Titel:
Vorlage hinsichtlich der Eigenschaft eines Dienstherrn als "Geschädigter" iSd EuGVVO
Normenkette:
[Brüssel I-VO Art. 9, Art. 11 Abs. 2 (idF bis zum 15.1.2015)
Leitsatz:
Da die Frage, wer als "Geschädigter" eines Verkehrsunfalls anzusehen ist und sich auf die Privilegierung eines Wohnsitzgerichtsstandes berufen kann, zwar für Sozialversicherer und öffentlich-rechtliche Krankenhausträger, aber nicht für den Regress eines Dienstherrn bei Dienstunfähigkeit eines Beamten nach einem Unfallereignis geklärt ist, wird die Frage dem EuGH vorgelegt. (Rn. 20 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorlage, Geschädigter, schwächere Partei, Dienstherr
Vorinstanz:
AG München, Urteil vom 16.02.2022 – 341 C 9562/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 47077
Tenor
Der Beschluss vom 04.05.2023 wird zur Berichtigung von Rubrumsfehlern und offensichtlichen Schreib- bzw. Diktatversehen gem. § 319 Abs. 1 ZPO berichtigt und neu gefasst wie folgt:
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage vorgelegt:
Ist Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in Verbindung mit Art. 11 Abs. 1 lit. b dieser Verordnung dahingehend auszulegen, dass auch ein Mitgliedstaat der Europäischen Union selbst als Dienstgeber, der das Entgelt seines infolge eines Verkehrsunfalls (vorübergehend) dienstunfähigen Beamten fortgezahlt hat und in die Rechte eingetreten ist, die diesem gegenüber der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, bei der das an diesem Unfall beteiligte Fahrzeug haftpflichtversichert ist, zustehen, die Versicherungsgesellschaft als „Geschädigter“ im Sinne der genannten Bestimmung vor dem Gericht am Wohnsitz des dienstunfähigen Beamten verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist?
Gründe
1
Die Klägerin und Berufungsklägerin (im Folgenden: Klägerin) als Dienstherrin der bei einem Verkehrsunfall geschädigten Frau … macht gegen die Beklagte und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Beklagte) als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung des unfallgegnerischen Fahrzeuges Schadenersatzansprüche aus übergegangenem Recht geltend.
2
Frau … hat ihren Wohnsitz in … und ist als Bundesbeamtin bei dem Deutschen Patent- und Markenamt in der Dienststelle M. tätig. Bei dem Deutschen Patent- und Markenamt handelt es sich um eine obere Bundesbehörde.
3
Am 08.03.2020 verunfallte … bei einer Urlaubsreise auf … als sie mit ihrem Fahrrad unterwegs war und mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Mietwagen der von einem deutschen Fahrer mit Wohnsitz in … geführt wurde, zusammenstieß. Als Grund der dabei erlittenen Verletzungen war… vom 08.03.2020 bis zum dienstunfähig.
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Die Klägerin als Dienstherrin zahlte ihr die Bezüge für den Zeitraum der Dienstunfähige… von 1.432,77 € fort und machte mit Schreiben vom 25.01.2021 gegenüber dem in Deutschland bestellten Schadensregulierungsbeauftragten der Beklagten, der … Ansprüche auf Erstattung der fortgezahlten Dienstbezüge geltend. Diese lehnte eine Leistung ab und begründete dies mit einer Unfallverursachung durch ….
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Die Klägerin hat daraufhin Klage zum Amtsgericht München auf Zahlung von 1.432,77 € erhoben (Az. 341 C 9562/21). Die Beklagte hat den Anspruch bestritten und im Übrigen die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gerügt. Mit Urteil vom 16.02.2022 hat das Amtsgericht München daraufhin die Klage mangels internationaler Zuständigkeit abgewiesen und dazu ausgeführt, dass sich die Klägerin nicht auf eine Zuständigkeit gem. Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 Abs. 2 der Verordnurg (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichiliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) berufen könne, weil diese Regelung als eine Ausnaihmevorschrift eng auszulegen sei und die Klägerin als Staat im Rahmen einer abstrakt-typisierender Schutzbedürftigkeltsprüfung nicht des besonderen Schutzes dieser Regelungen bedürfe, zumal sie z.B. im Rahmen der Alters- und Krankenvorsorge funktional auch als Sozialversicherungsträger tätig sei. Insoweit wird auf die Entscheidungsgründe im Urteil vom 16.02.2022 (Bl. 59-65 d.A.) Bezug genommen.
