Titel:
Die Ablehnung der Inanspruchnahme sonstiger Hilfe bei freier Willensbildung rechtfertigt keine Betreuungsanordnung
Normenkette:
BGB § 1814 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 S. 2 Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Erforderlichkeit einer Betreuung ergibt sich nicht bereits aus der subjektiven Betreuungsbedürftigkeit, sondern vielmehr gebietet der Grundsatz der Erforderlichkeit bei der Bestellung eines Betreuers die konkrete Feststellung, dass die Bestellung, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, notwendig ist, weil die Betroffene auf entsprechende Hilfe angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern kann, aber nicht dermaßen ausgeprägt ist, dass sie die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen im Hinblick auf die selbständige Erledigung der eigenen rechtlichen Angelegenheiten erheblich beeinträchtigt, stellt keine krankheitsbedingte Einschränkung dar, die die Bestellung einer Betreuung begründen könnte. (Rn. 17 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Rechtliche Betreuung, Erforderlichkeit, Sonstige Hilfen, Freier Wille, Ablehnung der Anordnung einer rechtlichen Betreuung, Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Neurasthenie (Anpassungsstörung) begründet keine Betreuungsnotwendigkeit, Ablehnung der Inanspruchnahme sonstiger Hilfe bei freier Willensbildung rechtfertigt keine Betreuungsanordnung, Auslegung Krankheit, Behinderung i.S.d. § 1814 Abs. 1 BGB, Wunsch/Antrag auf Betreuung, Öffentliches Interesse an der Vermeidung unnötiger Betreuungen, Betreuerbestellung, sonstige Hilfen, freier Wille, Neurasthenie (Anpassungsstörung)
Vorinstanz:
AG Regensburg, Beschluss vom 24.01.2023 – XVII 596/22
Fundstellen:
BtPrax 2025, 70
LSK 2023, 47360
BeckRS 2023, 47360
Tenor
1. Die Beschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 24.01.2023, Az. XVII 596/22, wird zurückgewiesen.
2. Von der Erhebung der Kosten wird abgesehen.
Gründe
1
Mit ihrer Beschwerde verfolgt die Betroffene ihren Wunsch nach Einrichtung einer Betreuung weiter.
2
Im Januar 2022 verlor die Betroffene ihre Arbeitsstelle bei A...bzw. musste diese aus persönlichen Gründen aufgeben und wurde krankgeschrieben. Am 17.03.2022 beantragte die Betroffene beim Amtsgericht Regensburg die Einrichtung einer Betreuung durch Frau M. und verhinderungsweise P. unter Einreichung eines ärztlichen Attests, in dem ihr eine mittelgradige bis schwere depressive Episode bescheinigt wurde. Die Betreuungsbehörde nahm dazu Stellung und meinte, dass andere Hilfen ausreichen müssten. Das Amtsgericht Regensburg erteilte Herrn L. P. einen Gutachtensauftrag; das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Betroffenen eine neurotische Störung vorlag. Es handele sich um eine psychische Erkrankung, die sie aber nicht im täglichen Leben derart beeinträchtigen würde, dass sie eine Betreuung bräuchte. Andere Hilfen würden ausreichen. Unter dem 20.10.2022 gab Dr. M., die die Betroffene erstmals im Oktober 2022 aufsuchte, eine Stellungnahme ab, woraufhin der Sachverständige P. auf Bitten des Gerichts unter dem 29.12.2022 sein Gutachten weiter erläuterte.
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Am 11.01.2023 lehnte das Amtsgericht Regensburg die beantragte Verfahrenskostenhilfe ab und hörte unter dem 19.01.2023 die Betroffene an. Unter dem 24.01.2023 gab Frau Dr. H.-S., die betreuende Psychologin der Betroffenen, eine Stellungnahme ab. Das Betreuungsverfahren wurde unter dem 24.01.2023 eingestellt. Am 22.02.2023 legte Rechtsanwalt I. für die Betroffene Beschwerde ein, der am 28.03.2023 durch das Amtsgericht Regensburg nicht abgeholfen wurde. Die Akte wurde zur Entscheidung dem Landgericht Regensburg vorgelegt, das am 21.08.2023 den Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertrug. Am 23.08.2023 telefonierte Richter am Landgericht Dr. G. mit Frau Dr. H.-S., die erläuterte, dass sich der Zustand gebessert habe. Am 25.08.2023 wurde vom Landgericht Regensburg Verfahrenskostenhilfe bewilligt für die zweite Instanz.
