Titel:
Rechtsbehelf gegen die vollzogene Anordnung einer Löschung von Daten nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens
Normenketten:
StPO § 101 Abs. 8, § 147, § 162 Abs. 3, § 489
BDSG § 75
Leitsätze:
1. Ein Antrag auf richterliche Entscheidung gegen eine bereits vollzogene Anordnung der Staatsanwaltschaft ist nur dann statthaft, wenn wegen der erheblichen Folgen eines Eingriffs oder wegen einer Gefahr der Wiederholung ein nachwirkendes Bedürfnis für eine richterliche Überprüfung besteht. (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)
2. Rechtsgrundlage für die Löschung von Daten, die im Rahmen einer offenen Ermittlungsmaßnahme sichergestellt wurden, ist § 489 StPO. (Rn. 88 – 89) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Löschung von Daten ist zulässig, sofern die Verurteilung rechtskräftig und weder ein Wiederaufnahmeantrag gestellt ist noch aus Sicht der Staatsanwaltschaft, der hierbei ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen ist, konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein solcher zu erwarten steht. (Rn. 100) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Löschung von Daten, offene Ermittlungsmaßnahme, Wiederaufnahmeverfahren, Akteneinsicht, rechtskräftige Verurteilung
Rechtsmittelinstanzen:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 01.02.2024 – StB 65/23
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 05.03.2024 – StB 65/23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 46305
Tenor
1. Auf den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht wird ihm Einsicht in die folgenden Aktenbestandteile bewilligt:
a) aus den bei dem Oberlandesgericht München vorhandenen Zweitakten 9 St 7/17
- Antrag des Verurteilten vom 1. März 2019 auf Akteneinsicht
- Verfügung des Vorsitzenden des 9. Strafsenats vom 7. März 2019
- Beschwerde des Verurteilten vom 13. März 2019
- Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 2019 – StB 11/19
- Gehörsrüge des Verurteilten vom 4. November 2019
b) aus dem Sonderheft „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“ der Akten der Generalstaatsanwaltschaft München 51 OJs 20/16:
- (erneuter) Antrag des Verurteilten (auf Akteneinsicht) vom 1. Juli 2019 „egal in welcher Form“
- Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
- Antrag des Generalbundesanwalts vom 4. September 2019
- Stellungnahme des Verurteilten vom 30. September 2019
c) aus dem auf dem Staatsschutzserver des Oberlandesgerichts München noch vorhandenen digitalen Ordner mit den Akten des Hauptverfahrens 9 St 7/17:
- Datei-Ordner BR SoBA 2.2. mit den Audio-Dateien der Chat-Verläufe 348-7, 711 und 741.
2. Im Übrigen wird der Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht als unbegründet verworfen.
3. Die Kosten des Verfahrens werden jeweils zur Hälfte dem Verurteilten und der Staatskasse auferlegt. Diese hat die notwendigen Auslagen des Verurteilten zur Hälfte zu tragen.
Gründe
1
1. Der Verurteilte betreibt ein Wiederaufnahmeverfahren und hat zu dessen Vorbereitung Akteneinsicht beantragt, die ihm durch die Generalstaatsanwaltschaft München auch gewährt wurde. Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht rügt der Verurteilte, die ihm zur Einsicht überlassenen Akten seien unvollständig. Zum einen würden mehrere von ihm im Einzelnen aufgeführte Schriftstücke fehlen, zum anderen wären Tonaufnahmen und Chatprotokolle rechtswidrig durch die Generalstaatsanwaltschaft gelöscht worden.
2
a) Das Oberlandesgericht München hat den Verurteilten am 2. August 2018 – 9 St 7/17 –, rechtskräftig seit 8. August 2019, unter Freispruch im Übrigen wegen Werbens um Unterstützung für eine terroristische Vereinigung im Ausland in zwei Fällen, versuchter Anstiftung zu einem Verbrechen des Totschlags und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren 3 Monaten verurteilt. Der Verurteilte hat die Strafe bis 25. Mai 2022 vollständig verbüßt.
3
b) Dem Urteil lagen u.a. Übersetzungen aus dem Arabischen von Chatverläufen zugrunde, die überwiegend im Wege des Selbstleseverfahrens, teilweise auch durch Verlesung in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren. Die Chatverläufe waren im Rahmen der Auswertung des bei dem Verurteilten sichergestellten Mobiltelefons sowie des in der Wohnung des Verurteilten sichergestellten Laptops auf den dort installierten Plattformen WhatsApp und Skype bzw. Facebook gesichert worden. Insgesamt handelte es sich um 831 Chatverläufe mit über 180.000 Nachrichten, sowohl schriftliche Mitteilungen als auch Sprachnachrichten. Diese waren anhand einer Schlagwortsuche auf Relevanz gesichtet, und die relevanten Passagen übersetzt worden.
4
Die Übersetzung der als relevant erachteten Passagen war schon im Ermittlungsverfahren durch öffentlich bestellte und beeidigte Dolmetscher oder Übersetzer vorgenommen worden. Für eine Reihe weiterer als relevant erachteter Passagen waren im Hauptverfahren Kontrollübersetzungen durch öffentlich bestellte und beeidigte Dolmetscher und Übersetzer gefertigt worden.
5
Nachdem der Verurteilte sowohl in der Hauptverhandlung als auch im Revisionsverfahren mehrfach erfolglos beantragt hatte, Einsicht in die Audio-Dateien der Sprachnachrichten zu erhalten, stellte er vor Rechtskraft des Urteils zuletzt mit Schreiben an den Vorsitzenden des 9. Strafsenats vom 1. Juli 2019 einen Antrag auf Akteneinsicht „egal in welcher Form“, um selbst die angeblich falschen Übersetzungen von Sprachnachrichten aus dem Arabischen kontrollieren zu können (SH „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“, Bl. 6/7). Dieser Antrag wurde mit Verfügung des Vorsitzenden vom 8. Juli 2019 abgelehnt (SH „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“, Bl. 2/3). Mit seiner hiergegen gerichteten Beschwerde vom 11. Juli 2019 (SH „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“, Bl. 76/89) sowie seiner Stellungnahme auf den Antrag des Generalbundesanwalts vom 30. September 2019 (SH „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“, Anl. zu Bl. 76/89) führte der Verurteilte aus, weshalb er Einsicht in die Audiodateien der Sprachnachrichten benötige.
