Titel:
Verbot für den Radverkehr auf einer öffentlichen Straße
Normenkette:
StVO § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 9 S. 3
Leitsatz:
Besondere örtliche Verhältnisse, die eine Gefahrenlage ergeben, die das allgemeine Risiko der betroffenen Verkehrsteilnehmer zu verunfallen erheblich übersteigt, liegen bei einer Straße vor, die ein Gefälle von 18 % aufweist und in einer scharfen Linkskurve führt, was ein Verbot des Radverkehrs in dieser Fahrtrichtung rechtfertigt. (Rn. 33 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verbot für Radverkehr durch Verkehrszeichen, besondere örtliche Verhältnisse, Steilstrecke, Ermessensausübung, Verkehrszeichen, Radverkehr, Gefahrenlage, Unfallrisiko, Ermessen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 07.05.2024 – 11 B 23.1992
Fundstelle:
BeckRS 2023, 48817
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt von der Beklagten die Aufhebung eines durch Verkehrszeichen angeordneten Radfahrverbots.
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Das streitgegenständliche Radfahrverbot befindet sich in der M. …straße, einer Gemeindestraße in … Sie verläuft als Gemeindeverbindungsstraße vom Gemeindeteil S. … in den Gemeindeteil M. … an der Isar. Sie führt zum Isarkanal und zu einem beliebten Gasthaus. Gemäß der Widmung ist sie im streitgegenständlichen Bereich für den Kraftfahrzeugverkehr, ausgenommen Anlieger, gesperrt. Im streitgegenständlichen Abschnitt, auf Höhe eines Wanderparkplatzes, erreicht die Straße den Wald und führt dann in einer Linkskurve nach unten. An dieser Stelle ist gemeinsam mit Zeichen 274 StVO (Zulässige Höchstgeschwindigkeit) „30 km/h“ und Zeichen 110 StVO (Gefälle) „18%“ das streitgegenständliche Zeichen 254 StVO (Verbot für Radverkehr) angebracht. Etwa 40 Meter vor dem streitgegenständlichen Schild sind die Verkehrsschilder „Verbot für Kraftfahrzeuge“ (Zeichen 260 StVO) mit dem Zusatz „Land- und forstwirtschaftlicher Verkehr frei“ sowie „Anlieger frei“ angebracht.
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Mit Anordnung der Beklagten vom 14. Juli 1993 war die Zufahrt zum M. … ursprünglich mit den damals entsprechenden Verkehrszeichen für den Radverkehr gesperrt worden. Die Anordnung enthält keine Begründung.
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In der Bauausschusssitzung der Beklagten vom 5. Juni 2019 wurde über Vorschläge des ... zur Verbesserung der Verkehrssicherheit in der M. …straße verhandelt. Der ... schlage vor, das Fahrverbot für Radfahrer aufzuheben, Tempobeschränkungen anzuordnen sowie die Strecke in die Verkehrsüberwachung der Gemeinde aufzunehmen. Derzeit, so die Beschlussvorlage, sei die M. …straße auf der gesamten Länge ab dem Parkplatz für den Radverkehr gesperrt. Nach Auskunft der Polizei … sei es in den Jahren 2010, 2011, 2013 und 2018 zu jeweils einem Fahrradunfall ohne Beteiligung eines Pkws gekommen. Die Verwaltung und die Polizei … befürchteten, dass sich durch eine Aufhebung des Verbots für Radfahrer die Unfallzahlen erhöhen würden. Eine Tempobeschränkung für Kraftfahrzeuge auf 30/h bzw. 20 km/h würde die Verkehrssicherheit nochmals erhöhen. Durch eine Tempobeschränkung könne die Polizei neben der Einhaltung des Radfahrverbots auch die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge kontrollieren.
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In der Gemeinderatssitzung vom 26. Juni 2019 wurde der Vorschlag zur Aufhebung des Fahrverbots für Radfahrer abgelehnt. Es wurde beschlossen, dass das Verbot durch eine entsprechende Beschilderung am Anfang der M. …straße angekündigt werden solle. Einer Geschwindigkeitsbeschränkung wurde zugestimmt.