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Die Betroffene war zweimal bei Dr. M., einmal im Oktober 2022 und einmal am 10.10.2023. Dazwischen ist sie nach eigenem Bekunden bei Frau Dr. H.-S. jeden Monat ungefähr einmal gewesen bis ca. Juli 2023.
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Die Betroffene reichte ein ärztliches Attest vom 16.10.2023 von Dr. M. zur Akte, das auch zum Gegenstand der Anhörung wurde.
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Die Anhörung der Betroffenen im Beisein ihres Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt B. in Untervollmacht und ihrer Vertrauensperson Dr. P. und dem Sachverständigen P. fand am 17.10.2023 im Landgericht durch die Einzelrichterin statt.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Die Beschwerde ist nach §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1 FamFG statthaft und wurde form- und fristgerecht eingelegt, §§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 FamFG.
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Sie ist unbegründet, weil die Bestellung eines Betreuers für die Betroffene nicht veranlasst ist.
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Gemäß § 1814 Abs. 1 BGB kann eine rechtliche Betreuung nur angeordnet werden, wenn ein Volljähriger seine rechtlichen Angelegenheiten (vgl. §§ 1815 Abs. 1 S. 2, 1816 Abs. 1, 1821 Abs. 1 BGB) ganz oder teilweise rechtlich nicht besorgen kann und dies auf einer Krankheit oder Behinderung beruht und die Betreuung im Übrigen erforderlich ist.
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Die Krankheit oder Behinderung muss dazu führen, dass der Betroffene in der Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts erheblich beeinträchtigt und dadurch zu eigenverantwortlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage ist (subjektive Betreuungsbedürftigkeit). Diese Auslegung wird auch durch den Willen des Gesetzgebers im Rahmen der Betreuungsrechtsreform zum 01.01.2023 gestützt, wonach es sich bei dem Wegfall der Adjektive psychische [Krankheit] und körperliche, geistige oder seelische [Behinderung] im Vergleich zur vormaligen Formulierung nach altem Recht (§ 1896 Abs. 1 BGB a.F.) nur um Neuformulierungen „zur Vermeidung von Diskriminierungen“ handelt und das Ziel der Neufassung nicht eine Veränderung des Personenkreises ist, für den eine Betreuung in Betracht kommt (BT-Drs. 19/24445, 134).
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Der Betroffene muss zunächst also in der Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechts erheblich beeinträchtigt und dadurch zu eigenverantwortlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage sein (subjektive Betreuungsbedürftigkeit). Dabei muss das Unvermögen zur selbständigen Aufgabenerledigung kausal durch eine psychische Krankheit oder eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung hervorgerufen sein. Das Vorliegen der subjektiven Betreuungsbedürftigkeit ist dabei bei Anordnung einer Betreuung auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens (§ 280 FamFG) durch das Gericht zu beurteilen.
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Die Anordnung einer Betreuung setzt zudem voraus, dass die aufgrund jedenfalls eines der Eingangsmerkmale bestehende subjektive Unfähigkeit die eigenen rechtlichen Angelegenheiten selbst zu besorgen (subjektive Betreuungsbedürftigkeit) einen tatsächlichen, an der konkreten Lebenssituation zu messenden objektiven Betreuungsbedarf hervorrufen muss (BGH, Beschluss vom 20.05.2015 – XII ZB 96/15), wobei ein bei Entscheidung konkret absehbarer bzw. prognostisch erwartbarer Betreuungsbedarf einzubeziehen ist.
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Die Betreuung als Rechtsfürsorge darf jedoch auch dann nur angeordnet werden, wenn sie erforderlich ist (§ 1814 Abs. 3 S. 1 BGB), also nur soweit die Angelegenheiten des Volljährigen nicht durch einen Bevollmächtigten oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, erledigt werden können (§ 1814 Abs. 3 S. 2 BGB, Subsidiarität der Betreuung), und wenn und soweit die rechtliche Wahrnehmung des Aufgabenbereichs durch einen Betreuer erforderlich ist (§ 1815 Abs. 1 S. 2 BGB).
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Die Erforderlichkeit der Betreuung ergibt sich demnach nicht bereits aus der subjektiven Betreuungsbedürftigkeit. Vielmehr gebietet der Grundsatz der Erforderlichkeit bei der Bestellung eines Betreuers die konkrete Feststellung, dass die Bestellung, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfe angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen.