6
Nachdem die Revision des Verurteilten mit Beschluss vom 7. August 2019 – 3 StR 11/19 – als unbegründet verworfen worden war, hob der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 7. November 2019 – StB 24/19 auf die Beschwerde des Verurteilten die Verfügung des Vorsitzenden vom 8. Juli 2019 wegen dessen Unzuständigkeit auf und legte das Akteneinsichtsgesuch des Verurteilten vom 1. Juli 2019 der nunmehr zuständigen Generalstaatsanwaltschaft München vor. Dort ging das Sonderheft mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs am 18. Dezember 2019 ein.
7
Bereits am 11. November 2019 hatte die Generalstaatsanwaltschaft München aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Rechtskraft des Urteils die KPI (Z) … angewiesen, die vorhandenen Auswertedaten zu löschen (SA Bd. 9, Bl. 2125). Mit Löschungsbestätigung vom 12. November 2019 teilte die KPI (Z) … mit, dass u.a. die Auswertedaten inkl. der dazugehörigen Kommunikationsereignisse der „Handy-Auswertung B…“ am selben Tag vollständig gelöscht worden seien (SA Bd. 9, Bl. 2126).
8
Auf den neuerlichen Antrag des Verurteilten vom 14. April 2020 (SA Bd. 10, Bl. 2143) hin bewilligte ihm die Generalstaatsanwaltschaft München mit Verfügung vom 30. April 2020 (SA Bd. 10, Bl. 2142) umfassende Akteneinsicht und übersandte eine elektronische Zweitakte an die Justizvollzugsanstalt …, die dem Verurteilten dort am 13. Juli 2020 zur Verfügung gestellt wurde (SA Bd. 10, Bl. 2155).
9
Mit Schreiben an die Generalstaatsanwaltschaft München vom 3. August 2020 (SA Bd. 10, Bl. 2157) rügte der Verurteilte erstmals, dass die Akte nicht vollständig sei, weil die Voicemails fehlen würden, die er benötige, um die Übersetzungen der Chatverläufe überprüfen zu können.
10
Die Generalstaatsanwaltschaft München teilte dem Verurteilten mit Schreiben vom 5. August 2020 (SA Bd. 10, Bl. 2158) mit, er habe die gesamte Akte in elektronischer Form erhalten. Die Asservate seien bereits bereinigt worden, da das Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sei.
11
Mit E-Mail an die Justizvollzugsanstalt … vom 7. September 2020 (SA Bd. 10, Bl. 2162) erklärte die Generalstaatsanwaltschaft, bei ihr seien keine elektronischen Datenträger mit Voicemails vorhanden.
12
c) Erstmals mit Schreiben vom 20. Januar 2020 (SB 6 St 1/20, Bl. 2/5) hatte der Verurteilte einen Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung der Wiederaufnahme des durch Urteil des Oberlandesgerichts München vom 2. August 2018 – 9 St 7/17 – rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (sowie für die Stellung eines Antrags auf Aussetzung der Reststrafe und für eine beabsichtigte Verfassungsbeschwerde) gestellt, der hinsichtlich des Antrags nach § 364 b StPO mit Beschluss des 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts München vom 28. Januar 2020 – 6 St 1/20 – abgelehnt worden war (SB 6 St 1/20, Bl. 7/12).
13
Einen gleichgerichteten Antrag des Verurteilten vom 15. Juni 2021 (SB 6 St 3/21, Bl. 2/80) lehnte der Senat mit Beschluss vom 24. August 2021 – 6 St 3/21 – ebenfalls ab (SB 6 St 3/21, Bl. 167/191). Die hiergegen erhobene Gegenvorstellung des Verurteilten vom 13. September 2021 (SB 6 St 3/21, Bl. 234/300) wurde mit Beschluss vom 17. Januar 2022 als unbegründet verworfen (SB 6 St 3/21, Bl. 771/787).
14
d) Mit Schreiben an den Vorsitzenden des 6. Strafsenats vom 25. Januar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2348/2350), zuständigkeitshalber weitergeleitet an die Generalstaatsanwaltschaft München am 1. Februar 2022, monierte der Verurteilte, er hätte durch die Generalstaatsanwaltschaft München bislang noch keine vollständige Akteneinsicht zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags erhalten.
15
Insbesondere fehlten Voicemails und Chatverläufe. Zudem habe er in der ihm überlassenen Akte folgende Schriftstücke nicht gefunden, die er ebenfalls zur Verteidigung benötige:
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Antrag des Verurteilten vom 1. März 2019 auf Akteneinsicht
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Verfügung des Vorsitzenden des 9. Strafsenats vom 7. März 2019
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Beschwerde des Verurteilten vom 8. März [sic!] 2019
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Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 2019 – StB 11/19 -
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(erneuter) Antrag des Verurteilten (auf Akteneinsicht) vom 1. Juli 2019 „egal in welcher Form“
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Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
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Antrag des Generalbundesanwalts gegen die Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
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Stellungnahme des Verurteilten vom 30. September 2019 gegen den Antrag des Generalbundesanwalts
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Gehörsrüge des Verurteilten vom 4. November 2019
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Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2019.
16
Mit Schreiben vom selben Tag (SA Bd. 10, Bl. 2351/2352) erhob der Verurteilte auch gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft München die Rüge, dass sich die o.g. Aktenbestandteile (mit Ausnahme der beiden letztgenannten) nicht bei den Akten befänden, und beantragte, ihm sämtliche fehlenden Unterlagen zu übersenden bzw. mitzuteilen, dass diese nicht mehr vorhanden, ggf. ob und aus welchem Grund sie gelöscht worden seien.
17
Die Generalstaatsanwaltschaft München teilte dem Verurteilten mit Verfügung vom 4. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2353) mit, sämtliche Schriftstücke seien zu den Akten genommen worden. Das Schreiben wurde dem Verurteilten unter dem Datum vom 7. Februar 2022 übersandt.