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Mit verkehrsrechtlicher Anordnung vom 11. Juli 2019 wurden entsprechende Geschwindigkeitsbeschränkungen angeordnet. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, die Straße weise einen Streckenabschnitt mit einem Gefälle von 18% auf, habe deutliche Kurven und sei an manchen Stellen unter 4 m breit. Wegen der Ausflugsziele „Gasthaus zur …“ und der … weise die Straße ein hohes Verkehrsaufkommen durch motorisierte Fahrzeuge und Fußgänger auf. Deshalb sei die Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit angebracht.
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Die Stellungnahme der PI … vom 22. Juli 2019 an die Beklagte führt aus, dass sich auf der M. …straße im überprüften Zeitraum 2014 – 2018 ein Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang, ein Verkehrsunfall mit schweren Verletzungen und drei Verkehrsunfälle mit leichten Verletzungen ereignet hätten. Allen Unfällen sei gemeinsam, dass Radfahrer bei starkem Gefälle zu Sturz gekommen seien und sich verletzt hätten. In einem Fall sei es zu einer Kollision mit einem anderen Fahrradfahrer gekommen. In keinem Fall sei ein Kfz beteiligt gewesen.
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Mit Schriftsatz vom … April 2020 erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem sinngemäßen Antrag:
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das durch Zeichen 254 StVO angeordnete Radfahrverbot in der M. …straße aufzuheben.
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Zur Begründung führte er, auch in weiteren Schriftsätzen, aus, dass er erstmalig im Mai 2019 vom Verbot Kenntnis genommen habe. Das Verbot sei unverhältnismäßig und ohne sachgerechte Ermessensentscheidung der Straßenverkehrsbehörde zustande gekommen. Die anordnende Gemeinde habe das auszuübende Ermessens zu verschriftlichen. Die Anordnung vom 14. Juli 1993 enthalte keine Ermessensauübung und sei nicht der aktuellen Sach- und Rechtslage angepasst. Das starke Gefälle sei nur 40 m lang. Wenn überhaupt, dann müsste das Radfahrverbot auf diese Strecke beschränkt werden. Trotz der fast vollständigen Nichtbeachtung des Verbots hätten sich keine Unfälle in dem derzeit gesperrten Abschnitt ereignet. Ein milderes Mittel als ein Fahrverbot sei die Geschwindigkeitsbeschränkung, die auch für den Radverkehr gelte und deren Einhaltung durch Radfahrer auch kontrolliert werden könne. Der Gemeinderat sei für die Anordnung unzuständig gewesen. Die Straßenverkehrsbehörde habe kein eigenes Ermessen ausgeübt, sondern nur den Gemeinderatsbeschluss umgesetzt. Die Benutzung von Alternativtrassen sei unzumutbar, da hier im Herbst und Winter nicht geräumt und gestreut werde. Im gesperrten Abschnitt bestehe durch das Abstandsgebot beim Überholen ein faktisches Überholverbot für mehrspurigen KfZ- Verkehr, an das sich aber der Kraftfahrzeugverkehr nicht halte. Dieser Gefahr des Überholens könne durch Aufhebung des Radfahrverbots abgeholfen werden.
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Mit Schriftsatz vom 28. Mai 2020 beantragte die Beklagte
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und begründete dies in weiteren Schriftsätzen wie folgt: Es fehle substantiierter Vortrag zum Zeitpunkt der Möglichkeit der Kenntnisnahme der Verbotsregelung durch den Kläger Es lägen im streitgegenständlichen Straßenabschnitt besondere örtliche Verhältnisse vor. Der obere Bereich weise ein starkes Gefälle auf, die Strecke sei kurvig und zum Teil wenig übersichtlich, sie sei schmal und für den Begegnungsverkehr an einigen Stellen nicht geeignet. Sie werde von sehr vielen Verkehrsteilnehmern einschließlich Fußgängern genutzt, insbesondere an Wochenenden. Es hätten sich dort bereits viele Radunfälle, alle ohne Kfz-Beteiligung, so auch etwa im Juli 2020, ereignet. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung als milderes Mittel sei nicht geeignet, da die meisten Fahrräder nicht über einen Tachometer verfügten und die zulässige Höchstgeschwindigkeit häufig überschritten werde. Auf Streckenalternativen komme es nicht an. Unfälle mit Personenschäden seien zuletzt geschehen am 25. Oktober 2020, am 14. Februar und am 24. April 2021.
