Inhalt

LG Aschaffenburg, Endurteil v. 14.11.2023 – 61 O 63/22
Titel:

Schmerzensgeld für HWS-Trauma und Tinnitus 

Normenkette:
BGB § 253 Abs. 2
Leitsatz:
4.000,00 € Schmerzensgeld für HWS-Schleudertrauma, Innenohrschaden und Tinnitus links. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tinnitus, Schmerzensgeld
Fundstelle:
BeckRS 2023, 49041

Tenor

1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 4.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 08.01.2022 zu bezahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger alle immateriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus dem Verkehrsunfall mit der Versicherungsnehmerin ………., der Beklagten zu 1), vom 05.01.2019 in ……… noch entstehen werden, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder einen Dritten übergegangen ist.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Der Kläger trägt 3/13 der Kosten des Rechtsstreits, die Beklagten als Gesamtschuldner 10/13.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils vollstreckbaren Betrags.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagten abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages, wenn nicht zuvor die Beklagten Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

1
Der Kläger fordert von den Beklagten Schmerzensgeld aus einem Verkehrsunfall.
2
Am 05.01.2019 gegen 19.58 befuhr die Beklagte zu 1) als Fahrerin des Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen …die … Straße in … in Fahrtrichtung zur Einmündung zur Staats straße … Als sie im Begriff war, nach links in Richtung … abzubiegen, übersah sie den auf der vorfahrtsberechtigten Staatsstraße von … kommenden Kläger, der mit seinem Pkw, amtliches Kennzeichen …, die Einmündung in gerader Fahrt überqueren wollte, um die Staatsstraße weiterhin in Richtung Umgehungsstraße zu befahren. Auf Grund der Vorfahrtsverletzung touchierte die Beklagte mit der rechten Fahrzeugfront die rechte Fahrzeugseite des Klägers. Beim Zusammenprall der Pkw lösten die Airbags im Fahrzeug des Klägers aus.
3
Die Beklagten haften für die Unfallfolgen zu 100%.
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Ein im Zusammenhang mit dem Unfall eingeleitetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft …, Az. 108 Js …/19, wurde mit Verfügung vom 15.02.2019 gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.
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Der Kläger vertritt die Ansicht, er habe durch den Verkehrsunfall vom 05.01.2019 ein HWS-Schleudertrauma erlitten und außerdem ein Knalltrauma beidseits mit initial deutlicher und anschließend rückläufiger Hörminderung sowie einem links stärker als rechts ausgeprägten Tinnitus. Es liege eine knalltraumatische Innenohrschädigung vor. Zu dem Knalltrauma sei es durch das Auslösen der Airbags gekommen. Der Kläger leide hierdurch unter einem Dauerschaden. Seit dem Unfall höre er ein beständiges Rauschen, welches ihn im Alltag sehr beeinträchtige.
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Vor dem Unfall habe er keine Probleme mit den Ohren gehabt und auch keine Ohrgeräusche.
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Der Kläger beantragt,
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 5.000 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.01.2022 zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, den Kläger von den außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 492,54 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 08.01.2022 freizustellen.
3. Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger alle immatieriellen Schäden zu ersetzen, die dem Kläger aus dem Verkehrsunfall mit der Beklagten zu 1) am 05.01.2019 in … entstanden sind bzw. noch entstehen werden, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder einen Dritten übergegangen ist.
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Die Beklagten beantragen
Klageabweisung.
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Die Beklagten bestreiten, dass der Kläger durch den streitgegenständlichen Unfall verletzt wurde und hierdurch ein HWS-Schleudertrauma und einen Tinnitus erlitt. Ein HWS- Schleudertrauma könne nicht vorliegen, da der Zusammenstoß der Pkw der Parteien allenfalls eine kollisionbedingte Geschwindigkeitsänderung von max. 8 bis 9 km/h ergeben habe, wobei die Geschwindigkeitsänderung in Längsrichtung vollständig zu vernachlässigen sei. Eine solche Geschwindigkeitsänderung könne nach wissenschaftlichen Versuchsreihen nicht unfallkausal sein. Das behauptete HWS-Schleudertrauma sei daher nicht objektivierbar, nachdem insbesondere weder eine Fraktur noch eine Gefügestörung der Wirbelkörper festgestellt worden seien und auch keine Arbeitsunfähigkeit.
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Auch eine Hörschädigung sei durch den Unfallhergang nicht realisierbar. Der Knall eines Airbags könne höchstens zu einer kurzen oder auch nur vorübergehenden Vertäubung führen.
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Derartiges zeige sich objektiv in Form des Abfalls des Hochtonvermögens und zeige sich unmittelbar nach dem Unfall in sog. Hochtonsenken beidseitig. Beim Kläger hätten sich bei der ersten HNO-ärztlichen Untersuchung im Tonaudiodiagramm eine symmetrische Hörkurve mit einer normalen Hörschwelle gezeigt. Das für den Kläger dokumentierte audiometrische Bild entspreche nicht einem Knalltrauma mit typischer Hochtonsenke auf beiden Ohren. Der Hörschwellenverlauf sei dagegen sehr gut mit der physiologischen Altershörkurve bei Personen um die 60 Jahre vereinbar.
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Das vom Kläger geforderte Schmerzensgeld von 5.000 € sei zu hoch angesetzt.
13
Der Feststellungsantrag sei unzulässig, da Fragen des Schmerzensgeldes grundsätzlich abschließend zu bewerten seien. Es sei nicht ersichtlich, welche Verschlechterungen beim Kläger noch eintreten könnten, die zu einer Erhöhung des Schmerzensgeldes führten.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft …, Az. 108 Js …/19 (Az. PI ……: …). Außerdem hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens eines HNO-Sachverständigen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. … vom 08.09.2023 (Bl. 89 ff d. A.) wird Bezug genommen.
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Mit Zustimmung beider Parteien hat das Gericht durch Beschluss vom 09.10.2023 (Bl. 126 d. A.) eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren gem. § 128 Abs. 2 ZPO angeordnet. Als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht und bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, hat es den 26.10.2023 bestimmt.
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Zur Ergänzung des Tatbestandes wird Bezug genommen auf sämtliche Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, Protokolle und sonstige Aktenteile.