18
Hierauf legte der Verurteilte mit Schreiben an den Vorsitzenden des 6. Strafsenats vom 14. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2357), eingegangen am 17. Februar 2022, „Beschwerde“ gegen die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 7. Februar 2022 ein, weil ihm die Einsicht in die von ihm mit Schreiben vom 25. Januar 2022 angeforderten Unterlagen verwehrt werde. Die Generalstaatsanwaltschaft habe nicht nur Voicemails und Chatverläufe, sondern auch die von ihm bezeichneten Schriftstücke gelöscht.
19
Das Schreiben wurde mit Verfügung des Vorsitzenden vom 18. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2362) als Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO, für den keine Zuständigkeit des 6. Strafsenats nach § 162 Abs. 3 Satz 4 StPO bestehe, weil bislang kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern lediglich auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens nach § 364 b StPO gestellt worden sei, an die Generalstaatsanwaltschaft München zur weiteren Veranlassung in eigener Zuständigkeit weitergeleitet.
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Mit weiterem Schreiben vom 21. Februar 2022 an den Vorsitzenden des 6. Strafsenats (SA Bd. 10, Bl. 2360) mahnte der Verurteilte die Verbescheidung seiner „Beschwerde“ vom 14. Februar 2022 gegen die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft München an und verwies auf einen von ihm gestellten Antrag nach § 364 b StPO vom 18. Februar 2022. Der Vorsitzende stellte mit Verfügung vom 24. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2359) fest, dass ein Antrag vom 18. Februar 2022 auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens, auf den der Verurteilte in seinem Schreiben vom 21. Februar 2022 Bezug nehme, bislang nicht vorliege, und leitete das Schreiben des Verurteilten an die Generalstaatsanwaltschaft München zur weiteren Veranlassung in eigener Zuständigkeit weiter.
21
Mit Schreiben an den Vorsitzenden vom 25. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2367), eingegangen am 2. März 2022, trug der Verurteilte erneut vor, dass seiner Auffassung nach der 6. Strafsenat für die Entscheidung über seinen Antrag vom 14. Februar 2022 zuständig sei
22
e) Am 23. Februar 2022, vorgelegt am 2. März 2022, ging der angekündigte Antrag des Verurteilten vom 18. Februar 2022, ihm Rechtsanwalt L… als Pflichtverteidiger für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens zu bestellen, bei dem Oberlandesgericht München ein (SA Bd. 10, Bl. 2370/2434). Mit Beschluss vom 4. April 2022 – 6 St 4/22 – lehnte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München den Antrag des Verurteilten auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung der Wiederaufnahme ab (SA Bd. 10, Bl. 2462/2485).
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f) Mit Verfügung vom 2. März 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2365/2366) teilte der Vorsitzende des 6. Strafsenats dem Verurteilten mit, auch durch den erneuten Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens vom 18. Februar 2022 sei keine Zuständigkeit des 6. Strafsenats nach § 147 Abs. 5 Satz 2, 162 Abs. 3 Satz 4 StPO für den Antrag vom 14. Februar 2022 auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht durch die Generalstaatsanwaltschaft München begründet worden.
24
Am 2. März 2022 verfügte die Generalstaatsanwaltschaft München, dem Verurteilten ergänzende Akteneinsicht in die Sachakten Bd. 9 und Bd. 10 zu gewähren (SA Bd. 10, Bl. 2363). Mit Verfügung vom 10. März 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2435) teilte die Generalstaatsanwaltschaft München dem 6. Strafsenat u.a. mit, dem (wiederholten) Antrag des Verurteilten auf Akteneinsicht sei mit Verfügung vom 2. März 2022, erledigt durch Absendung der elektronischen Akte an die Justizvollzugsanstalt … am 3. März 2022, nachgekommen worden.
25
Mit Schreiben an den Vorsitzenden des 6. Strafsenats vom 11. März 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2438/2456), dem eine Ablichtung seines Schreibens an die Generalstaatsanwaltschaft München vom selben Tag beigefügt war, rügte der Verurteilte, in der an ihn durch die Generalstaatsanwaltschaft München übersandten DVD seien folgende von ihm geforderten Unterlagen nach wie vor nicht vorhanden:
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Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 2019 – StB 11/19 – (in Ablichtung beigefügt, SA Bd. 10, Bl. 2441/2445)
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(erneuter) Antrag des Verurteilten vom 1. Juni [sic!] 2019 „egal in welcher Form“
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Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
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Antrag des Generalbundesanwalts gegen die Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
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Stellungnahme des Verurteilten vom 30. September 2019 gegen den Antrag des Generalbundesanwalts
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Gehörsrüge des Verurteilten vom 4. November 2019 (in Ablichtung beigefügt, SA Bd. 10, Bl. 2446/2452).
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Zudem hätten die Voicemails und Chatverläufe nach Rechtskraft nicht vernichtet werden dürfen, damit sie für ein Wiederaufnahmeverfahren zur Verfügung stünden.
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Das Schreiben des Verurteilten vom 11. März 2022 wurde mit Verfügung des Vorsitzenden vom 18. März 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2436/2437) an die Generalstaatsanwaltschaft München zur Vorlage an das zuständige Gericht bei Nichtabhilfe weitergeleitet.
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Mit Verfügung vom 23. März 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2457/2458) legte die Generalstaatsanwaltschaft München das Schreiben des Verurteilten vom 11. März 2022 der Ermittlungsrichterin des Oberlandesgericht München vor und beantragte, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung auf weitere Akteneinsicht als unbegründet zu verwerfen.
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Dem Antrag des Verurteilten auf Akteneinsicht sei die Generalstaatsanwaltschaft München (wie bereits wiederholt) mit Verfügung vom 2. März 2022, erledigt durch Absendung der elektronischen Akte an die Justizvollzugsanstalt … am 3. März 2022, nachgekommen. Nachdem der Verurteilte die Akte schon mehrfach zugeleitet bekommen hätte, sei „ergänzende Akteneinsicht“ gewährt worden. Damit sei dem als Beschwerde aufzufassenden Schreiben des Verurteilten vom 14. Februar 2022 abgeholfen worden. Mit weiterem Schreiben vom 11. März 2022 habe der Verurteilte nach Gewährung der Akteneinsicht gerügt, TKÜ- und Voicemail-Protokolle seien zu Unrecht gelöscht worden. Die Löschung sei gem. § 101 Abs. 8 Satz 1 StPO unverzüglich nach Rechtskraft erfolgt und dokumentiert durch Löschungsaufforderung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 11. November 2019 an die KPI (Z) … sowie Löschungsbestätigung durch diese vom 12. November 2019. Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung sei damit unbegründet.