6
Gegen dieses Urteil, ihr zugestellt am 23.02.2022, hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 18.03.2022 Berufung eingelegt und diesem mit Schriftsatz vom 24.05.2022 begründet.
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Die Klägerin ist der Auffassung, das Amtsgericht München habe zu Unrecht seine Zuständigkeit verneint, weil sich die Klägerin zutreffender Weise durchaus auf Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 Abs. 2 EuGVVO berufen könne. Die Klägerin habe als Dienstgeberin einer bei einem Verkehrsunfall direktgeschädigten Dierstnehmerin durch die Fortzahlung der Dienstbezüge deren Schadenersatzansprüche gegen die Beklagte im Wege der Legalzession erworben. Dadurch werde die Zuständigkeit der Gerichte im Wohnsitzstaat der Geschädigten auch für die Legalzessionarin begründet. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH (insbesondere Urteil vom 20.07.2017 – Az.: C-340/16) sei gerade keine konkrete Einzelfallbetrachtung und keine Differenzierung nach dem Kriterium der Schwäche vorzunehmen, sondern im Interesse einer Vorhersehbarkeit könne jede Eintrittsberechtigte, die Ansprüche nicht als Versicherer oder Sozialversicherungsträger, sondern als Legalzessionarin aus übergegangenem Recht wie eine Geschädigte geltend mache, auch die Gerichte am Wohnsitz der Geschädigten anrufen.
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Die Klägerin beantragt,
auf die Berufung der Klägerin das Urteil des Amtsgerichts München vom 16.02.2022, Az. 341 C 9562/21 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.432,77 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
die Entscheidung des Amtsgerichts München vom 16.02.2022, Az. 341 C 9562/12, aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht München zurückzuverweisen.
die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte Ist der Auffassung, aus dem Schutzzweck der Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 EuGVVO ergebe sich, dass sich nur diejenige Partei gegenüber einer in Anspruch genommenen Versicherung auf diese Privilegierung berufen könne, die institutionell als schwächeres Subjekt gegenüber der Versicherung – namentlich der Haftpflichtversicherung – anzusehen sei. Das sei sowohl bei einem Sozialversicherungsträger als auch bei im Versicherungsrecht gewerblich tätigen Personen unabhängig von ihrer Größe vom EuGH verneint worden (EuGH vom 17.09.2009 – Az.: C-347/08: EuGH vom 31.01.2018 – Az.: C-108/17; EuGH v. 20.05.2021 – Az.: C-913/19; EuGH v. 21.10.2021 – Az.: C-393/20). Eine solche institutionelle Unterlegenheit sei aber auch für einen Mitgliedsstaat der EU als Völksrrechtssubjekt zu verneinen, zumal wenn er – wie die Klägerin vorliegend – auch Leistungen erbringe, die in ihrem Wesen Leistungen der Sozialversicherung entsprächen und er zudem auch die Aufsicht über die in seinem Hoheitsgebiet tätigen Versicherungen führe. Jedenfalls aber sei die angerufene Kammer als Berufungsinstanz zur Vorlage der Auslegungsfrage an den EuGH gem. Art. 267 AEUV verpflichtet, insbesondere, wenn sie insoweit von der Rechtsprechung des OLG Koblenz vom 15.10.2012 – Az. 12 U 1528/11 abweichen wolle.
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Die Kammer hat über die Berufung am 04.05.2023 mündlich verhandelt. Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Parteivorbringens wird auf das Urteil des Amtsgerichts München vom 16.02.2023 (31. 59-65 d.A.), die gewechselten Schriftsätze mit Anlagen beider Instanzen und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 04.05.2023 (Bl. 128/129 d.A.) Bezug genommen.
12
Das Verfahren ist gem § 148 ZPO auszusetzen und die im Tenor zu 2 formulierte Frage dem EuGH gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorzulegen. Denn die Berufung der Klägerin ist zulässig und ihre Begründetheit hängt von der Auslegung der Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: EuGVVO) bzw. davon ab, ob eine Zuständigkeit des erstinstanzlich angerufenen Gerichts gegeben ist.
