Inhalt

VG München, Urteil v. 24.11.2023 – M 1 K 21.4518
Titel:

Keine Werbeanlage im reinen Wohngebiet

Normenketten:
VwGO § 101 Abs. 2, § 113 Abs. 5 S. 1, § 162 Abs. 3
BauGB § 34 Abs. 1, Abs. 2
BauNVO § 3
Leitsätze:
1. Nach Sinn und Zweck des Einfügungsgebots iSv § 34 BauGB kommt es auf die Umgebung zum einen insoweit an, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits das Baugrundstück prägt (ebenso BVerwG BeckRS 1978, 109137). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. In einem reinen Wohngebiet ist ein gewerbliches Vorhaben in Form einer Werbeanlage nicht zulässig und kann auch nicht ausnahmsweise zugelassen werden. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Werbeanlage, Einfügen, Nähere Umgebung, Art der Nutzung, Reines Wohngebiet, faktisches Wohngebiet, reines Wohngebiet, nähere Umgebung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 18.07.2024 – 1 ZB 24.758
Fundstelle:
BeckRS 2023, 46361

Tenor

 I.    Die Klage wird abgewiesen.
 II.    Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage, den Beklagten zur Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung zweier beleuchteter Werbeanlagen zu verpflichten.
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Unter dem 14. Oktober 2020 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung zur „Errichtung von zwei einseitigen, beleuchteten Werbeanlagen freistehend“ auf dem Grundstück FlNr. 470/16 Gem. … parallel zum Verlauf der A. Straße. Zum Einsatz kommen sollen Plakat-Werbeträger des Modells „…“ mit einer Ansichtsfläche von 2,53 m (Höhe) x 3.56 m (Breite), geständert auf jeweils zwei Füße mit einer Höhe von ca. 1,23 m. Ein Bebauungsplan existiert in dem Bereich nicht. Im Flächennutzungsplan ist der Umgriff als Mischgebiet dargestellt.
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Mit Beschluss vom 16. November 2020 versagte die Beigeladene ihr Einvernehmen. Der Flächennutzungsplan stelle den Bereich westlich der A. Straße als Mischgebiet dar. Dieses gliedere sich bei näherer Betrachtung der örtlichen Verhältnisse jedoch in einen überwiegend gewerblich und in einen stärker durch Wohnnutzung geprägten Abschnitt. Die Werbeanlagen würden das Orts- und Straßenbild an dem vorgesehenen Aufstellungsort sehr nachteilig verändern und dem hier herrschenden, von Wohnnutzung geprägten Gebietscharakter widersprechen. Die in dem Bereich fremdkörperartig wirkenden, selbstständigen Werbeanlagen sollten zur Wahrung des herrschenden Eindrucks vermieden werden.
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Unter dem 2. Dezember 2020 nahm das Staatliche Bauamt … dahingehend Stellung, dass das Bauvorhaben sich innerhalb eines freizuhaltenden Sichtfeldes befinde, sodass dem Vorhaben aus Sicherheitsgründen nicht zugestimmt werden könne.
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Mit Schreiben vom 4. Juni 2021 erfolgte die Anhörung der Klägerin zur beabsichtigten Ablehnung des Bauantrags. Das Vorhabengrundstück sowie die angrenzenden Grundstücke im nordöstlichen Bereich seien ebenfalls mit Wohnhäusern bebaut. In diesem faktischen allgemeinen Wohngebiet sei die Werbeanlage auch nicht ausnahmsweise zulässig: zum einen befinde sich das Vorhaben innerhalb eines freizuhaltenden Sichtfeldes. Zum anderen dürften Werbeanlagen dort nicht angebracht werden, wo sie sich auf den Verkehr auswirken können, § 33 Abs. 2 Satz 1 StVO. Daher seien die Werbeanlagen als störend anzusehen, da von diesen Belästigungen bzw. Störungen des Straßenverkehrs ausgehen würden. Somit seien sie nach § 15 BauNVO unzulässig und könnten auch nicht ausnahmsweise nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO zugelassen werden.
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Hierzu nahm der Bevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom … Juli 2021 Stellung. Die für die Beurteilung des Gebietscharakters prägende nähere Umgebung sei aufgrund der südöstlich verlaufenden Bundesstraße und deren trennende Wirkung die Bebauung nordwestlich dieser. Maßgeblich seien insoweit die Hausnummern 19 bis 35. Hier befänden sich insgesamt vier Wohnhäuser, eine KfZ-Werkstatt, ein Werkzeuggeschäft, ein Möbelgeschäft, ein kleinerer Supermarkt und eine Drogerie-Filiale. Daher sei von einer qualitative und quantitativen Durchmischung von Wohnen und Gewerbe, mithin einem faktischen Mischgebiet, auszugehen, in dem Werbeanlagen regelzulässig seien. Bei Anlagen der Fremdwerbung handle es sich um sonstige Gewerbebetriebe, die in einem Mischgebiet gerade keine Fremdkörper darstellten. Aufgrund der unterschiedlichen Situierung der Gebäude, die teilweise straßennah heranrückten, teilweise aber auch abgerückt seien, sei eine Sichtfeldsituation nicht feststellbar. Auch die straßenrechtlichen Bedenken verfingen nicht. Die Werbeanlagen seien parallel zur Verkehrsfläche geplant und damit kaum auffällig.