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Mit Verfügung vom 6. April 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2460/2461) beantragte die Generalstaatsanwaltschaft München erneut unter Zuleitung der Akten an die Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Verurteilten B… vom 11. März 2022 als unbegründet zu verwerfen.
31
Der Verurteilte ersuchte die Generalstaatsanwaltschaft München mit Schreiben vom 11. April 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2490/2491) nochmals, ihm die in seinem Schreiben vom 11. März 2022 angeforderten Unterlagen zukommen zu lassen oder deren Löschung zu bestätigen, andernfalls seine Beschwerde dem zuständigen Senat beim Oberlandesgericht vorzulegen. Mit weiterem Schreiben an die Generalstaatsanwaltschaft München vom 20. April 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2492/2493) monierte der Verurteilte u.a. die Beantwortung seines Schreibens vom 11. April 2022.
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g) Mit Schreiben vom 19. April 2022 (SB 6 St 5/22, Bl. 2/109), bei dem Oberlandesgericht eingegangen am 25. April 2022, stellte der Verurteilte abermals einen Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung der Wiederaufnahme des durch Urteil des Oberlandesgerichts München vom 2. August 2018 – 9 St 7/17 – rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens, der mit Beschluss des 6. Strafsenats vom 21. Juni 2022 – 6 St 5/22 – abgelehnt wurde (SB 6 St 5/22, Bl. 128/133). Die hiergegen gerichtete Gegenvorstellung des Verurteilten vom 28. Juni 2022 (SB 6 St 5/22, Bl. 136/142) wurde mit Beschluss vom 21. Juli 2022 zurückgewiesen (SB 6 St 5/22, Bl. 146/150).
33
h) Die Generalstaatsanwaltschaft München hielt gegenüber der Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts München mit Verfügung vom 21. April 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2493/2494) an ihrem Antrag vom 23. März 2022 fest, den Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung vom 11. März 2022 als unbegründet zu verwerfen.
34
Die von dem Verurteilten zitierten Fundstellen seien nicht recherchierbar. Die Akte sei stets vollständig geführt worden. Ergänzend wurde auf die Verfügungen vom 15. Juli 2021 (SA Bd. 10, Bl. 2265/2267) und 4. Februar 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2353) verwiesen. Von dem gesamten Vorbringen des Verurteilten könne ausschließlich die Fragestellung nach der Rechtmäßigkeit der Löschung der TKÜ- und Voicemail-Protokolle nachvollzogen werden. Im Übrigen vermisse der Verurteilte ausschließlich eigene Schreiben.
35
Mit Beschluss vom 23. August 2022 – OGs 58/22 – verwarf die Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts München den Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Verurteilten Abdulhadi B… vom 11. März 2022 als unbegründet (SA Bd. 10, Bl. 2494/2497).
36
Die Unterlagen, in die der Verurteilte Einsicht begehre, befänden sich nicht bei den Akten. § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO gewähre aber nur einen Anspruch auf Einsicht in die dem Gericht vorliegenden Akten.
37
Die Löschung der Voicemails und Chatverläufe sei gem. § 101 Abs. 8 StPO zu Recht erfolgt, weil die Daten weder für eine gerichtliche Überprüfung der Maßnahme noch zur Strafverfolgung benötigt würden. Denn die Frist des § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO sei abgelaufen, und das Urteil in Rechtskraft erwachsen, ohne dass mit einer Wiederaufnahme des Verfahrens zu rechnen gewesen wäre.
38
Hiergegen hat der Verurteilte mit Schreiben vom 27. August 2022 (SA Bd. 10, Bl. 2499/2535) – eingegangen bei dem Oberlandesgericht München am 1. September 2022 – Beschwerde eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, er habe bis heute keine vollständige Akteneinsicht erhalten.
39
Der Beschwerde des Verurteilten wurde mit Beschluss des Ermittlungsrichters des Oberlandesgericht München vom 6. September 2022 nicht abgeholfen, weil sie gem. § 304 Abs. 5 StPO bereits nicht statthaft sei (SB 6 St 3/23, Bl. 1/4). Die Beschwerde wurde dem 7. Strafsenat des Oberlandesgerichts unter dem Az. 7 St 6/22 als zuständigem Beschwerdesenat vorgelegt (SB 6 St 3/23, Bl. 5).
40
Gegen die Nichtabhilfeentscheidung hat der Verurteilte mit Schreiben vom 14. September 2022 ebenfalls Beschwerde eingelegt (SB 6 St 3/23, Bl. 13/18).
41
i) Mit Schreiben vom 10. November 2022 (SB 6 St 10/22, Bl. 2/99) hat der Verurteilte über das Amtsgericht … einen Antrag auf Zulassung der Wiederaufnahme des durch Urteil des 9. Strafsenats des Oberlandesgericht München vorn 2. August 2018 – 9 St 7/17 – rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gestellt, der am 17. November 2022 bei dem Oberlandesgericht München eingegangen ist und unter dem Aktenzeichen 6 St 10/22 geführt wird.
42
Das Beschwerdeverfahren 7 St 6/22 ist daraufhin von dem 6. Strafsenat unter dem Aktenzeichen 6 St 3/23 übernommen worden (SB 6 St 3/23, Bl. 37).
43
Am 16. Februar 2023 hat der Verurteilte zu Protokoll der Rechtspflegerin des Amtsgerichts … nochmals die Wiederaufnahme beantragt und zugleich ein weiteres Mal Beschwerde gegen die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 7. Februar 2022 eingelegt mit dem Ziel, vollständige Akteneinsicht zu erhalten, insbesondere auch die Voicemails anhören zu können (SB 6 St 5/22, Bl. 125/129).
44
Über den Wiederaufnahmeantrag des Verurteilten ist bislang noch nicht entschieden.
45
Mit Schreiben vom 22. November 2022 hat der Verurteilte mitgeteilt, er wolle die Ausführungen in seinem Wiederaufnahmeantrag vom 10. November 2022 auf Seite 51 bis 59 als Beschwerdebegründung gegen die Versagung der Akteneinsicht behandelt wissen (SB 6 St 3/23, Bl. 20/23).