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Am 18. Januar 2023 haben der Augenschein und die mündliche Verhandlung stattgefunden. Den gerichtlichen Vorschlag, das streitgegenständliche Verbot auf die Sommermonate zu beschränken, lehnt die Beklagte im Nachhinein ab.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachund Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
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1. Die gegen die Anordnung des Verbots für den Radverkehr durch Verkehrszeichen 254 StVO gerichtete Anfechtungsklage ist zulässig.
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Verkehrsrechtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen sind nach ständiger höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. etwa Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), U.v. 13.12.1979 – 7 C 46/78 –, BVerwGE 59 S. 221; 27.1.1993 – 11 C 35/92 –, BVerwGE 92 S. 32; 21.8.2003 – 3 C 15/03 –, NJW 2004 S. 698, 18.11.2010 – 3C 42/09 –, juris Rz. 14) regelmäßig Dauerverwaltungsakte in Form einer Allgemeinverfügung im Sinne des Art. 35 Satz 2 des Bayer. Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), wenn sie – wie vorliegend das Verkehrszeichen 254 StVO (Verbot für den Radverkehr) – Gebote oder Verbote nach § 41 der Straßenverkehrsordnung (StVO) aussprechen. Das Verkehrszeichen 254 StVO untersagt den Radverkehr und verbietet damit den Radfahrern, den betroffenen Straßenabschnitt zu befahren.
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Der Kläger ist als radfahrender Verkehrsteilnehmer auch klagebefugt i.S. von § 42 Abs. 2 VwGO, da er durch das Befahren der M. …straße zum Adressaten des VZ 254 stVO und damit eines ihn belastenden Verwaltungsakts geworden ist. Als Verkehrsteilnehmer kann er dabei als eine Verletzung seiner Rechte geltend machen, die rechtsatzmäßigen Voraussetzungen für eine auch ihn treffende Verkehrsbeschränkung nach § 45 StVO seien nicht gegeben. Was die behördliche Ermessensausübung betrifft, kann er allerdings nur überprüfen lassen, ob seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden bzw. wurden.
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Die Anfechtungsklage ist auch nicht wegen Ablaufs der Klagefrist unzulässig. Diese beträgt bei Verkehrszeichen mangels einer Rechtsmittelbelehrunggemäß § 58 Abs. 2 VwGO ein Jahr und beginnt für einen Verkehrsteilnehmer mit dem Zeitpunkt, in dem er zum ersten Mal auf das Verkehrszeichen trifft (vgl. so klarstellend: BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 37/09 –, juris Rz. 15ff). Dieser Zeitpunkt war nach dem Vorbringen des Klägers, das er in der mündlichen Verhandlung konkretisiert hat, im Mai 2019; dem Gericht ist es insofern nicht möglich, diesen Vortrag weiter zu verifizieren.
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2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die verkehrsrechtliche Anordnung der Beklagten betreffend das Verbot für den Radverkehr durch VZ 254 an der M. …straße vor der Abfahrt ins Isartal ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.
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2.1. Die Beklagte hat im Jahr 2019 eine erneute, die ursprüngliche Anordnung vom 14. Juli 1993 bestätigende Anordnung im Wege eines Zweitbescheids getroffen. In der Bauausschusssitzung der Beklagten vom 5. Juni 2019 wurde über Vorschläge des ... zur Verbesserung der Verkehrssicherheit in der M. …straße beraten. Dabei wurde neben Tempobeschränkungen auch erwogen, das streitgegenständliche Fahrverbot für Radfahrer aufzuheben. In der Gemeinderatssitzung vom 26. Juni 2019 wurde der Vorschlag zur Aufhebung des Fahrverbots für Radfahrer abgelehnt, der Vorschlag zu einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem streitgegenständlichen Streckenabschnitt aber angenommen. Dies hält die entsprechende Niederschrift vom 3. Juli 2019 als Ergebnis fest.