Entscheidungsgründe

A.
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Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
18
Dem Grunde nach stehen dem Kläger Ansprüche gegenüber den Beklagten aus § 7 Abs. 1 und 2, 17 Abs. 1 und 2 StVG, 115 VVG, 249 ff., 823 ff BGB zu. Die 100-prozentige Haftung der Beklagten zu 1) ist zwischen den Parteien unstreitig.
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I. Der Kläger hat durch den Verkehrsunfall vom 05.01.2019 unstreitig ein HWS-Schleudertrauma erlitten. Streitig ist, ob er unfallbedingt auch ein Knalltrauma mit initial deutlicher und anschließend rückläufiger Hörminderung sowie einem links stärker als rechts ausgeprägten Tinnitus, also eine knalltraumatische Innenohrschädigung erlitten hat.
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1. Im Rahmen seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung vom 08.11.2022 (Blatt 55 ff. d. Akten) gab der Kläger an, beim Aufprall der beiden Fahrzeuge hätten beide Airbags sofort ausgelöst. In dem Fahrzeug, in dem er sich befunden habe, sei ein fürchterlicher Knall zu hören gewesen. Er sei dann aus dem Fahrzeug ausgestiegen und habe ab diesem Zeitpunkt nichts mehr hören können. Es sei ab sofort ein unheimlich lautes Rauschen dagewesen, welches angedauert habe. Er habe dies auch gleich dem Notarzt, der an den Unfallort gekommen sei, mitgeteilt. Diesen habe er schon verstanden. Er habe aber ständig dieses unheimlich laute Rauschen gehört. Sowohl der HNO-Arzt Dr. … in … als auch in der Uni Klinik in ... habe man einen Tinnitus festgestellt.
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Vor dem Unfall habe er nie wegen der Ohren irgendwelche Probleme gehabt. Befragt nach seinem heutigen Zustand erklärte der Kläger, dass der Tinnitus nach wie vor fortbestehe. Er höre ununterbrochen ein lautes Rauschen. Es sei vergleichbar mit dem Rauschen, was früher im Fernsehen bei Sendeschluss zu hören gewesen sei.
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2. Aus der beigezogenen Ermittlungsakte ergibt sich, dass der Kläger dem den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten gegenüber schon Ohrensaußen nebst Nacken- und Rückenschmerzen als Unfallfolge angab (Bl. 3, 5, 8 der Beiakte).
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3. Der Sachverständige Professor Dr. …, Arzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, spezielle HalsNasen-Ohren-Chirurgie, plastische Operationen, Allergologie, kommt in seinem HNOärztlichen Gutachten vom 08.09.2023 (Blatt 89 ff. d. Akten) zum Ergebnis, dass der Kläger nachweislich durch den Unfall einen Innenohrschaden und einen Tinnitus links erlitten hat. Der Sachverständige geht davon aus, dass eine geringgradige Hochtonschwerhörigkeit beidseits vorbestehend war, die über dem Beitrag der rechten Seite hinausgehende Innenohrschädigung links im Hochtonbereich sei jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen. Gleichermaßen verhalte es sich mit dem Tinnitus.
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Der Sachverständige, eine wissenschaftliche Kapazität, begründet sein Ergebnis nach Untersuchung des Klägers nachvollziehbar und überzeugend unter Zugrundelegung des aktuellen wissenschaftlichen Standards, den er umfassend darstellt. Das Gericht schließt sich dem überzeugenden Gutachten in vollem Umfang an, zumal das Ergebnis des Sachverständigen auch plausibel mit den sonstigen getroffenen Feststellungen in Einklang bringen lässt.
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II. 1. Der Anspruch auf Schmerzensgeld soll den vom Verletzten erlittenen immateriellen Schaden angemessen ausgleichen. Er tritt als selbständiger Anspruch neben dem Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens und ist nicht etwa ein großer Rechnungsposten innerhalb eines Gesamtanspruchs. Das Schmerzensgeld hat nach der Rechtsprechung des BGH eine doppelte Funktion. Der Verletzte soll einen Ausgleich für erlittene Schmerzen und Leiden erhalten; das Schmerzensgeld soll ihn in die Lage versetzen, sich Erleichterungen und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die die erlittenen Beeinträchtigungen jedenfalls teilweise ausgleichen. Darüber hinaus soll das Schmerzensgeld dem Verletzten Genugtuung für das beschaffen, was ihm der Schädiger insbesondere bei vorsätzlichen Taten angetan hat (Grüneberg § 253 BGB Rn 4 ).