46
Unter Wiederholung seines früheren Vortrags hat er mit undatiertem Schreiben – eingegangen bei dem Oberlandesgericht München am 24. Februar 2023 – abermals Beschwerde gegen die Verfügung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 7. Februar 2022 eingelegt (SB 6 St 3/23, Bl. 25/36).
47
2. Zur Begründung seines Antrags auf gerichtliche Entscheidung bzw. seiner Beschwerde trägt der Verurteilte zusammengefasst im Wesentlichen vor:
48
a) Für die Entscheidung über seinen Antrag auf richterliche Entscheidung über die Versagung der Akteneinsicht sei nicht die Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts, sondern der 6. Strafsenat als Wiederaufnahmegericht zuständig.
49
b) Die durch die Generalstaatsanwaltschaft München am 19. Juni 2020 gewährte Akteneinsicht sei nicht vollständig gewesen, denn die Tonaufzeichnungen der Sprachnachrichten und die Chatprotokolle, deren schriftliche Übersetzungen im Rahmen des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführt worden wären, hätten gefehlt.
50
Trotz Kenntnis von dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. November 2019 – StB 24/19 –, in dem das Recht des Verurteilten auf eigene Akteneinsicht nach § 147 StPO zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens bestätigt worden sei, habe die Generalstaatsanwaltschaft München mit Verfügung vom 11. November 2019 die Löschung der Bänder und Chatprotokolle angeordnet. Schriftstücke und Ton-Aufzeichnungen, auf denen der Schuld- oder Strafausspruch beruhe, hätten auch nach Rechtskraft nicht vernichtet werden dürfen, damit sie ggf. für ein Wiederaufnahmeverfahren zur Verfügung stünden.
51
Der Verurteilte hätte die Generalstaatsanwaltschaft durch mehrere Schreiben im Jahr 2019 informiert, dass er beabsichtige, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen, sobald über seinen Antrag nach § 356 a StPO (vom 4. November 2019) abschließend entschieden worden sei. Dies sei aktenkundig. Nachdem er den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2019 erhalten hätte, habe er erstmals am 20. Januar 2020 einen Antrag gem. § 364 b StPO gestellt.
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Im Übrigen hätte die Generalstaatsanwaltschaft aufgrund seiner ständigen Rechtsbehelfe im Erkenntnis- und Revisionsverfahren von sich aus mit einem Wiederaufnahmeantrag rechnen müssen.
53
c) Zur Vorbereitung der Wiederaufnahme benötige er insbesondere Einsicht in die Voicemails, um die im Wege des Selbstleseverfahrens in die Hauptverhandlung eingeführten Übersetzungen der Chatprotokolle auf ihre Richtigkeit hin überprüfen zu können. Schon während der Hauptverhandlung hätte er die falschen Übersetzungen durch die Dolmetscherin gerügt und insoweit Akteneinsicht beantragt. Dennoch habe er nie Gelegenheit erhalten, die Voicemails anzuhören.
54
Durch die Löschung der Voicemails sei er deshalb in seinem Recht auf eine effektive Verteidigung im Wiederaufnahmeverfahren verletzt.
55
d) Zudem sei er als Betroffener nicht von der Löschung informiert worden. Andernfalls hätte er – wie immer – Rechtsmittel eingelegt. Gem. § 101 a Abs. 6 i.V.m. § 101 Abs. 4 Satz 2, Abs. 7 StPO umfasse die Benachrichtigungspflicht den Hinweis auf die Möglichkeit nachträglichen Rechtsschutzes gem. § 101 Abs. 7 StPO.
56
e) Schließlich würden in der Akte auch die von ihm aufgelisteten Schriftstücke fehlen, die er ebenfalls zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeantrags benötige.
57
Da sich laut Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft München vom 7. Februar 2022 ursprünglich alle Schreiben des Verurteilten bei der Akte befunden hätten, seien auch die von ihm bezeichneten fehlenden Anträge, Beschwerden und Stellungnahmen durch die Generalstaatsanwaltschaft gelöscht worden. Dies ergebe sich auch aus dem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft vom 21. April 2022, wonach die von dem Verurteilten zitierten Fundstellen nicht recherchierbar seien.
58
Ergänzend wird auf die o.g. Schreiben des Verurteilten Bezug genommen.
59
Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht hat in der Sache nur teilweise Erfolg.
60
1. Die – an sich nach § 304 Abs. 5 StPO unzulässige – Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Ermittlungsrichterin vom 23. August 2022 ist in einen neuen Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem 6. Strafsenat als dem gem. § 140 a Abs. 6 GVG i.V.m. der Geschäftsverteilung des Oberlandesgerichts München für das Jahr 2022 zuständigen Wiederaufnahmegericht umzudeuten.
61
Die Generalstaatsanwaltschaft München hat dem Antrag des Verurteilten auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht vom 14. Februar 2022 mit Verfügung vom 2. März 2022 durch ergänzende Akteneinsicht teilweise abgeholfen. Der hiergegen gerichtete (erneute) Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 11. März 2022 wurde der Ermittlungsrichterin des Oberlandesgerichts München gem. §§ 147 Abs. 5 Satz 2, 162 Abs. 3 Satz 3 StPO vorgelegt und von dieser mit Beschluss vom 23. August 2022 als unbegründet verworfen. Dagegen hat der Verurteilte mit Schreiben vom 27. September 2022 Beschwerde eingelegt.