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Ein Betreuungsbedürfnis besteht nicht schon dort, wo auch ein gesunder Volljähriger sich der Hilfe eines anderen (Rechtsanwalt, Steuerberater, usw.) bedienen würde (BayObLG, Beschluss vom 13.12.2000 – 3Z BR 353/00). Nur wenn der Betroffene psychisch außer Stande ist, solche Hilfe von sich aus in Anspruch zu nehmen oder die Notwendigkeit der Inanspruchnahme zu erkennen, kommt die Anordnung einer Betreuung in Betracht (BayObLG, Beschluss vom 13.12.2000 – 3Z BR 353/00; LG Regensburg, Beschluss vom 23.05.2023 – 52 T 280/22, 52 T 281/22).
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Hier ist die Betroffene nicht krankheitsbedingt eingeschränkt und kann daher ihre rechtlichen Angelegenheiten selbst regeln. Es fehlt schon an der subjektiven Betreuungsbedürftigkeit. Ausweislich der gutachterlichen Feststellungen bestand bei der Betroffenen zum Begutachtungszeitpunkt kein depressives Syndrom klinischer Ausprägung, denn ein solches konnte bei ihr nicht verifiziert werden. Der Gutachter erwähnte diesbezüglich in seinem Gutachten die dafür typischen Symptome und kam zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass diese nicht objektiviert werden konnten. Vielmehr konstatierte er eine deutliche Diskrepanz zwischen den Beschwerdeschilderungen und den objektiv fassbaren psychopathologischen Symptomen, einen inplausiblen Krankheitsverlauf, kein wirkliches Krankheitsgefühl und eine Dramatisierung ihrer Beschwerden, da sie Fragen nach den Symptomen und deren Entwicklung nur vage beantwortete. Zudem entspreche das psychosoziale Niveau der Betroffenen im Alltag nicht den von ihr geschilderten Beschwerden. Ein depressives Syndrom, das sie daran hindern würde, eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen liege nicht vor.
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Das Zustandsbild sei allenfalls einer Anpassungsstörung mit gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten zuzuordnen, die im Allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen behindern könnte. Auch eine Neurasthenie wurde vom Gutachter in Betracht gezogen; eine abschlie52 T 96/23 – Seite 5 – ßende diagnostische Beurteilung sei aber nicht notwendig, weil es sich bei beiden um sogenannte neurotische Störungen handele, die aus forensisch – psychiatrischer Sicht das Ausmaß einer psychischen Krankheit erreichten. Nach den nachvollziehbaren und schlüssigen Ausführungen des Gutachters, denen sich das Gericht nach eigener kritischer Würdigung und dem Ergebnis der Anhörung der Betroffenen anschließt, ist diese neurotische Störung aber nicht kausal für die von der Betroffenen behauptete Unfähigkeit zur eigenständigen Erledigung der eigenen rechtlichen Angelegenheiten. Die Betroffene konnte und kann ihren Willen uneingeschränkt und frei bestimmen und entsprechend ihrer Einsicht handeln. Die neurotischen Symptome sind unter Aufwendung zumutbarer Anstrengungen überwindbar. Es konnte weder festgestellt werden, dass der notwendige Antrieb fehlt, noch dass eine Grübelneigung dazu führt, dass keine Entscheidungen getroffen werden. Dass der Antrieb zur Erledigung der eigenen Angelegenheiten nicht fehlt, macht der Sachverständige daran fest, dass sie ihre Wohnung sehr sauber und aufgeräumt hält und als erstes den Sachverständigen darauf hinwies, bitte im Treppenhaus die Schuhe auszuziehen. Auch bei der Anhörung vor Gericht machte sie einen sehr gepflegten Eindruck, sodass die Schlussfolgerung, es fehle ihr nicht generell am Antrieb, sich um zu ihre Angelegenheiten zu kümmern, nachvollziehbar ist.
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Die krankheitsbedingten Beeinträchtigen sind demnach nicht dermaßen ausgeprägt, dass die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Betroffenen im Hinblick auf die selbständige Erledigung der eigenen rechtlichen Angelegenheiten erheblich beeinträchtigt wäre. Im Rahmen der richterlichen Anhörung zeigten sich ebenfalls keinerlei kognitive oder sonstige Beeinträchtigungen der Betroffenen. Diese konnte sehr gut für sich selbst sprechen, ja sogar den Gutachter unterbrechen und lautstark angehen. Es mag zwar sein, dass die Betroffene tatsächlich Schwierigkeiten bei der Erledigung ihrer Angelegenheiten hat. Diese Schwierigkeiten sind jedoch weder unmittelbar noch mittelbar durch eine psychische Störung oder seelische Behinderung bedingt.