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Daraus folgt, dass eine Beratung auf der Grundlage der Vorschläge des ... und der Verwaltung stattgefunden hat, die auch die wesentlichen Überlegungen zur Beibehaltung des Radfahrverbots erkennen lässt. Denn es wird ausgeführt, dass derzeit die M. …straße auf der gesamten Länge ab dem Parkplatz für den Radverkehr gesperrt sei und es nach Auskunft der Polizei … zu Fahrradunfällen ohne Beteiligung eines Pkws gekommen sei. Die Gemeindeverwaltung und die Polizei … befürchteten, dass sich durch eine Aufhebung des Verbots für Radfahrer die Unfallzahlen erhöhen würden. Eine Tempobeschränkung für Kraftfahrzeuge auf 30/h bzw. 20 km/h würde die Verkehrssicherheit nochmals erhöhen. Durch eine Tempobeschränkung könne die Polizei neben der Einhaltung des Radfahrverbots auch die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge kontrollieren.
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Ferner ergibt sich aus den Verwaltungsakten, inwieweit die Ergebnisse der gemeindlichen Beratungen über die Verkehrssituation auf der streitgegenständlichen Strecke anschließend umgesetzt worden sind insofern, als – anders als hinsichtlich des streitgegenständlichen Verkehrszeichens – eine Änderung der geltenden Verkehrsregelungen beschlossen worden war. Hieraus ist ersichtlich, dass die Beklagte nicht nur eine Geschwindigkeitsbeschränkung geprüft und angeordnet hat, sondern auch das streitgegenständliche Radfahrverbot inhaltlich überprüft und aufrechterhalten hat, ohne sich lediglich auf seine Bestandskraft zu berufen. Damit aber ist der in anderer Weise und ohne Begründung mögliche Erlass einer erneuten verkehrsrechtlichen Allgemeinverfügung (Art. 37 Abs. 2, Art. 39 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG; vgl. auch Stelkens, a.a.O. § 37 Rn. 79; § 35 Rn. 330 ff.) hinreichend in den Akten dokumentiert (so auch BayVGH, B.v. 28.5.2020 – 11 ZB 18.1139 –, juris Rn 33).
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Maßgebend für die rechtliche Beurteilung dieser Anordnung sind nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die rechtlichen und Tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, da es sich bei der streitgegenständlichen Anordnung um einen verkehrsregelnden Dauerverwaltungsakt handelt (vgl. BVerwG, U.v. 27.1.1993 – 2 C 35/92 –, a.a.O. und vom 18. 11.2010 – 3 C 42/09 –, a.a.O.).
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2.2. Es ist nicht ersichtlich, dass die verkehrsrechtliche Anordnung, die keiner bestimmten Form genügen muss und als Allgemeinverfügung gemäß Art. 39 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG keiner Begründung bedarf (BayVGH, B.v. 22.4.2013 – 11 B 12.2671 – juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 28.5.2020 – 11 ZB 18.1139 –, juris), an einem formellen Fehler leidet. Die sachliche Zuständigkeit der Gemeinde ergibt sich aus Art. 2 Satz 1 und Art. 3 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über Zuständigkeiten im Verkehrswesen (ZustGVerk), die Organzuständigkeit des Gemeinderats daraus, dass die verkehrsrechtliche Anordnung keine laufende Angelegenheit der Gemeinde i.S.d. Art. 37 Abs. 1 Satz 1 der Gemeindeordnung, daher nicht der Bürgermeister, sondern der Gemeinderat zuständig ist (BayVGH, U.v. 21.2.2011 – 11 B 09.3032).
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2.3. Rechtsgrundlage für die Anordnung des streitgegenständlichen Verbots für den Radverkehr ist § 45 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 9 Satz 3 StVO.
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Nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. Die Vorschrift setzt eine Gefahrenlage für die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs voraus, nach der irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle eintreten können. Eines Nachweises, dass jederzeit mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist, bedarf es dafür nicht. Ob eine derartige Gefahrensituation besteht, beurteilt sich danach, ob die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder Strecke einer Straße die Befürchtung nahelegt, dass – möglicherweise durch Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände – die zu bekämpfende Gefahrenlage eintritt.