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1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts München vom 16.02.2022 (Az.: 341 C 9562/21) ist zulässig. Insbesondere hat die Klägerin gegen das ihr am 23.02.2022 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 18.03.2022 gem. §§ 517, 519 ZPO formund fristgerecht eingelegt und mit Schriftsatz vom 24.05.2022 gem. § 520 Abs. 1 ZPO form- und fristgerecht begründet worden.
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2. Die Begründetheit der Berufung hängt von der Frage ab, ob das Amtsgericht München zurecht seine Zuständigkeit gem. Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 Abs. 2 EuGVVO verneint hat.
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2.1. Der unionsrechtliche Rahmen lautet insoweit wie folgt:
„• Erwägungsgründe zur EuGVVO:
(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Diese Zuständigkeit sollte stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.
(…) (18) Bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie gunstiger sind als die allgemeine Regelung.
(1) Ein Versicherer, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:
a) vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat,
b) in einem anderen Mitgliedstaat bei Klagen des Versicherungsnehmers, des Versicherten oder des Begünstigten vor dem Gericht des Ortes, an dem der Käger seinen Wohnsitz hat, oder
c) falls es sich um einen Mitversicherer handelt, vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem der federführende Versicherer verklagt wird.
(2) Hat der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats keinen Wohnsitz, besitzt er aber in einem Mitgliedstaat eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung, so wird er für Streitigkeiten aus ihrem Betrieb so behandelt, wie wenn er seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hätte.
(1) Bei der Haftpflichtversicherung kann der Versicherer auch vor das Gericht, bei dem die Klage des Geschädigten gegen den Versicherten anhängig ist, geladen werden, sofern dies nach dem Recht des angerufenen Gerichts zulässig ist.
(2) Auf eine Klage, die der Geschädigte unmittelbar gegen den Versicherer erhebt, sind dia Artikel 10, 11 und 12 anzuwenden, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.
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2.2. Nach Art. 13 Abs. 2 EuGVVO kann ein Geschädigter, der einen Direktanspruch gegen einen Versicherer geltend macht, Klage an einem nach Art. 10-12 EuGVVO zuständigen Gericht erheben. Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO wiederum eröffnet die Möglichkeit für eine Klage am Gericht des Wohnsitzes des Versicherungsnehmers und – durch den Verweis in Art. 13 Abs. 2 EuGVO – damit am Wohnsitz des Geschädigten.“
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Die Klägerin macht – insoweit zwischen den Parteien unstreitig – einen Direktanspruch gegen die Beklagte als Haftpflichtversicherung des unfallgegnerischen Fahrzeugs gem. Art. 18 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (im Folgenden: Rom-II-VO) i.V.m. Art. 7.1 Abs. 2, Art. 1.1, 143 des spanischen Ley sobre responsabilidad civil y seguro en la circulación de vehículos a motor (im Fogenden: LRCSCVM) aus übergegangenem Recht gem. Art. 19 Rom-II-VO i.V.m. § 76 BBG geltand. Denn die Klägerin ist – gleichfalls unstreitig – Dienstherrin der bei dem Unfall Geschädigten, … und hat – wiederum unstreitig – Dienstbezüge während der unfallbedingten Dienstunfähigkeit der Geschädigten in Höhe von 1.432,77 € fortbezahit.
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2.3. Entscheidend ist rur die Frage, ob auch die Klägerin, die aus nach Legalzession übergegangenem Recht der ursprünglich durch den Unfall geschädigten Bediensteten klagt, sich auf Art. 11 Abs. 1 lit. b. Art. 13 Abs. 2 EuGVVO berufen kann.
19
Im Hinblick auf die Zuständigkeitsregelungen geht die EuGVVO – wie auch die ihr vorangegangene Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 (im Folgenden: EuGVVO a.F.) – von folgenden grundlegenden Erwägungen aus: Nach Nr. 15 der Erwägungsgründe zur EuGVVO sollen die Zuständigkeitsvorschriften in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. Nach Nr. 18 der besagten Erwägungsgründe soll bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als diese allgemeine Regelung.
