tenor
1. Das Versäumnisurteil vom 03.05.2023 wird in Ziffer 1 aufgehoben und neu gefasst:
Die Beklagte wird verteilt, an die Klägerin 5.464,47 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 01.02.2023 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 5.818,13 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus der Fluggastrechteverordnung.
2
Die Klägerin macht mit der vorliegenden Klage Schadensersatz- und Entschädigungsansprüche nach der Europäischen Fluggastrechte-VO wegen zweier Flugverspätung aus eigenem und abgetretenem Recht geltend. Am 29.04.2022 buchte die Klägerin für sich und 5 weitere Passagiere jeweils einen Hin- und Rückflug von Deutschland nach Marokko.
3
Der Hinflug sollte planmäßig stattfinden am 03.06.2022 von MUC über MAD (IB3195) nach TNG (IB8796) mit Ankunftszeit in Tanger am 03.06.2022 um 11.55 Uhr. Aufgrund eines vermeidbaren technischen Defekt einer Tür konnte die geplante Ankunftszeit in MAD um 10.15 Uhr nicht eingehalten werden. Tatsächliche Ankunftszeit in Madrid war am 03.06.2022 um 11.06 Uhr.
4
Aufgrund dieser Verspätung des ersten Teilstreckenfluges von München nach Madrid um ca. 55 Minuten konnte der Anschlussflug in Madrid nicht erreicht werden. Bemühungen, um den Weiterflug noch zu erreichen, wurden von der Beklagten nicht unternommen. Die Passagiere wurden umgebucht auf einen Flug 24 Stunden später, sodass der Zielort Tanger schließlich erst am 04.06.2022 um 11.55 Uhr erreicht wurde (Flug IB8796). Die Verspätung am Endziel betrug ca. 24 Stunden und damit mehr als 3 Stunden. Die Klägerin macht insoweit Ausgleichsansprüche nach Art. 7 Abs. 1 b) der VO (EG) Nr. 261/2004 in Höhe von 400,- € je Passagier, sowie Kosten für fehlende Ebtreuungsleistungen für die Fahrten vom Flughafen zum Hotel und zurück in Höhe von 27,- € und 27,47 € geltend. Zudem wurde für 1 Tag nutzlos Mietwagen bezahlt in Höhe von 65,66 € und eine gebuchte Hotelübernachtung am Ankunftsort in Höhe von 288,- €.
5
Der Rückflug war geplant von Marrakesch über Madrid nach München mit planmäßiger Ankunft in MUC am 18.06.2022 um 19.15 Uhr. Erneut hatte der erste Teilstreckenflug von RAK nach MAD (IB3341) eine Verspätung von 28 Minuten, sodass der Anschlussflug nach MUC (IB8826) aufgrund der ohnehin erneut viel zu knapp bemessenen Umsteigezeit nicht erreicht werden konnte. Bemühungen, um den Weiterflug doch noch bekommen, wurden von der Beklagten wieder nicht unternommen. Nach einer abermaligen Übernachtung im Hotel kamen die Passagiere am Endziel München erst am nächsten Tag, also am 19.06.2022 um 11.25 Uhr an (Flug IB3190) und damit mehr als 3 Stunden verspätet. Die Klägerin macht wegen dieser Verspätung weitere Ausgleichsleistungen in Höhe von 2.400,- € geltend. Für den Parkplatz am Flughafen M. musste eine Nachzahlung für die überzogene Parkdauer i.H.v. 10,00 € erbracht werden.
6
Weiter macht die Klägerin ein Schmerzensgeld für alle Passagiere in Höhe von 100,- € pro Passagier geltend. Die Beklagte hatte die Passagiere nicht mit Verpflegung, insbesondere mit Getränken versorgt. Die Passagiere mussten 4,5 Stunden in der Warteschlange am Flughafen bei den Gepäckbändern warten und erreichten erst gegen 23.15 Uhr das Hotel. In Madrid hat zu diesem Zeitpunkt eine Hitzewelle mit über 38 Grad geherrscht.
7
Die Klägerin behauptet, es habe in dem Bereich des Flughafens, in dem der Schalter der Beklagten sich befand keine Möglichkeit gegeben, sich mit Getränken zu verpflegen. Weil den Passagieren keine Getränke gereicht wurden, trat bei diesen aufgrund der Hitze, Kopfschmerzen, Durst, Hunger, Herzrasen und Kreislaufbeschwerden ein.
8
Zu der am 03.05.2023 angesetzten Verhandlung ist beklagtenseits niemand erschienen, so dass ein Versäumnisurteil erging, gegen das die Beklagte Einspruch einlegte.
9
Die Klägerin beantragte zuletzt,
den Einspruch der Beklagten zu verwerfen und dieser die weiteren Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
10
Die Beklagte beantragte,
das Versäumnisurteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
11
Die beklagte Partei erklärte hinsichtlich den klägerischen Ansprüchen, welche auf Seite 4 der Klage unter c und d geltend gemacht sind, die Anrechnung nach Artikel 12 Abs. 1 der VO 261/04.
12
Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 01.12.2023 wird ebenso Bezug genommen, wie auf die eingereichten Schriftsätze.
Entscheidungsgründe
13
Die Klage ist zulässig und nahezu vollständig begründet.
14
1. Die Beklagte schuldet für die Verspätungen die Zahlung von Ausgleichsleistungen nach Art. 7 Abs. 1 b) Verordnung (EG) Nr. 261/2004 i.H.v. 400 € je Passagier für Hin- und Rückflug.
15
2. Die Beklagte schuldet weiterhin die Kosten für den Taxitransfer in Höhe von 27,- € und 27,47 € aus Art. 9 Abs. 1 c) Verordnung (EG) Nr. 261/2004.