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Darüber hinaus ist § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO zu berücksichtigen, wonach insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Diese Vorschrift ist vorliegend anwendbar, da es sich bei dem streitgegenständlichen Verbot um eine Beschränkung des fließenden Verkehrs handelt, da mit dem VZ 254 der Radverkehr ausgeschlossen wird. Die Vorschrift des § 49 Abs. 9 Satz 3 StVO ersetzt nicht den § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO, sondern modifiziert und konkretisiert dessen Eingriffsvoraussetzungen. Sie betrifft insbesondere nicht die nach § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO weiterhin erforderliche Ermessensausübung, sondern stellt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erhöhte Anforderungen an dessen Tatbestandsvoraussetzungen (vgl. etwa BVerwG, U.v. 5. 4. 2001 – 3 C 23/00 –, NJW 2001, 3139; v. 23.9.2010 – 3 C 37/09 –, juris).
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Voraussetzung für die hier zu beurteilende Anordnung des Verbots für den Radverkehr ist mithin eine Gefahrenlage, die – erstens – auf besondere örtliche Verhältnisse zurückzuführen ist und – zweitens – das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der hier nur in Betracht kommenden Rechtsgüter des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO (Sicherheit und Ordnung des Verkehrs) erheblich übersteigt. Unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit des Verkehrs fallen sowohl Leben und Gesundheit der Verkehrsteilnehmer sowie der Schutz des öffentlichen und privaten Eigentums. Zum Schutzgut der Ordnung des Verkehrs gehört u.a. dessen Leichtigkeit und Flüssigkeit.
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2.3.1. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Rechtsgrundlage – § 45 Abs. 1 Satz 1 i. V.m. Abs. 9 Satz 3 StVO – sind vorliegend nach dem Ergebnis des Ortstermins gegeben. Besondere örtliche Verhältnisse i.S.v. § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO können nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere in der Streckenführung, dem Ausbauzustand der Strecke, witterungsbedingten Einflüssen (etwa Nebel, Schnee-/Eisglätte), der Verkehrsbelastung und den daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein (vgl. BVerwG, U.v. 5.4.2001 – 3 C 23/00; v. 23.9.2010 – 3 C 37/09 – sowie B.v. 4.7.2007 – 3 B 79/06 –, jeweils juris).
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Die Anordnung des Verkehrszeichens 254 dient der Abwendung von Gefahren für die Verkehrsteilnehmer und zwar zum einen für die Radfahrer selbst, d.h. das Verbot dient dem Schutz der Radfahrer vor Gefährdungen durch andere Verkehrsteilnehmer, und andererseits auch von Gefahren, die von den Radfahrern für Dritte ausgehen.
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Der gerichtliche Augenschein hat besondere örtliche Verhältnisse gezeigt, die eine Gefahrenlage ergeben, die das allgemeine Risiko der betroffenen Verkehrsteilnehmer, zu verunfallen, erheblich übersteigt:
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Am Beginn des Radfahrverbots führt die Straße in einer scharfen Linkskurve nach Süden. Die Straße ist hier auf einer Länge von etwa 50 m einsehbar. Sie wird durch Baumbewuchs beschattet. In diesem Bereich weist die Straße das größte Gefälle auf, nämlich 18%. Links und rechts der Straße verläuft nur ein schmales Bankett, mit einer übermannshohen Böschung linksseitig, rechtsseitig fällt die Böschung hinter einer Leitplanke steil ab. Im weiteren Verlauf wird das Gefälle schwächer, etwa 12%, und die Straße nimmt einen geraden Verlauf. Das Parkett wird breiter. Die Fahrbahnbreite beträgt an dieser Stelle etwa 3 m zzgl. 70 cm Bankett (vgl. Niederschrift des Augenscheintermins, S. 2).
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Damit liegt die Gefahrträchtigkeit der streitgegenständlichen Strecke auf der Hand. Es besteht die konkrete Gefahr, dass Radfahrer aufgrund des starken Gefälles zu Beginn der Strecke ein hohes Tempo aufnehmen und die Strecke in hohem Tempo abfahren, wobei für die gerade zur Sommerzeit sehr zahlreichen anderen Verkehrsteilnehmer, namentlich Fußgänger, keine Ausweichmöglichkeit über den Rand der Fahrbahn hinaus besteht.