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 6. August 2021 lehnte der Beklagte die Erteilung der Baugenehmigung im Wesentlichen mit den im Anhörungsschreiben vorgetragenen Gründen ab. Ergänzt wurde, dass das Vorhabengrundstück Teil einer Wohnbebauung sei. Südlich des Grundstücks setze mit einer Lagerhalle einer Reifenhandlung Gewerbebebauung ein. Auf der gegenüberliegenden Seite befinde sich ebenfalls Wohnbebauung. Unter diesen Voraussetzungen würden die Werbeanlagen bodenrechtlich beachtliche und ausgleichsbedürftige Spannungen in den baulichen Umgriff hineintragen. Neben den Störwirkungen, die von der vorhandenen Gewerbebebauung ausgingen, würden die Bewohner der Wohngebäude dem Konsumappell der großflächigen Werbeanlagen ausgesetzt. Diese entfalteten zudem eine negative Vorbildwirkung. Zudem wirkten die Werbeanlagen verunstaltend, weil sie hier den Blick auf das Landschaftsbild verstellten. Zudem entstehe ein unharmonisches Erscheinungsbild dadurch, dass die Werbeanlagen die Höhe des Zaunes überragten, vor dem sie angebracht werden sollen. Schließlich komme es zu einer störenden Häufung mit der Eigenwerbung der Reifenhandlung.
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Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am … August 2021 Klage erhoben und beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Baugenehmigung zu erteilen.
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Zur Begründung nahm die Klägerin Bezug auf die Ausführungen im Verwaltungsverfahren und ergänzte, dass in dem hier doch erheblich gewerblich geprägten Bereich die Schwelle zu einer bauordnungsrechtlich relevanten Störung noch nicht überschritten sein dürfte. Eine verunstaltende Wirkung sei ebensowenig gegeben.
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Der Beklagte beantragt
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Klageabweisung.
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Naheliegend sei, die zeilenförmige Bebauung aus vier Wohnanwesen westlich der A. Straße dem Außenbereich zuzuordnen, sodass die Werbeanlagen, gemessen an § 35 BauGB, von vornherein unzulässig seien. Selbst wenn man von einer Lage im unbeplanten Innenbereich ausginge, sei das Vorhaben unzulässig. Angesichts der Großflächigkeit der angrenzenden Einzelhandelsmärkte könnten diese zusammen mit der angrenzenden kleinteiligen Wohnbebauung schon kein Mischgebiet bilden. Entweder liege eine Gemengelage vor, oder zwei bauplanungsrechtlich getrennt voneinander zu betrachtende Gebiete. In letzteren Fall, der Lage in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet, seien die großflächigen Werbeanlagen jedoch nicht zulässig. Zudem liege eine faktische Baugrenze vor. Bei einer Einstufung als Gemengelage oder Mischgebiet seien die Werbeanlagen nach § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO unzulässig im Hinblick auf die kleinteilige Wohnbebauung. Zudem liege, wie bereits im Bescheid ausgeführt, eine Verunstaltung vor. Schließlich sei zu beachten, dass der Standort sich in der Innenkurve einer langgezogenen Linkskurve befinde, wo das Vorhaben innerhalb der Sichtdreiecke die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs beeinträchtigten würde. Überdies stehe § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 sowie Abs. 2 Satz 1 StVO entgegen, welchen der Beklagten nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz BayBO in die Prüfung im vereinfachten Verfahren einbezogen habe.
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Die Beigeladene stellte keinen Antrag
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Am 9. November 2023 hat die Kammer Beweis erhoben durch Einnahme eines Ortsaugenscheins und in der Sache mündlich verhandelt. Die Beteiligten haben sich mit dem Übergang in das schriftliche Verfahren einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, § 101 Abs. 2 VwGO, hat in der Sache keinen Erfolg. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung, sodass der streitgegenständliche Ablehnungsbescheid vom 6. August 2021 rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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1. Das streitgegenständliche Vorhaben ist nicht genehmigungsfähig, weil die Anlagen der Fremdwerbung als gewerbliche Hauptnutzung (BVerwG, U.v. 3.12.1992 – 4 C 27/91 – NVwZ 1993, 983 ff. (984)) nach der Art der baulichen Nutzung in dem faktischen reinen Wohngebiet, § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 BauNVO, bauplanungsrechtlich unzulässig sind.
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Als im unbeplanten Innenbereich gelegenes Vorhaben sind die Werbeanlagen bauplanungsrechtlich zulässig, wenn sie sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen und die Erschließung gesichert ist, § 34 Abs. 1 BauGB. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete der Baunutzungsverordnung (BauNVO), beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre, § 34 Abs. 2 BauGB.
