Inhalt

AG Regensburg, Beschluss v. 24.01.2023 – XVII 596/22
Titel:

Sachverständigengutachten, Elektronisches Dokument, Verfahrensbevollmächtigter, Elektronischer Rechtsverkehr, Selbstbestimmungsrecht, Betreuungsbehörde, Aufgabe zur Post, Weiteres Gutachten, Objektiver Betreuungsbedarf, Bekanntgabe, Beschwerdefrist, Gesundheitsfürsorge, Beschwerdeführer, Beschwerdeschrift, Beschwerde gegen, Beschwerdeeinlegung, Qualifizierte elektronische Signatur, Betroffenheit, Betreuungsbedürftigkeit, Niederschrift

Schlagworte:
Betreuungsbedarf, Krankheit oder Behinderung, Sachverständigengutachten, Subsidiarität der Betreuung, Anforderungen an das Gutachten, Beratungspflicht der Sozialbehörden, Geschäftsfähigkeit
Rechtsmittelinstanz:
LG Regensburg, Beschluss vom 12.12.2023 – 52 T 96/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 47361

Tenor

Das Verfahren wegen Anordnung einer Betreuung wird eingestellt.
Eine Betreuung wird nicht angeordnet.

Gründe

1
Die Ermittlungen haben ergeben, dass die Anordnung einer Betreuung gemäß §§ 1814 ff. BGB nicht erforderlich ist.
2
Dies ergibt sich insbesondere aus
dem Gutachten d. Sachverständigen ... vom 26.07.2022 und der ergänzenden Stellungnahme vom 29.12.2022,
den Stellungnahmen des Verfahrensbevollmächtigten vom 19.12.2022 und vom 18.01.2023,
den Berichten der Betreuungsbehörde Stadt Regensburg vom 04.05.2022 und vom 07.09.2022 und
der Anhörung der Betroffenen durch das Gericht am 19.01.2022 im Beisein des Verfahrensbevollmächtigten und der gewünschten Betreuerin.
3
Kann ein Volljähriger der seine Angelegenheiten ganz oder teilweise rechtlich (vgl. auch §§ 1815 Abs. 1 S. 2, 1816 Abs. 1, 1821 Abs. 1 BGB) nicht besorgen und beruht dies auf einer Krankheit oder Behinderung, so bestellt das Betreuungsgericht für ihn einen rechtlichen Betreuer.
4
In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob der Betroffene seine eigenen rechtlichen Angelegenheiten selbst ganz oder teilweise rechtlich nicht besorgen kann. Es muss ein tatsächlicher, an der konkreten Lebenssituation zu messender objektiver Betreuungsbedarf feststellbar sein (vgl. auch BGH, Beschluss vom 20.05.2015 – XII ZB 96/15).
5
Der objektivierbare Handlungsbedarf muss sodann kausal auf einer Krankheit oder Behinderung beruhen.
6
Wegen des mit einer Betreuungsanordnung einhergehenden erheblichen Grundrechtseingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) des Volljährigen ist eine grundrechtskonforme teleologische Reduktion der medizinischen Eingangsmerkmale geboten. Daher muss die Krankheit oder Behinderung dazu führen, dass der Betroffene in der Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts erheblich beeinträchtigt und dadurch zu eigenverantwortlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage ist (subjektive Betreuungsbedürftigkeit). Diese Auslegung wird auch durch den Willen des Gesetzgebers gestützt, wonach es sich bei dem Wegfall der Adjektive psychische [Krankheit] und körperlich, geistige oder seelische [Behinderung] nur um Neuformulierungen „zur Vermeidung von Diskriminierungen“ handelt und das Ziel der Neufassung nicht eine Veränderung des Personenkreises ist, für den eine Betreuung in Betracht kommt, sondern „eine sprachliche Neufassung, die bestimmte Gruppen von Menschen potentiell stigmatisierende Begriffe durch zeitgemäße Begriffe ersetzt wurde“ (BT-Drs. 19/24445, 134).
7
Das Vorliegen der subjektiven Betreuungsbedürftigkeit ist dabei auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens (§ 280 FamFG) durch das Gericht zu beurteilen.
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Die Betreuung darf auch dann jedoch nur angeordnet werden, wenn sie erforderlich ist und nur, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen nicht durch einen Bevollmächtigten gleichermaßen besorgt oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, erledigt werden können, insbesondere durch solche Unterstützung, die auf sozialen Rechten oder anderen Vorschriften beruht, § 1814 Abs. 2 BGB (Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung).