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An sich bestünde zwar im weiteren Verlauf die Möglichkeit, das Radfahrverbot aufzuheben, da sich Gefällegrad und Einsehbarkeit der Straße im weiteren Verlauf verbessern. Dies erscheint jedoch angesichts der örtlich bedingt fehlenden Möglichkeit, wieder aufzusteigen, ausgeschlossen, sodass es nachvollziehbar und sachgerecht ist, das Radfahrverbot erst an der Einbiegung des Isartalradwegs aufzuheben, wo – erstmals – ausreichend Platz zur Verfügung steht.
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Dass auf dem streitgegenständlichen Straßenabschnitt neben den topographischen Besonderheiten auch ein erhöhtes Unfallrisiko für Radfahrer besteht, zeigen die von der Beklagten und der Polizeiinspektion … berichteten teils schweren Unfälle der letzten Jahre, denen gemeinsam ist, dass Unfallursache jeweils die überhöhte Geschwindigkeit von Radfahrern war, die beim Abfahren mit Fußgängern bzw. anderen Radfahrern kollidierten (vgl. Stellungnahme der PI … vom 22. Juli9 2019). Auch wenn sich diese Unfälle nicht nur auf dem mit dem Radfahrverbot belegten Streckenabschnitt ereigneten, sondern zum Teil auch im unteren Bereich der Strecke, die sich an das Radfahrerverbot anschließt und auf der selbst kein Radfahrerverbot mehr gilt, so ist doch nachvollziehbar, dass diese Unfälle auch auf die hohe Geschwindigkeit der Radfahrer zurückzuführen ist, die sie im Bereich der Strecke, auf der das streitgegenständliche Radfahrverbot gilt, gewonnen haben.
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Das Radfahrverbot ist auch geeignet und erforderlich, die Sicherheit für Fußgänger und Radfahrer auf der streitgegenständlichen Strecke zu erhöhen. Die in dem streitgegenständlichen Abschnitt im Jahr 2019 angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung auf 20 (bzw. später auf 30) km/h, die der Kläger als milderes Mittel ansieht, ist zwar ein milderes, aber kein gleich effektives Mittel zur Gefahrenbekämpfung. Es liegt auf der Hand, dass Radfahrer, die ihr Rad schieben, keiner relevanten Gefahr ausgesetzt sind, mit bergauf oder bergab gehenden oder fahrenden Verkehrsteilnehmern zusammenzustoßen, während bei einer bloßen Tempobeschränkung bergab diese Gefahr zwar wohl reduziert wird, aber weiterhin (durch Nachlässigkeit bzw. fahrradbedingt) besteht. Ihr Fahrzeug bergab schiebende Radfahrer sind entgegen der Ansicht des Klägers auch kein – wiederum selbst gefahrträchtiges – besonderes Verkehrshindernis, das eine Vorbeifahrt von Kraftwagen auf der gesamten Verbotsstrecke nicht erlauben würde. Auch die von der Beklagten mitgeteilten jüngsten Unfälle in den Jahren 2020 und 2021 zeigen, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung alleine offenbar nicht geeignet ist, schwere Fahrradunfälle mit Personenschäden auf der Strecke zu vermeiden. Auch wenn diese daran liegen sollten, dass sich eine relevante Anzahl an Fahrradfahrern weder an das Radfahrverbot noch an die Geschwindigkeitsbeschränkung hält, ist doch die Anordnung eines Radfahrverbots effektiver als eine bloße Geschwindigkeitsbeschränkung, solche Unfälle und damit Gefahrenlagen in Zukunft vermeiden zu helfen, auch unter dem Aspekt einer effektiven Kontrolle. Eine Aufhebung des Radfahrverbots hätte zwar zur Folge, dass sich die Radfahrer dann an die Geschwindigkeitsbeschränkung zu halten hätten. Der Einwand des Beklagten ist aber zutreffend, dass die Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung durch Radfahrer nicht effektiv kontrolliert werden könnte, da eine Feststellung von Geschwindigkeitsverstößen von Radfahrern durch Geschwindigkeitsmessungen von Radargeräten zwar technisch möglich sein dürfte, eine Verfolgung der Übertretung aber ausscheidet, da eine Identifizierung mangels amtlichen Kennzeichens nicht möglich ist. Eine ständige Überwachung der Einhaltung der Geschwindigkeitsbeschränkung durch Polizeikräfte vor Ort scheidet schon aus Gründen der nicht vorhandenen personellen Ressourcen aus.