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2.4. Der EuGH hat dazu, soweit ersichtlich, in drei Entscheidungen vom 17.09.2009 (Az. C-347/08), vom 20.07.2017 (Az. C-3410/16) und vom 31.01.2018 (Az. C-106/17) bereits wesentliche Grundsätze herausgearbeitet, um einerseits dem durch die Art. 10-13 EuGVVO (bzw. ihre gleichlautenden Vorgänger-Vorschriften der EuGVVO a.F.) bezweckten Schutz der schwächeren Partei und andererseits der notwendigen Vorhersehbarkeit im Hinblick auf das zuständige Gericht gerecht zu werden:
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So sind alle diejenigen, die gewerblich selbst in der Versicherungswirtschaft tätig sind, sei es als Versicherer, sei es als Träger der gesetzlichen Sozialversicherung (Urteil v. 17.09.2009 – Az.: C-347/08), sei es als gewerbsmäßig tätiger Zessionar (Urteil v. 31.01.2018 – Az.: C-106/17) nicht schutzbedürftig und gelangen daher nicht in den durch die Art. 10 ff. EuGVVO vermittelten Schutz bei der Wahl des forum actoris, und dies unabhängig davon, ob sie mit vergleichbarer Markt- bzw. Wirtschaftsmacht agieren wie die beklagte Versicherung.
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Demgegenüber sind alle diejenigen die nicht gewerblich in der Versicherungswirtschaft tätig sind sondern aus vom Geschädigten etwa durch Erbfolge oder wegen Lohnfortzahlung auf sie übergegangenen Rechts klagen, ihrerseits als „Geschädigte“ im Sinne von Art. 13 Abs. 2 EuGVVO anzusehen und kommen in den Genuss des forum actoris der Art. 10 ff. EuGVVO. Auch dies gilt wiederum, ohne dass im konkreten Einzelfall eine individuelle Schutzbedürftigkat zu prüfen wäre. Der EuGH hat dazu ausgeführt (Urteil v. 20.07.2017 – Az. C-340:16-Rz. 34 ff.):
„Darüber hinaus würde, wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt hat, eine einzelfallbezogene Beurteilung der Frage, ob der das Entgalt fortzahlende Dienstgeber als „schwächere Parter“ angesehen werden kann, die unter den Begriff „Geschädigter“ im Sinne des Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 fallen kann, die Gefahr von Rechtsunsicherheit mit sich bringen und liefe dem im elften Erwägungsgrund der Verordnung angeführten Ziel hoher Vorhersehbarkeit der Zuständigkeitsvorschriften zuwider.
Folglich ist davon auszugehen, dass Dienstgeber, die in Schadenersatzansprüche ihrer Dienstnehmer eingetreten sind, als Geschädigte unabhängig von ihrer Größe und ihrer Rechtsform gemäß Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 die in deren Art. 8 bis 10 vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsvorschriften in Anspruch nehmen können.
Somit kann der Dienstgeber, der aufgrund der Fortzahlung des Entgelts seines Dienstnehmers während der Dauer einer Arbeitsunfähigkeit in dessen Rechte eingetreten ist und nur in dieser Eigenschaft eine Klage auf Ersatz des dem Dienstnehmer entstandenen Schadens erhebt, als schwächer als der von ihm verklagte Versicherer angesehen werden, so dass er die Möglichkeit haben muss, die Klage bei den Gerichten des Mitgliedstaats zu erheben, in dem er seinen Sitz hat.
Daraus folgt, dass ein Dienstgeber, der in die Rechte des durch einen Verkehrsunfall geschädigten Dienstnehmers eingetreten ist, weil er dessen Entgelt fongezahlt hat, in seiner Eigenschaft als „Geschädigter“ den Versicherer des an diesem Unfall beteiligten Fahrzeugs vor den Gerichten des Mitgliedstaats seines Sitzes verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.
Nach alledem ist Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 44/2001 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 2 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass ein in einem ersten Mitgliedstaat ansässiger Dienstgeber, der das Entgelt seines infolge eines Verkehrsunfalls arbeitsunfähigen Dienstnehmers fortgezahlt hat und in die Rechte eingetreten ist, die dem Dienstnehmer gegenüber der in einem zweiten Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, bei der das an diesem Unfall beteiligte Fahrzeug haftpflichtversichert ist, zustehen, in seiner Eigenschaft als „Geschädigter“ im Sinne der letztgenannten Bestimmung die Versicherungsgesellschaft vor den Gerichten des ersten Mitgliedstaats verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist.“
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Da zugleich jedoch die Ausnahmen von dem Zuständigkeitsgrundsatz des Gerichtsstandes des Beklagten Ausnahmecharakter haben und eng auszulegen sind, dürfen sie nicht auf Personen ausgedehnt werden die dieses Schutzes nicht bedürfen (EuGH v. 31.01.2018 – Az. C-106/17 – Rz. 41; EuGH v. 20.05.2021 – Az.: C-913/19 – Rz. 39). Auch wenn zwar regelmäßig keine konkrete Einzelfallbetrachtung und -abwägung der strukturellen Schwäche bzw. Schutzbedürftigkeit für die Anwendung der Art. 10 ff. EuGVVO vorzunehmen ist, so soll doch ein Ungleichgewicht im Sinne dieser Vorschriften jedenfalls im Allgemeinen dann nicht vorliegen, wenn die Klage keinen Versicherer betrifft, demgegenüber sowohl der Versicherte als auch der Geschädigte als die schwächere Partei angesehen werden müssen (EuGH v. 09.12.2021 – Az. C-708/20 – Rz. 33).