9
Ein objektiver Betreuungsbedarf in Fragen der Gesundheitsfürsorge liegt bereits nach dem Ergebnis der richterlichen Anhörung nicht vor. Die Betroffene versteht Ärzte und kann Entscheidungen über das Ob und Wie einer ärztlichen Behandlung selbst treffen. Die Notwendigkeit einer rechtlichen Vertretung erschließt sich insoweit nicht.
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Soweit bei der Betroffenen ein im Übrigen objektivierbarer Betreuungsbedarf vorliegen sollte, beruht dieser jedenfalls nicht auf einer Krankheit oder Behinderung bzw. kann durch andere Hilfen bewältigt werden.
11
Nach den gutachterlichen Feststellungen liegt bei der Betroffenen allenfalls eine Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten (Diagnose nach ICD10-Nr. F43.25), differenzialdiagnostisch eine Neurasthenie (Diagnose nach IDC10-Nr. F 48.0), mithin eine neurotische Störung, vor dem Hintergrund einer geltungsbedürftigen Persönlichkeitsstruktur, vor.
12
Das Gericht schließt sich den nachvollziehbaren und schlüssigen Feststellungen im Gutachten, nach eigener kritischer Prüfung und Würdigung, auch nach dem Ergebnis der persönlichen Anhörung, an.
13
Das Gutachten erstreckt sich auf das Krankheits- bzw. Behinderungsbild einschließlich der Entwicklung, die durchgeführten Untersuchungen und die diesen zugrunde gelegten Forschungserkenntnisse, den körperlichen und psychischen Zustand der Betroffenen, den aus medizinischer Sicht aufgrund der Krankheit oder Behinderung erforderlichen Unterstützungsbedarf.
14
Das Gericht hat das Gutachten auf seine wissenschaftliche Begründung, seine innere Logik und seine Schlüssigkeit hin überprüft und keine Zweifel an der Richtigkeit.
15
Ohne Belang ist insoweit, ob die Betroffene von ihrer Psychiaterin krankgeschrieben wurde, weil aus einer Arbeitsunfähigkeit der Betroffenen, für ihre Tätigkeit als Kassiererin, keine Rückschlüsse auf die Unfähigkeit zur eigenen Erledigung ihrer rechtlichen Angelegenheiten zu ziehen sind.
16
Gegenteiliges folgt weder aus dem vorliegenden Attest der behandelnden Psychiaterin Dr. ... vom 14.03.2022 noch aus dem Arztbericht der Psychiaterin Dr. med. ... vom 20.10.2022.
17
In beiden Fällen handelt es sich nur um ärztliche Zeugnisse, die anstelle eines umfassenden Sachverständigengutachtens gemäß § 281 Abs. 1 FamFG nur dann für eine Betreuungsanordnung genügen, wenn die Einholung des Gutachtens insbesondere im Hinblick auf den Umfang der Aufgabenkreise des Betreuers unverhältnismäßig wäre. Da vorliegend die Aufgabenkreise Gesundheitsfürsorge, „Vermögensverwaltung“, Anhalten, Entgegennahme und Öffnen der Post, „umfassend“ und „Vertretung gegenüber Behörde und Versicherungsträger“, insbesondere auch für die Dauer von 5 Jahren und damit eine faktische Totalbetreuung angeregt war bzw. waren, scheidet eine Betreuungsanordnung auf dieser Grundlage von vornherein aus.
18
Durch die Erstellung eines umfassenden Fachgutachtens soll sichergestellt werden, dass diese erheblich in die Rechte des Betroffenen eingreifenden Maßnahmen nur auf einer sorgfältigen Ermittlung der für ihre Anordnung erforderlichen medizinischen Voraussetzungen getroffen werden. weshalb zur Wahrung der Qualität betreuungsrechtlicher Sachverständigengutachten in § 280 Abs. 1 S. 2 FamFG zusätzlich die Anforderungen an die Qualifikation des Gutachters und in § 280 Abs. 3 FamFG an Inhalt und Umfang des Gutachtens gestellt werden. Das Gutachten und die ergänzenden gutachterlichen Stellungnahmen setzen sich mit den vorgelegten Arztberichten und Schilderungen fachlich fundiert, sachlich und für das Gericht nachvollziehbar auseinander.