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Vorliegend entspricht die Eigenart der maßgeblichen näheren Umgebung (1.1) einem reinen Wohngebiet (1.2), in dem sich die streitgegenständliche gewerbliche Nutzung nach Art der Nutzung nicht einfügt.
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1.1 Die maßgebliche nähere Umgebung i.S.v. § 34 BauGB ist für jedes Merkmal des Einfügungsgebots gesondert zu bestimmen. Nach Sinn und Zweck des Einfügungsgebots kommt es auf die Umgebung zum einen insoweit an, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann, zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits das Baugrundstück prägt – also nicht nur auf die Bebauung in der unmittelbaren Nachbarschaft des Baugrundstücks selbst, sondern auch auf die Bebauung der weiteren Umgebung, soweit auch diese noch prägend auf das Baugrundstück wirkt (BVerwG, U.v. 26.5.1978 – 4 C 9.77 – juris Rn. 33). Der räumliche Umkreis lässt sich dabei nicht schematisch beurteilen, sondern es ist die gesamte tatsächliche städtebauliche Situation zu würdigen, in die das Baugrundstück eingebunden ist (BVerwG, B.v. 28.8.2003 – 4 B 74/93 – juris Rn. 2). Der Grenzverlauf ist dabei nicht davon abhängig, dass die unterschiedliche Bebauung durch eine künstliche oder natürliche Trennlinie entkoppelt ist; vielmehr kann er so beschaffen sein, dass die Grenze zwischen näherer und fernerer Umgebung dort zu ziehen ist, wo zwei jeweils einheitlich geprägte Bebauungskomplexe mit voneinander verschiedenen Bau- und Nutzungsstrukturen aneinanderstoßen (BVerwG, a.a.O.).
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Unter Anwendung dieser Maßstäbe stellt sich die Umgebung des Vorhabengrundstücks nach dem Ergebnis des Augenscheins so dar, dass als nähere, sich gegenseitig prägende Umgebung des Vorhabengrundstücks neben diesem selbst allein die nach Norden hin anschließenden Grundstücke FlNrn. 470/11, 470/12, 470/13 und 469 Gem. … anzusehen sind. Diese sind einheitlich und ausschließlich mit Wohnhäusern bebaut. Nach Südwesten hingegen schließt sich eine einheitlich gewerbliche Bebauung an: so ist FlNr. 470/10 mit einem (derzeit ungenutzten) gewerblichen Anwesen bebaut. Hieran schließt sich ein größerer gewerblicher Komplex mit einem Frischemarkt, einem Schraubenfachgeschäft, einem Bettenfachgeschäft und einer größeren Drogeriefiliale an, die zusammen auch aufgrund des teilweise gemeinsamen, jedenfalls einheitlich zur Straßenseite ausgerichteten Parkplatzbereichs wie ein homogenes „Einkaufszentrum“ wirken und sich damit deutlich von der angrenzenden Wohnbebauung abgrenzen. Der Einschätzung des Klägervertreters, dass die gewerbliche Prägung des Nachbargrundstücks FlNr. 470/10 sich in besonders starker Weise auf das Vorhabengrundstück auswirke, auch weil der benachbarte Gewerbebau ohne Einhaltung von Abstandsflächen zum Vorhabengrundstück verwirklicht worden sei und die Zufahrt über den an das Vorhabengrundstück angrenzenden, nördlichen Grundstücksbereich erfolge, teilt die Kammer nach dem Ergebnis des Augenscheins nicht. Vielmehr wirkt der Gewerbekomplex in sich einheitlich und sich gegenseitig prägend. Die nach Norden hin anschließende Bebauung, die ihrerseits einheitlich aus Wohnbauten besteht, wirkt demgegenüber abgetrennt, zumal das auf dem Vorhabengrundstück befindliche Wohnhaus um rund 14 m von der gemeinsamen Grundstücksgrenze entfernt und, im Gegensatz zum Gewerbebau auf FlNr. 470/10, erheblich von der Straße zurückversetzt ist (s. hierzu Fotos Nr. 4 und 5 der Fototafel zum Augenschein).
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Auch die südlich der A. Straße befindliche Wohnbebauung gehört nicht mehr zu der näheren Umgebung, die das Vorhabengrundstück prägt und von diesem geprägt ist. Insofern kommt der an diesem Bereich fast zehn Meter breiten, vielbefahrenen A.Straße, die etwa in Höhe des Vorhabengrundstücks zudem dreispurig verläuft, mit dem an sie anschließenden Grünstreifen und etwa vier Meter breitem Geh- und Radweg eine trennende Wirkung zu.
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1.2 Der so definierte nähere Umgriff des Vorhabengrundstücks mit seiner reinen Wohnbebauung entspricht nach der Art der baulichen Nutzung einem reinen Wohngebiet, § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 3 BauNVO. Dort ist das streitgegenständliche, gewerbliche Vorhaben nach der Art seiner Nutzung nicht zulässig und kann auch nicht ausnahmsweise zugelassen werden.
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2. Die Klage war daher mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich damit keinem Kostenrisiko ausgesetzt. Es entspricht daher der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. VwGO.