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Das Radfahrverbot verstößt auch nicht gegen das Übermaßverbot. Angesichts der Geeignetheit und Notwendigkeit des Radfahrverbots zur Verhinderung sonst häufiger schwerer Unfälle mit Personenschäden ist das – verständliche – Interesse des Klägers wie jedes anderen Radfahrers, die streitgegenständliche Strecke fahrend zu benutzen, nachrangig. Dem Kläger bleibt es unbenommen, die Strecke schiebend zu nutzen und sein Ziel zu erreichen, dies unter vernachlässigbarem zusätzlichen Zeitaufwand, wie auch die Strecke auf der Rückfahrt bergauf fahrend zu benutzen. Auch die Streckenlänge des angeordneten Radfahrverbots ist angemessen. Der Einwand des Klägers, das Radfahrverbot müsse zumindest auf die Strecke beschränkt werden, auf der das stärkste Gefälle von 18% herrsche, ist zwar an sich zutreffend, überzeugt aber vorliegend nicht. Denn wie der Augenschein ergeben hat und oben bereits dargelegt wurde, besteht einerseits im weiteren Verlauf der Strecke bis zur Einmündung des IsartalRadweges kein geeigneter, insbesondere kein baulich abgesicherter Ort, um wieder aufzusteigen. Andererseits besteht angesichts der Unfallhäufung gerade auch nach Ende des steilsten Abschnitts die Notwendigkeit, auch auf der weiteren Strecke nach unten, die noch ein gewisses Gefälle besitzt (der Augenschein hat ein Gefälle von 1012% in der Folge ergeben, wobei das Gefälle dann aber weiter abnimmt, vgl. Niederschrift S. 3), den Radfahrenden die fortbestehende gefällebedingte und gefahrenträchtige Geschwindigkeit zu nehmen.
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2.3.2 Die Beklagte hat auch ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Aus § 45 Abs. 9 Satz 3 i.V.m. § 45 Abs. 1 StVO folgt, dass grundsätzlich auch Maßnahmen im Regelungsbereich des § 45 Abs. 9 StVO im Ermessen der zuständigen Behörden stehen (BVerwG, U.v. 23.9.2010 – 3 C 37.09 – BVerwGE 138, 21 Rn. 35). Soweit es um die Auswahl der Mittel geht, mit denen die konkrete Gefahr bekämpft oder gemildert werden soll, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 35; U.v. 5.4.2001 – 3 C 23.00 – NJW 2001, 3139 = juris Rn. 22).
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Bei der Überprüfung, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, ist zum einen aber zu berücksichtigen, dass aufgrund der hohen Anforderungen an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 und 3 StVO das Ermessen stark eingeschränkt ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.9.2011 – 11 B 11.910 – juris Rn. 39). Bei – vorliegend gegebener – Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, zumal bei einer konkreten Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben, ist in der Regel ein Tätigwerden der Behörde geboten und somit ihr Entschließungsermessen reduziert (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.2010 a.a.O. Rn. 35). Die Auswahl der Mittel ist indes nicht in bestimmter Weise durch den Verordnungsgeber vorgezeichnet; sie steht im Ermessen der Behörde. Zum anderen kann der Kläger nur rügen, die Beklagte habe ihn selbst betreffende qualifizierte Interessen nicht berücksichtigt, also solche, die über das Interesse jedes Verkehrsteilnehmers hinausgehen, in seiner Freiheit möglichst wenig beschränkt zu werden (vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 47).