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Die Betroffene ist in der Lage andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, in Anspruch zu nehmen. So hat sie sich zum Beispiel mit ihrer Post an Dr. P. gewandt, den sie vorher auch nicht kannte. Sie hätte mit ihren Fragen auch zum Allgemeinen Sozialdienst der Stadt Regensburg oder alternativ der Caritas gehen können, die im Umgang mit Formularen sowie der zu bearbeitenden Post unterstützen. Weiter können die dortigen Mitarbeiterinnen die Betroffene bei Bedarf zu Terminen bei Ämtern begleiten und hierdurch unterstützend tätig sein. Dies entspricht der Einschätzung des Sachverständigen, der dazu in seinem Gutachten ähnliche Ausführungen macht. Er verweist zudem auf den sozialpsychiatrischen Dienst der Diakonie oder der Bayerischen Gesellschaft für psychische Gesundheit sowie die Möglichkeit der Ergotherapie und der Hilfe bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch die Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung.
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Bei der Diakonie sowie der Caritas gibt es zudem Angebote zur Schuldnerberatung, welche die finanzielle Situation zusammen mit der Betroffenen in den Blick nehmen können. Der Kontakt zur Schuldnerberatung kann durch den o. g. Sozialdienst erfolgen und auch hier wäre eine Begleitung möglich. Eine weitere Unterstützung im Bereich der Gesundheitssorge und speziell im Hinblick auf eine mögliche Suchterkrankung in Bezug auf den zuletzt vorgetragenen Alkoholkonsum könnte auch die Caritas Fachambulanz für Suchtprobleme darstellen.
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Gegenteilige Feststellungen konnten nicht getroffen werden. Zwar behauptet die Betroffene auf Frage der Richterin, warum sie keine anderen Hilfen suchen würde, sie meide generell fremde Menschen, jedoch war sie bei der Anhörung in der Lage, sich adäquat zu äußern und auch frei mit der ihr bis dahin unbekannten Richterin zu sprechen, sodass ohne weiteres davon auszugehen ist, dass sie in der Lage ist, sich zu den entsprechenden Behörden zu begeben und dort um Hilfe zu ersuchen. Die Ausführungen ihres Verfahrensbevollmächtigten im Schriftsatz vom 19.12.2022 dazu, dass sie (krankheitsbedingt) mit fremden Menschen Probleme habe, sind nicht nachvollziehbar. Denn offenbar konnte sie sich auch dem Verfahrensbevollmächtigten wie auch der Richterin und Frau M. anvertrauen sowie dem Sachverständigen einiges erzählen.
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Psychopathologische Symptome, die sie hindern würden, andere Hilfen anzunehmen, sind laut dem Sachverständigen P. nicht fassbar. Es kommt auf den Istzustand an. Derzeit ist sie in der Lage ihre Angelegenheiten zu erledigen und darin ist sie auch nicht krankheitsbedingt beeinträchtigt bzw. gar nicht beeinträchtigt. Dieser nachvollziehbaren und schlüssigen Einschätzung schließt sich das Gericht nach kritischer Würdigung, unter besonderer Berücksichtigung des Anhörungsergebnisses, an.