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2.5. Damit lässt sich einerseits eine abstrakt-generalisierende Schlitzbedürftigkeitsprüfung im Rahmen der Art. 10 ff. EuGVVO feststellen, wonach in bestimmten Fallgruppen – und innerhalb dieser Gruppen dann unabhängig von der konkreten Schwäche bzw. Schutzbedürftigkeit im Verhältnis zu dem in Anspruch genommenen Versicherer – eine Schutzbedürftigkeit zu bejahen (namentlich im Falle einer Legalzession bei Erben oder Arbeitgebern) oder zu verneinen (namentlich bei Sozialversicherungsträgern oder gewerblich im Versicherungsbereich tätigen Zessionaren) ist. Andererseits legt aber gerade diese Fallgruppenbildung rahe, dass durch eine typisierte Betrachtung dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit, wie es in Nr. 15 der Erwägungsgründe formuliert wird, ausreichend Rechnung getragen werden kann und zugleich Raum verbleibt, den Ausnahmecharakter zu wahren.
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Das OLG Koblenz hat in seinem Urteil vom 15.10.2021 (Az. 12 U 1528/11) daher eine Zuständigkeit für Klagen eines Bundeslandes eines Mitgliedsstaates nach den – insoweit zu den Art. 11 Abs. 1 lit b. Art. 13 Abs. 2 EuGVVO regelungsgleichen – Vorschriften der Art. 9 Abs. 1 lit. b. Art. 11 Abs. 2 EuGVVO a.F. verneint und zur Begründung ausgeführt, dass ein Land der Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu einem Haftpflichtversicherer nicht schwächer oder rechtlich weniger erfahren als ein Versicherer sei und seine Position mit der eines Sozialversicherungsträgers verglichen werden könne.
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Der EuGH hat derngegenüber in der oben bereits zitierten Entscheidung (v. 20.07.2017 – Az.: C-340/16) eine Zuständigkeit für Klagen eines öffentlich-rechtlich organisierten Krankenhausträgers als Dienstherr nach Legalzession für die Fortzahlung des Entgelts seines Dienstnehmers bejaht; allerdings handelte es sich bei der dort klagenden öffentlich-rechtlichen Körperschaft weder um ein Bundesland noch gar um einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union selbst und gerade das Kriterium der Völkerrechtssubjektivität erscheint als hinreichend abstrakt feststellbar, um dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit in Bezug auf die Zuständigkeit gerecht werden zu können.
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3. Vor diesem Hintergrund steht im Zentrum der Entscheidung über die Berufung der Klägerin, ob Art. 11 Abs. 1 lit. b, Art. 13 Abs. 2 EuGVVO trotz ihres Ausnahmecharakters dahingehend ausgelegt werden können, dass auch ein Mitgliedstaat der Europäischen Union selbst als Dienstgeber, der das Entgelt seines infolge eines Verkehrsunfalls (vorübergehend) dienstunfähgen Beamten fortgezahlt hat und in die Rechte eingetreten ist, die diesem gegenüber der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, bei der das an diesem Unfall beteiligte Fahrzeug haftpflichtversichert ist, zustehen, die Versicherungsgesellschaft als „Geschädigter“ im Sinne der genannten Bestimmung vor dem Gericht am Wohnsitz des dienstunfähigen Beamten verklagen kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist. Damit steht die Auslegung einer Verordnung zwischen den Parteien im Streit und ist für die Entscheidung über die Berufung von zentraler Bedeutung.
28
Entsprechend ist die Auslegung dem Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung über die im Tenor zu 2 genannte Frage gem. Art. 267 AEUV vorzulegen.