62
a) Soweit der Verurteilte rügt, die ihm zur Einsicht überlassenen Akten seien unvollständig, ist mit Stellung des Wiederaufnahmeantrags vom 10. November 2022 durch den Verurteilten der 6. Strafsenat als Wiederaufnahmegericht gem. §§ 147 Abs. 5 Satz 2, 162 Abs. 3 Satz 4 StPO für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht zuständig geworden. Die noch nicht erledigte Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Ermittlungsrichterin vom 23. August 2022 ist in einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem nunmehr zuständigen Wiederaufnahmegericht umzudeuten. Denn in § 162 Abs. 3 Satz 4 StPO wird – ebenso wie für die Erhebung der öffentlichen Klage in § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO – der Grundsatz festgelegt, dass die Stellung eines Wiederaufnahmeantrags einen Verfahrenseinschnitt bildet, mit dem die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters endet und auf das für Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht übergeht. Eine noch nicht erledigte Beschwerde gegen einen Beschluss des Ermittlungsrichters wird deshalb nach Stellung eines Wiederaufnahmeantrags regelmäßig umzudeuten sein in einen neuen Antrag auf gerichtliche Entscheidung und ist als solche dem Wiederaufnahmegericht vorzulegen (vgl. für den Zuständigkeitswechsel nach Erhebung der öffentlichen Klage BGH, Beschluss vom 12. November 2020 – StB 34/20 –, BGHR StPO § 142 Abs. 3 Zuständigkeit 1).
63
b) Die gleichen Erwägungen gelten, soweit der Verurteilte rügt, Tonaufnahmen und Chatprotokolle seien zu Unrecht gelöscht worden.
64
Auch wenn der Verurteilte insoweit ebenfalls Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Versagung der Akteneinsicht gem. § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO gestellt hat, handelt es sich in der Sache um einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Löschungsanordnung der Generalstaatsanwaltschaft München.
65
Diese hat mit Verfügung vom 11. November 2019 die KPI (Z) … angewiesen, die vorhandenen Auswertedaten zu löschen. Mit Schreiben der KPI (Z) … vom 12. November 2019 wurde bestätigt, dass u.a. die Auswertedaten inkl. der dazugehörigen Kommunikationsereignisse der „Handy-Auswertung B…“ vollständig gelöscht worden seien.
66
(1) Als Rechtsgrundlage für die Löschung kommt entgegen der mit Verfügung vom 23. März 2022 geäußerten Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft München nicht § 101 Abs. 8 StPO in Betracht. Denn diese Vorschrift bezieht sich gem. § 101 Abs. 1 StPO ausschließlich auf personenbezogene Daten, die aufgrund von Maßnahmen nach den §§ 98 a, 99, 100 a – 100 f, 100 h, 100 i, 110 a, 163 d bis 163 g StPO erlangt wurden. Auch eine entsprechende Anwendung scheidet aus. Denn § 101 Abs. 1 StPO betrifft ausschließlich heimliche Ermittlungsmaßnahmen, die abschließend aufgeführt werden (BGH, Beschluss vom 4. August 2015 – 3 StR 162/15 –, juris; BGH, Beschluss vom 26. Januar 2017 – StB 26 und 28/14 –, BGHSt 62, 22-36).
67
Hingegen handelte es sich bei der Sicherstellung und Auswertung des Mobiltelefons und des Laptops des Verurteilten um offene Ermittlungsmaßnahmen. Denn das iPhone 4 wurde bei dem Verurteilten anlässlich seiner vorläufigen Festnahme (SA Bd. I, Bl. 72/73), das MacBook Air bei der Durchsuchung seiner Wohnung (SA Bd. I, Bl. 120) jeweils am 25. September 2016 sichergestellt, beide Geräte anschließend durch die KPI (Z) … ausgewertet.
68
Die durch die Auswertung gewonnenen Daten unterliegen deshalb den allgemeinen Vorschriften der §§ 483 ff. StPO i.d.F. vom 05.07.2017. Zum Zeitpunkt der Löschungsanordnung am 11. November 2019 richtete sich die Rechtmäßigkeit der Löschung von Daten nach § 489 StPO i.d.F. vom 05.07.2017 bzw. § 75 Abs. 2 BDSG.
69
(2) Nach allgemeiner Auffassung ist für die Ablehnung eines Antrags auf Löschung der Daten der Rechtsweg nach § 23 EGGVG eröffnet (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 2. April 2006 – 2 BvR 237/06 –, juris; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 489 Rn. 9; KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 489 Rn. 7 jeweils m.w.N.). Dies könnte dafür sprechen, dass auch die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Anordnung der Löschung nach §§ 23 ff. EGGVG zu erfolgen hat. Hierfür wäre nach § 25 Abs. 2 EGGVG i.V.m. Art. 12 Nr. 3 AGGVG nicht das Oberlandesgericht München, sondern das Bayerische Oberste Landesgericht zuständig.
70
Doch handelt es sich vorliegend um den Rechtsbehelf eines Verfahrensbeteiligten während eines laufenden (Wiederaufnahme-)Verfahrens gegen eine Maßnahme der Staatsanwaltschaft, die sich unmittelbar auf sein Akteneinsichtsrecht auswirkt. Schon aufgrund der größeren Sachnähe des nach § 162 Abs. 3 Satz 4 StPO zuständigen Gerichts liegt eine entsprechende Anwendung entweder des § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO oder – wie bei Rechtsbehelfen gegen die unberechtigte Löschung von Daten durch die Staatsanwaltschaft nach § 101 Abs. 8 StPO vertreten (Rückert in MüKoStPO, 2. Aufl. 2023, StPO § 101 Rn. 129) – des § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO nahe. In der Literatur wird auch eine entsprechende Anwendung von § 161 a StPO erwogen (Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 489 Rn. 16). Die §§ 147 Abs. 5 Satz 2, 98 Abs. 2 Satz 3, 161 a Abs. 3 Satz 1 StPO verweisen jeweils auf § 162 Abs. 3 Satz 4 StPO.
71
Allerdings sind der Strafprozessordnung grundsätzlich Entscheidungen fremd, die sich in der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Verfahrensmaßnahme, deren Vollzug erledigt ist, erschöpfen. Nur ausnahmsweise kann im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG ein Antrag auf richterliche Entscheidung gegen eine bereits vollzogene Anordnung der Staatsanwaltschaft statthaft sein, aber immer nur dann, wenn wegen der erheblichen Folgen eines Eingriffs oder wegen einer Gefahr der Wiederholung ein nachwirkendes Bedürfnis für eine richterliche Überprüfung besteht (BGH, Beschluss vom 13. Juni 1978 – StB 51/78 –, BGHSt 28, 57-61).
72
Ob diese Zulässigkeitsvoraussetzung hier tatsächlich vorliegt, kann aber letztlich dahinstehen. Denn auf jeden Fall ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, soweit die Feststellung erstrebt wird, die von der Generalstaatsanwaltschaft angeordnete Löschung sei rechtswidrig gewesen, nicht begründet (siehe hierzu unten II. 3. b]).