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Die Angriffe gegen das Gutachten des Sachverständigen P. gehen ins Leere. Er wurde nicht wegen Befangenheit abgelehnt und das Gutachten war auch nicht unbrauchbar, sodass auch kein neues Gutachten einzuholen war. Es kann dahinstehen, wie lang die erste Exploration dauerte. Dem Vorwurf der Betroffenen und ihres Verfahrensbevollmächtigten, sie habe nur zehn Minuten gedauert (in einem früheren Schriftsatz war von bis zu 15 Minuten die Rede), begegnete der Sachverständige mit Kopfschütteln. Es wäre auch nicht möglich, alles das, was während der Exploration, wie aus dem Gutachten ersichtlich, besprochen wurde, in nur zehn Minuten abzuhandeln. Der Sachverständige erklärte in seinem Gutachten, dass die Betroffene nur eingeschränkt Bereitschaft zur Mitwirkung zeigte. So antwortete sie auf Fragen zu ihrer Krankheitsge52 T 96/23 – Seite 7 – schichte vage und wollte auch die Familiengeschichte nicht breit darstellen. Zudem ist dem Sachverständigen zuzugestehen, dass er die notwendige Expertise und Erfahrung besitzt, um selbst zu entscheiden, wie lange eine Exploration dauern muss, um sich einen ausreichenden Eindruck zu verschaffen. Die vom Verfahrensbevollmächtigten vertretene Ansicht, dem Gutachten fehle es an Substanz und Plausibilität, wird nicht geteilt. Der Sachverständige nahm hierzu in seinen ergänzenden Ausführungen vom 08.01.2023 Stellung und erklärte nochmals, wie er zu seinem Ergebnis gelangte. Er erklärte dort auch, dass keine weiteren Testungen veranlasst seien, weil etwaige leichte Defizite, die nur in einem Testverfahren entdeckt werden könnten, und bei der von ihm vorgenommenen Erhebung des psychopathologischen Befundes nicht fassbar gewesen seien, jedenfalls die Fähigkeit der Betroffenen, ihre Angelegenheiten zu erledigen, nicht ernsthaft beeinträchtigen könnten. Seine Schilderungen zum Verhalten der Betroffenen und ihren Aussagen deckt sich mit dem, wie sich die Betroffene in der richterlichen Anhörung präsentierte. Zudem war er während der gesamten Anhörung der Betroffenen durch das Gericht am 17.10.2023 anwesend und konnte sich auch hierbei einen Eindruck von deren Gesundheitszustand machen, der ihn – für das Gericht nach dem eigenen Eindruck nachvollziehbar – nicht dazu veranlasste, seine Meinung bezüglich einer subjektiven Betreuungsbedürftigkeit zu ändern, was er der Betroffenen mitteilte, sodass diese in Begleitung von ihrer Vertrauensperson und ihrem Verfahrensbevollmächtigten auf dieses erwartbare Ergebnis reagieren konnte. Die erstmals im Attest von Dr. M. am 16.10.2023, erstellt nach dem zweiten Besuch der Betroffenen (mit Abstand von einem Jahr zum ersten Besuch) bei ihr, erwähnten Probleme mit Alkohol und Kaufsucht konnte die Betroffene dem Gericht nicht nachvollziehbar schildern; hierbei handelt es sich aber auch nicht um Krankheiten oder Behinderungen, die zu einer subjektiven Betreuungsbedürftigkeit führen würden. Die von ihr erstmals in der Anhörung geschilderten Panikattacken wären, wenn sie denn medizinisch gesichert eingetreten wären, gut behandelbar und würden nicht zu einer Betreuungsbedürftigkeit führen. Der Sachverständige äußerte sich hierzu gleichermaßen. Auch Frau Dr. H.-S. befürwortete in ihrem letzten Telefonat keine Betreuung mehr. Der vom Verfahrensbevollmächtigten eingereichte Bescheid der Agentur für Arbeit gibt nur die Aktenlage wieder, ohne dass eine eigene Untersuchung vorgenommen worden wäre, sodass sich auch hieraus nichts ableiten lässt.
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Soweit sie den freien Willen fassen sollte, keine sonstigen Hilfen i.S.d. § 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 BGB in Anspruch nehmen zu wollen, obwohl sie psychisch dazu in der Lage und fähig ist, wäre diese Entscheidung der Betroffenen als Ausübung des grundrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrechts als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) zu respektieren. Im Gegenzug kann diese freie Entscheidung jedoch nicht dazu führen, dass eine deshalb nicht erforderliche Betreuung (§ 1814 Abs. 3 S. 1, S. 2 BGB) angeordnet und in das grundrechtlich geschützte allgemeine Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht eingriffen wird, denn die rechtliche Betreuung soll nicht an die Stelle von Fähigkeiten treten, die eine volljährige Person selbst hat (BeckOGK/Schmidt-Recla, Stand: 15.05.2023, § 1814 BGB Rn. 14). Hindert eine psychische Erkrankung rechtlich nicht die Besorgung eigener Angelegenheiten des Betroffenen, auch durch Beauftragung und Bevollmächtigung Dritter, kann grundgesetzlich kein Betreuer bestellt werden, selbst wenn der Betroffene dies wünscht/beantragt, da der Erforderlichkeitsgrundsatz des Betreuungsrechts auch dem öffentlichen Interesse an der Vermeidung unnötiger Betreuungen dient (OLG München, Beschluss vom 06.04.2005 – 33 Wx 32/05). Das gilt, wie sich aus § 1814 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 BGB ergibt, auch für die Möglichkeit und Fähigkeit zur Inanspruchnahme sonstiger Hilfen.