16
3. Soweit die Klagepartei Schadensersatz geltend macht bzgl. der Mietwagenkosten, des bezahlten Hotelzimmers und der Parkkosten am M. Flughafen, hat die Beklagte hinsichtlich der ersten beiden Positionen zulässigerweise die Anrechnung nach Artikel 12 Abs. 1 der VO 261/04 erklärt. Insoweit war die Klage unbegründet.
17
4. Die Klägerin kann überdies ein Schmerzensgeld in geltend gemachter Höhe gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. a), Art. 6 Abs. 1 lit. c) VO i.V. m. Art. 9 Abs. 1 lit. a) VO i.V. m. §§ 280, 281 BGB wegen Nichterfüllung der der Beklagten obliegenden Verpflichtung zur Erbringung bestimmter Betreuungsleistungen verlangen. Hiernach ist das ausführende Luftfahrtunternehmen verpflichtet, dem Passagier im Falle einer Flugannullierung beziehungsweise Verspätung Mahlzeiten und Erfrischungen im angemessenen Verhältnis zur Wartezeit unentgeltlich anzubieten. Dem ist die Beklagte vorliegend nicht nachgekommen, da die Klägerin unstreitig während eines Zeitraums von nahezu 4,5 Stunden weder Wasser noch andere Lebensmittel erhalten hat. Dass zu der streitgegenständlichen Zeit eine Hitzewelle mit über 38 Grad herrschte ist unstreitig.
18
Die Bestimmung einer Frist zur Leistung im Sinne von § 281 Abs. 1 S. 1 BGB war vorliegend gemäß § 281 Abs. 2 BGB entbehrlich, da der Klägerin auf ihr unstreitig mehrfach getätigtes Ersuchen nach Wasser bereits in Madrid zu verstehen gegeben wurde, dass vor Ort keine Versorgung stattfinden würde, da auch auf Nachfrage keine Getränke zur Verfügung gestellt wurden.
19
Durch das „erzwungene“ Ausharren über 4,5 Stunden ohne Wasser ist der Klägerin und den anderen Flugreisenden ein immaterieller Schaden in Form einer Gesundheitsbeeinträchtigung entstanden. Unter eine solche fällt jedes Hervorrufen eines von den normalen körperlichen Funktionen nachteilig abweichenden Zustands (BGH NJW 2005, 2614 m. w. N.) Die Klägerin hat vorgetragen, dass es über 38 Grad Außentemperatur hatte. Bei diesen Temperaturen ist erfahrungsgemäß auch in den ansonsten klimatisierten Gebäuden des Flughafens mit hohen Temperaturen zu rechnen. Die Klägerin konnte sich auch nicht selbst mit Getränken versorgen, da dort, wo der Schalterbereich war, keine Möglichkeit der Getränkeversorgung gegeben war. Dass die Klägerin zuvor sich mit Getränken versorgen konnte, ist insoweit unerheblich, da die Klägerin ja nicht wissen konnte, dass die Beklagte sie und ihre Mitreisenden über 4,5 Stunden hinweg warten lassen würde.
20
Die Beeinträchtigung erfolgte aufgrund der Nichtvornahme der geschuldeten Betreuungsleistungen. Der klägerseits geforderte Betrag von 100,00 EUR ist auch seiner Höhe nach nicht zu beanstanden. Das Ausmaß des Schmerzensgeldes muss in einem angemessenen Verhältnis zu Art und Dauer der Verletzung unter Berücksichtigung aller für die Höhe maßgeblichen Umstände stehen (BGH VersR 1988, 943; BGHZ 138, 388, 391; OLG Oldenburg VersR 1996,726, 727; OLG Bremen VersR 2003,779). Die geforderte Summe begegnet in Ansehung des Erduldens eines Durstes über viele Stunden in einem heißen Land keinen Bedenken.
21
Der Anspruch ist schließlich auch nicht infolge eines Mitverschuldens des Klägers im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB zu kürzen. Der Auffassung der Beklagten, der Kläger hätte sich eigenverantwortlich mit Wasserreserven versorgen müssen, kann bereits deshalb nicht gefolgt werden, weil die Mitnahme von Flüssigkeiten jeder Art in bestimmte Zonen des Flughafens beziehungsweise an Bord einer Maschine aus Sicherheitsgründen mengenmäßig stark limitiert ist.
22
Auch aus der von der Beklagten zitierten Entscheidung des OLG Köln vom 14.07.2011, Az. 17 U 25/11 ergibt sich nichts anderes. Das OLG hat den Anspruch nicht aus rechtlichen Gründen abgewiesen, sondern, weil es den adäquaten Kausalzusammenhang zwischen der Krankheitsfolge und der Pflichtverletzung nicht als nachgewiesen ansah.
23
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 ZPO. Das Unterliegen der Klagepartei war demnach als so gering anzusehen, dass es gerechtfertigt war, der Beklagtenpartei die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
24
Die wohl überwiegende Literaturmeinung geht davon aus, dass nach Art. 12 VO (EG) NR. 261/2004 der Schuldner das Recht der Anrechnung ausüben kann, ähnlich wie bei der Erklärung einer Aufrechnung. Wenn dies erst im Prozess geschieht, erscheint es sachgerecht im Anwendungsbereich des Art. 92 ZPO, das Unterliegen der Klagepartei insoweit der Beklagtenseite anzulasten, da es auch schon vorgerichtlich die Möglichkeit der Anrechnung gegeben hat.
25
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 719, 709 ZPO. Der Streitwert war nach §§ 3 ff ZPO festzusetzen.