73
2. Der Antrag des Verurteilten ist teilweise begründet.
74
Grundsätzlich steht dem Verurteilten gem. § 147 Abs. 1, 4 StPO auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Recht auf Akteneinsicht zur Vorbereitung seines Wiederaufnahmeantrags zu (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 66. Aufl., § 147 Rn. 11). Dabei gilt der Grundsatz der Aktenvollständigkeit und -wahrheit, d.h. es ist Einsicht in alle Aktenbestandteile zu gewähren, die auch dem Gericht vorzulegen sind (Schmitt a.a.O., Rn. 14, 15).
75
a) Im Laufe des gerichtlichen Verfahrens hat sich herausgestellt, dass sämtliche vom Verurteilten als fehlend gerügten Anträge, Beschwerden, Stellungnahmen, Verfügungen und Beschlüsse zumindest in Ablichtung noch vorhanden sind. Dem Verurteilten war deshalb auf seinen Antrag hin Einsicht in die betreffenden Schriftstücke zu gewähren.
76
(1) In den bei dem Oberlandesgericht München noch vorhandenen Zweitakten 9 St 7/17 befinden sich Ablichtungen folgender Schriftstücke, deren Fehlen in den ihm überlassenen Akten von dem Verurteilten gerügt wurde:
- -
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Antrag des Verurteilten vom 1. März 2019 auf Akteneinsicht
- -
-
Verfügung des Vorsitzenden des 9. Strafsenats vom 7. März 2019
- -
-
Beschwerde des Verurteilten vom 13. März 2019
- -
-
Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 2019 – StB 11/19 -
- -
-
Gehörsrüge des Verurteilten vom 4. November 2019.
77
(2) Weiterhin ist bei den Akten der Generalstaatsanwaltschaft München 51 OJs 20/16 das Sonderheft „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“ mit folgenden vom Verurteilten angeforderten Schriftstücken aufgefunden worden:
- -
-
(erneuter) Antrag des Verurteilten (auf Akteneinsicht) vom 1. Juli 2019 „egal in welcher Form“
- -
-
Beschwerde des Verurteilten vom 11. Juli 2019
- -
-
Antrag des Generalbundesanwalts vom 4. September 2019
- -
-
Stellungnahme des Verurteilten vom 30. September 2019.
78
Den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2019 – 3 StR 11/19 – (SA Bd. IX, Bl. 2131/2132), dessen Fehlen der Verurteilte ursprünglich ebenfalls gerügt hatte, hat er bereits im Wege der mit Verfügung vom 2. März 2022 bewilligten ergänzenden Akteneinsicht durch die Generalstaatsanwaltschaft München erhalten.
79
b) Gelöscht wurden auf Anordnung der Generalstaatsanwaltschaft München vom 11. November 2019 lediglich die bei der KPI (Z) … vorhandenen Auswertedaten, nicht jedoch die zu den Akten des Hauptverfahrens vor dem 9. Strafsenat 9 St 7/17 genommenen Chatverläufe. Diese sind vielmehr noch vollständig in folgenden Aktenbänden erhalten:
- -
-
SA Band 4, Bl. 956-989, Korrekturblätter der Übersetzung des Chatverlaufs 831
- -
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SA Band 8, Übersetzung des Chats vom 27.04.2016 bis einschließlich 24.09.2016 (Chatverlauf 711)
- -
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Sonderband 2.2, Datenauswertung Mobiltelefon iPhone 4, Mobitel, Nokia, USB-Stick dig. Bilderrahmen
- -
-
Sonderbände 2.2.1-2.2.14, Datenauswertung Mobiltelefon iPhone 4, Chatauswertungen I-XIV (Extraktionsberichte mit Originalchats in arabischer Sprache sowie deutsche Übersetzungen).
80
Insoweit hat der Verurteilte auf seinen Antrag hin bereits vollständige Akteneinsicht durch die Generalstaatsanwaltschaft München erhalten.
81
c) Weiterhin enthält ein auf dem Staatsschutzserver des Oberlandesgerichts München noch vorhandener Ordner mit den digitalen Akten des Hauptverfahrens 9 St 7/17 auch einen Datei-Ordner BR SoBA 2.2 mit den Audiodateien der Chatverläufe 348-7, 711 und 741.
82
Nachdem zwischenzeitlich ein Wiederaufnahmeantrag gestellt worden ist, ist nicht auszuschließen, dass die aufgezeichneten Sprachnachrichten noch als Beweismittel für das Strafverfahren von Bedeutung sein können. Eine Löschung zum jetzigen Zeitpunkt kommt deshalb nicht mehr in Frage (vgl. hierzu unten II. 3. b) [4]). Vielmehr ist dem Verurteilten auf seinen Antrag hin auch insoweit Einsicht zu gewähren. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat hierzu ihr Einverständnis erklärt.
83
Damit erhält der Verurteilte auf seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung hin Einsicht in alle von ihm als fehlend gerügten Aktenbestandteile sowie in die noch vorhandenen Audiodateien.
84
3. Im Übrigen hat sich der Antrag des Verurteilten als unbegründet erwiesen.
85
a) Dem Antrag auf Einsicht in die gelöschten Tonaufnahmen war der Erfolg in der Sache zu versagen.
86
Diese sind ausweislich der Mitteilung der KPI (Z) … vom 12. November 2019 vernichtet worden. Eine Herausgabe an den Verurteilten ist damit unmöglich, und der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, soweit er sich gegen die Versagung der Akteneinsicht durch die Generalstaatsanwaltschaft wendet, unbegründet. Denn die Generalstaatsanwaltschaft München hat dem Verurteilten insoweit die Akteneinsicht nicht versagt. Diese kann sich nur auf die tatsächlich bei den Akten befindlichen oder zumindest bei Staatsanwaltschaft oder Polizei noch vorhandenen Bestandteile beziehen. § 147 StPO gibt dem Verurteilten keinen Anspruch auf Einsicht in Aktenbestandteile oder Beweismittel, die – aus welchem Grund auch immer – bereits vernichtet sind und weder der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht vorliegen.