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Die Ausführungen der Betroffenen in der Anhörung selbst offenbaren, dass es ihr darum geht, dass es für sie mit einem Betreuer einfacher sei, nicht weil sie einen Betreuer als Stellvertreter benötigte. So sagt sie selbst, sie brauche Hilfe, weil sie mit ihrem Einkommen nicht leben könne. Deswegen habe sie selbst schon einmal beim Arbeitsamt angerufen und gesagt, das Geld reiche nicht, wie sie in der Anhörung erklärte. Sie schafft es also, sich bei den Behörden selbstständig zu melden. Zudem fragte sie bei der Anhörung in den Raum, was sie denn noch tun solle, um eine Betreuung zu bekommen? Auch dies offenbart, dass sie gerne die Betreuung hätte, um es einfacher zu haben, aber nicht, weil sie subjektiv betreuungsbedürftig wäre. Das Gericht kann nicht ausschließen, dass die von ihr geschilderten Probleme wie Alkoholkonsum, „Kaufsucht“ und „Panikattacken“ nur deshalb angeführt werden, weil sie meint, dann als betreuungsbedürftig zu gelten.
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Darüber hinaus besteht aktuell aber auch kein objektiver Betreuungsbedarf bezogen auf die Gesundheitssorge und die Wohnungsangelegenheiten/Vermögenssorge als hier allein in Betracht kommende Aufgabenbereiche. Die Betroffene war nach eigenem Bekunden selbst in der Lage, ihren Orthopäden aufzusuchen und war auch regelmäßig eigenständig bei Frau Dr. H.-S., wo sie allerdings eine Therapie ablehnte. Als Frau Dr. H.-S. keine Notwendigkeit für die Einrichtung einer Betreuung mehr sah, ging die Betroffene nicht mehr zu ihr. Ferner erklärte sie, mit Frau Dr. M. besser zurechtzukommen und dort einen Folgetermin vereinbart zu haben, sodass davon ausgegangen werden darf, dass sie diesen wahrnehmen wird.
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Entgegenstehendes wurde nicht artikuliert. Im Rahmen der Gesundheitssorge besteht daher derzeit kein Handlungsbedarf, zumal der Sachverständige P. keine Anhaltspunkte dafür sieht, dass sich der Gesundheitszustand in Zukunft verschlechtern könnte, zum Beispiel eine schwere Episode einer Depression drohe. Bezüglich der Wohnungssituation besteht derzeit auch kein Handlungsbedarf, weil die erst siebzehnjährige Tochter noch mit in der adäquat großen Wohnung wohnt und gemeldet ist, sodass die Bedarfsgemeinschaft fortbesteht. Sollte die Tochter irgendwann ausziehen, dann wäre die Betroffene in der Lage, zusammen mit den zuständigen Sozialbehörden eine Lösung zu finden. Der Antrag für eine frühzeitige Berentung ist gestellt; hier wird sich die Betroffene ggf. einer Begutachtung zu unterziehen haben.
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Selbst wenn man davon ausginge, dass das Gutachten den Anforderungen des § 280 FamFG nicht gerecht würde, gelangt man zu keinem anderen Ergebnis. Die Betreuung wurde und wird nicht angeordnet. Die Anforderungen an die gerichtliche Sachaufklärung richten sich daher nach § 26 FamFG und nicht § 280 FamFG. Es liegen aufgrund des Ermittlungsergebnisses keine Anhaltspunkte dafür vor, dass ein Betreuungsbedarf besteht. Insoweit deckt sich der unmittelbare Eindruck des Gerichts auch mit den Ausführungen des Sachverständigen.
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Im Ergebnis war das Betreuungsverfahren daher ohne die Anordnung einer Betreuung einzustellen, da bereits die medizinischen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen. Die Beschwerde ist unbegründet.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG. Die Betroffene hat wohl nicht schuldhaft die Voraussetzungen einer Betreuerbestellung verkannt, sodass von der Erhebung der Kosten abgesehen werden kann, § 21 Abs. 1 S. 3 GKG.