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Im Rahmen der richterlichen Anhörung haben sich keine wesentlichen bzw. relevanten, abweichenden Anhaltspunkte im Hinblick auf die – hier nicht vorliegende – Erheblichkeit der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts oder Kausalität ergeben. Eine rechtlich erhebliche Verständigung war mit der Betroffenen uneingeschränkt möglich. Die im Rahmen der gutachterlichen Exploration erhobenen Umstände können durch das Gericht nach dem Ergebnis der richterlichen Anhörung bestätigt werden. Die Betroffene ist in der Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts nicht erheblich beeinträchtigt und zu eigenverantwortlichen Entscheidungen in der Lage.
20
Zudem wäre die Betreuung, insbesondere auch für den Bereich Vertretung gegenüber Behörden, Versicherung und Sozialleistungsträgern, vorliegend ebenfalls aufgrund anderer Hilfen i.S.d. § 1814 Abs. 3 S. 2 BGB subsidiär. Die Betroffene machte primär Probleme im Rahmen der Antragstellung bei Behörden, wie z.B. der Wohngeldstelle und dem Jobcenter, geltend. Insoweit stehen mit der nunmehr ausdrücklich gesetzlich verankerten Beratungspflicht der Sozialbehörden im Rahmen sozialer Rechte (§§ 2 Abs. 1, 17 Abs. 4 S. 2 SGB I, § 106 Abs. 3 Nr. 1, 2 SGB IX) hinreichend andere Hilfen zur Verfügung, die von der Betroffenen auch in Anspruch genommen werden können.
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Unter Berücksichtigung der erhobenen gerichtlichen Beweisergebnisse ist die Erholung eines weiteren Gutachtens nicht erforderlich und auch nicht angezeigt.
22
Das Gutachten weist keine Defizite auf. Es ist vollständig, frei von Widersprüchen und überzeugend.
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Der Sachverständige ... ist ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und besitzt damit die erforderliche Qualifikation i.S.d. § 280 Abs. 1 S. 2 FamFG.
24
Er hat die Betroffene vorschriftsgemäß persönlich untersucht und befragt (§ 280 Abs. 2 S. 1 FamFG) und den Inhalt der ihm vorliegenden vollständige Gerichtsakte bei Erstellung des Gutachtens berücksichtigt und gewürdigt, insbesondere auch das Krankheitsbild der Betroffenen einschließlich der Entwicklung, der durchgeführten Untersuchung unter Berücksichtigung der Forschungserkenntnisse, den körperlichen und psychiatrischen Zustand der Betroffenen, § 280 Abs. 3 FamFG.
25
Gemäß § 280 Abs. 2 S. 2 FamFG hatte der Sachverständige insbesondere auch den Bericht der Betreuungsbehörde i.S.d. § 279 Abs. 2 S. 2 FamFG im Rahmen der Begutachtung zu berücksichtigen.
26
Zudem hat das Gericht dem Sachverständigen die Akte zur Begutachtung zugeleitet und damit konkludent die für die Begutachtung notwendigen Anknüpfungstatsachen mitgeteilt. Diese hat der Sachverständige im Gutachten offengelegt und im Rahmen der Exploration, soweit möglich, verifiziert. Der Verfahrensbevollmächtigte erhielt den Bericht der Betreuungsbehörde vom 04.05.2022 noch vor der Begutachtung mit der Gelegenheit zur Stellungnahme, von der er keinen Gebrauch machte. Insoweit ergaben sich keine Anhaltspunkte für falsche Darstellungen der Betreuungsbehörde in ihrem Bericht. Solche ergaben sich im Übrigen auch nicht im Rahmen der richterlichen Anhörung.
27
Eine Zweitbegutachtungsnotwendigkeit folgt auch nicht aus den älteren ärztlichen Befunden und Unterlagen. Der Gutachter hat bereits in seinem Gutachten vormalige Arztberichte berücksichtigt, einbezogen und auch bezüglich des Attests vom 20.10.2022 in seiner ergänzenden Stellungnahme ausführlich und sachlich fundiert dargelegt, weshalb diese Diagnosen nunmehr nicht (mehr) zutreffen oder sich nicht auswirken.
28
Danach ist die Betroffene geschäftsfähig und in der Lage, eine Person ihres Vertrauens rechtsgeschäftlich zu bevollmächtigen.
29
Die Betreuung ist daher nicht erforderlich.