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2. Zu berücksichtigen ist daher, dass der Kläger seit dem Unfallereignis durch das Erscheinen des Tinnitus erheblich beeinträchtigt ist, außerdem durch die seitdem bestehende linksseitige hintere, ausgedehntere Hochtonsenke.
27
Nach Abwägung aller Umstände hält das Gericht aus diesem Grund ein Schmerzensgeld von 4.000,00 EUR für angemessen, aber auch ausreichend. Insoweit ist der Sachverhalt demjenigen vergleichbar, welcher der vom Kläger zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf durch Urteil vom 14.07.2003, Aktenzeichen 1 U 221/02, Beck RS 2004, 11359 zugrunde liegt. Der vom OLG Düsseldorf ausgeurteilte Betrag erscheint vor allem auch deshalb angemessen, da es sich nicht um eine vorsätzliche Schädigung durch die Beklagte zu 1) handelt, der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes also wenig Relevanz zuzusprechen ist.
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3. Zinsen hieraus können ab Rechtshängigkeit verlangt werden, also ab 08.01.2022.
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III. Grundsätzlich ist bei Verletzungen eines absoluten Rechtsguts Feststellungsinteresse zu bejahen, wenn künftige Schadensfolge (wenn auch nur entfernt) möglich, ihrer Art und ihr Umfang, sogar ihr Eintritt aber noch ungewiss sind (Zöller-Greger § 256 ZPO Rn 9 mwN). Zwar ist der Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich ein einheitlicher Anspruch, das heißt er kann nicht willkürlich in mehrere Teilbeträge zerlegt werden (Grüneberg § 253 BGB Rn 23). Eine Begrenzung auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ist jedoch ausnahmsweise zulässig, wenn die Schadensentwicklung noch nicht abgeschlossen und unüberschaubar ist (a.O. Rn 23; BGH NJW 2004, 1243; OLG Nürnberg, NJW-RR 2020, 722). Die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere immaterielle Schäden ist zulässig, wenn die Möglichkeit besteht, das künftig weitere, bisher noch nicht erkannte und nicht voraussehbare Leiden auftreten (Grüneberg § 253 BGB Rn 25; BGH NJW 2015, 1252; NJW-RR 2018, 1426). Auch in der Entscheidung des OLG Düsseldorf vom 14.07.2003, Beck RS 2004, 11359, wurde ausgeführt, dass eine solche Feststellung nur dann zu verneinen sei, wenn aus Sicht des Klägers bei verständiger Würdigung kein Grund bestehe, mit dem Eintritt eines derartigen Schadens wenigstens zu rechnen (BGH NJW 2000, 3069 mit Hinweis auf BGHZ 116, 60, 75).
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Der Kläger hat insofern ausgeführt, dass nicht absehbar sei, dass weitere unvorhersehbare Ereignisse eintreten, die eine medizinische Indikation erforderlich machten (Seite 6 der Klageschrift vom 16.12.2021). In der Tat ist das Gehör des Klägers linksseitig durch den Unfall beeinträchtigt, wie der Sachverständige feststellte. Des Weiteren ist die Hörfähigkeit letztlich durch den andauernden Tinnitus, das ständige Rauschen, beeinträchtigt. Die weitere Entwicklung ist nicht absehbar, da möglicherweise durch den Unfall früher der Einsatz eines medizinischen Hilfsmittels erforderlich sein könnte. Insofern war dem Feststellungsantrag statt zu geben.
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Nicht verlangen kann der Kläger die Feststellung für jetzt schon entstandene immaterielle Schäden, da diese ohne Weiteres jetzt schon zu beziffern sind.
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IV. Die Beklagten waren nicht zu verpflichten, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten freizustellen. Zwar wurde ein anwaltliches Schreiben des Klägervertreters vorgelegt (Anlage K4), in welchem er grundsätzlich Schmerzensgeld für den Kläger geltend macht) konkrete Beträge werde hierin jedoch nicht genannt. Ein Aufforderungsschreiben an die Beklagten zur Zahlung eines konkreten Betrages wurde nicht vorgelegt.
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Im Übrigen war die Klage daher abzuweisen.
B.
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Die Kosten folgen § 92 Abs. 1 ZPO.
35
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 Satz 1 und 2 ZPO für den Kläger und aus §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1 und 2 ZPO für die Beklagten.