42
Dass die Beklagte ihr Ermessen überhaupt nicht ausgeübt habe, also ein Ermessensausfall vorliege, wie der Kläger meint, trifft zweifelsohne nicht zu. Freilich enthält die ursprüngliche Anordnung vom 14. Juli 1993 keine verschriftlichten Ermessenserwägungen. Solche sind nach Darstellungen der Beklagten nicht mehr auffindbar. Eine aktuelle schriftliche Ermessensausübung in Form einer Begründung zur verkehrsrechtlichen Anordnung des Radfahrverbots kann es ebenfalls nicht geben, da, wie ausgeführt, eine die ursprüngliche Anordnung bestätigende nach außen tretende verkehrsrechtliche Verfügung durch die Beklagte gerade nicht vorhanden ist, da die Beklagte das bestehende Radfahrverbot bestätigen wollte und es damit einer neuen positiven Anordnung nicht bedurfte. Demzufolge muss es als ausreichend angesehen werden, dass im Zusammenhang mit der Befassung der gemeindlichen Gremien der Beklagten eine Ermessensbetätigung aktenkundig ist. Ausweislich der Niederschrift über die Bauausschusssitzung der Beklagten vom 5. Juni 2019 wurde der Vorschlag des ADFC, das Fahrverbot für Radfahrer aufzuheben, angesichts der Gefahrträchtigkeit der Strecke nach entsprechender Erörterung abgelehnt. Stattdessen wurde es für sachgerecht angesehen, eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 20 km/h zusätzlich auf der streitgegenständlichen Strecke anzuordnen (welche später auf 30 km/h erhöht wurde). Dies, so die Verwaltung der Beklagten, würde die Verkehrssicherheit nochmals erhöhen. Durch eine Tempobeschränkung könne die Polizei neben der Einhaltung des Radfahrverbots auch die Geschwindigkeit der Kraftfahrzeuge kontrollieren. Hieraus ist erkennbar, dass die Beklagte sich bewusst war, angesichts der angenommenen Gefahrträchtigkeit der Strecke verschiedene Handlungsmöglichkeiten zu haben. Ein Ermessensausfall lag damit gerade nicht vor.
43
Im vorliegenden Fall war es außerdem zulässig, das Ermessen nach § 114 Satz 2 VwGO auch noch während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu ergänzen, da ursprünglich Ermessenserwägungen angestellt worden sind (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 23. Auflage 2017, § 114 Rn. 50). Die Beklagte hat insoweit ausgeführt, dass sie sich mehrfach mit Alternativen befasst habe, zum Beispiel der Tempo-20-Anordnung und die Frage einer Aufhebung des Radfahrverbots diskutiert habe und dass weitere Beschränkungen des Kfz-Verkehrs nicht in Betracht gekommen seien. Damit hat sie zu erkennen gegeben, dass sie ihr Auswahlermessen erkannt hat und nunmehr konkretisiert. Alternativrouten und ihre Zumutbarkeit waren nicht im Rahmen der Ermessensausübung von der Beklagten zu prüfen, da solches nur im Ausnahmefall entscheidungserheblich werden dürfte, etwa wenn schlechterdings keine oder unzumutbare alternative Routen bestünden. Dass ein solcher Ausnahmefall hier gegeben sein könnte, hat der Kläger aber weder ausreichend substantiiert noch drängt sich dies dem Gericht auf, erst recht mit Blick darauf, dass der Kläger wie jeder andere Radfahrer die von ihm präferierte Strecke zu Fuß und sein Fahrrad schiebend zurücklegen und damit eine die M. …straße beinhaltende Radtour realisieren kann.
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Die Ermessenausübung ist auch unter Berücksichtigung der Ergänzung nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 114 Satz 1 VwGO). Da das Gericht eine straßenverkehrsrechtliche Anordnung nur einheitlich überprüfen kann, gilt dies selbst dann, wenn es das Gericht in der mündlichen Verhandlung als vertretbar und geeignet angesehen hatte, das Verbot auf die Sommermonate zu beschränken, die Beklagte dem aber nicht gefolgt war, zumal das von dort verfolgte Schutzgut von Leib und Leben von Radfahrern und Fußgängern höher zu bewerten ist als die allgemeine Handlungsfreiheit der Radfahrer.
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Die Klage war daher unter der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO und mit dem Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO abzuweisen.