87
b) Allerdings begehrt der Verurteilte in der Sache die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Löschung. Sein Rechtsbehelf gegen die Versagung der Akteneinsicht ist entsprechend umzudeuten. Dieser Antrag ist jedoch ebenfalls unbegründet, weil die rechtlichen Voraussetzungen für eine Löschung vorlagen.
88
Zwar kommt – wie oben (II. 1. b) [1]) ausgeführt – § 101 Abs. 8 Satz 1 StPO, wonach die Daten unverzüglich zu löschen sind, sobald sie weder zur Strafverfolgung noch für eine etwaige gerichtliche Überprüfung der Maßnahme erforderlich sind, als Rechtsgrundlage für die Löschungsanordnung nicht in Betracht. Vielmehr unterliegen die durch die Auswertung des Mobiltelefons und des Laptops des Verurteilten gesicherten Daten den allgemeinen Regeln über die Datenverarbeitung in Strafverfahren nach §§ 483 ff. StPO bzw. nach § 75 Abs. 2 BDSG.
89
(1) Die Rechtmäßigkeit der Löschungsanordnung vom 11. November 2019 ist an den Vorschriften des § 489 StPO i.d.F. vom 05.07.2017 und des unmittelbar anwendbaren § 75 Abs. 2 BDSG (so jetzt ausdrücklich § 489 Abs. 1 StPO i.d.F. vom 20.11.2019; vgl. auch BT-Drs. 19/4671, 69) zu messen.
90
Nach der Regelung des § 489 Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. StPO i.d.F. vom 05.07.2017 sind Daten zu löschen, wenn sich aus Anlass einer Einzelfallbearbeitung ergibt, dass die Kenntnis der Daten für die in § 483 StPO bezeichneten Zwecke nicht mehr erforderlich ist. Nach § 483 Abs. 1 Satz 1 StPO ist die Speicherung von Daten zulässig, soweit dies für Zwecke des Strafverfahrens erforderlich ist.
91
Dies entspricht der Regelung des § 75 Abs. 2 BDSG, wonach der Verantwortliche personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen hat, wenn ihre Kenntnis für seine Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich ist. Diese Verpflichtung besteht unabhängig davon, ob ein Betroffener sein Recht auf Löschung geltend gemacht hat (Kamlah in Plath, DSGVO/BDSG/TTDSG, 4. Aufl. 2023, § 75 BDSG Rn. 1).
92
Nach der gesetzlichen Regelung sind damit grundsätzlich alle personenbezogenen Daten von Amts wegen zu löschen, wenn ihre Speicherung für die Zwecke des Strafverfahrens nicht mehr erforderlich ist.
93
Im Gegensatz zu den Ausnahmeregelungen der §§ 81 a Abs. 3, 2. Halbsatz, 101 Abs. 8 StPO muss die Akte allerdings nicht stetig auf mittlerweile „überflüssige“ Informationen hin durchsucht werden, um diese selektiv zu löschen (Spatscheck/Dovas/Feldle, NStZ 2022, 705, 708). Doch mit Beendigung eines Verfahrensabschnitts – wie nach Rechtskraft des Urteils – begründen § 489 Abs. 1 Satz 1, 2. Alt. StPO i.d.F. vom 05.07.2017 und § 75 Abs. 2 BDSG für die Staatsanwaltschaft eine Verpflichtung zu überprüfen, ob die gespeicherten Daten für die Zwecke des Strafverfahrens weiterhin erforderlich sind. Dies muss jedenfalls für die hier in Rede stehenden, durch die Auswertung des Mobiltelefons und des Laptops gewonnenen Sprachnachrichten gelten.
94
Denn auch die im Herrschaftsbereich eines Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Verbindungsdaten sind durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG) besonders geschützt. Für die Sicherstellung und Beschlagnahme von Datenträgern und den hierauf gespeicherten Daten gilt die Vorgabe, dass alle Maßnahmen streng auf den Ermittlungszweck zu begrenzen sind. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung muss dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich um Daten handelt, die außerhalb der Sphäre des Betroffenen unter dem besonderen Schutz des Fernmeldegeheimnisses stehen, und denen im Herrschaftsbereich des Betroffenen ein ergänzender Schutz durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zuteilwird (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 2. März 2006 – 2 BvR 2099/04 –, BVerfGE 115, 166-204).
95
Der Grundrechtsschutz ist darüber hinaus durch eine angemessene Verfahrensgestaltung zu bewirken. Als verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen sind insbesondere auch Löschungspflichten anerkannt. Der begrenzte Zweck der Datenerhebung gebietet jedenfalls grundsätzlich die Löschung aller nicht zur Zweckerreichung erforderlichen kopierten Daten. Die Regelungen über die Datenlöschung dienen der Gewährleistung der datenschutzrechtlichen Positionen der von einer strafprozessualen Datenerhebung Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. April 2005 – 2 BvR 1027/02 –, BVerfGE 113, 29-63).
96
Mit der Beendigung des Strafverfahrens durch Einstellung, Freispruch oder Verurteilung ist der Zweck der erhobenen personenbezogenen Daten grundsätzlich erreicht. Zwar ist die Löschung der gesammelten Informationen mit Abschluss des Verfahrens kein Automatismus. Ab diesem Zeitpunkt ist jedoch eine Fortdauer der Aufbewahrung nur noch in engen Grenzen möglich. Die Notwendigkeit der Speicherung der Daten über den Zeitpunkt des rechtskräftigen Endes des Strafverfahrens hinaus muss sich deshalb aus den konkreten Umständen des Einzelfalls ergeben (vgl. Spatscheck/Dovas/Feldle a.a.O.). Dies gilt aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben in besonderem Maße für die im Herrschaftsbereich eines Kommunikationsteilnehmers gespeicherten Verbindungsdaten.
97
Die Audiodateien mit den Sprachnachrichten durften deshalb nach Rechtskraft des Urteils nicht ohne weiteres bis zum Ende der Vollstreckung oder dem Straferlass aufbewahrt werden. Vielmehr traf die Generalstaatsanwaltschaft München eine Verpflichtung zur Prüfung, ob die Speicherung für die Zwecke des Strafverfahrens weiterhin erforderlich war. Andernfalls waren die Audiodateien gem. § 75 Abs. 2 BDSG unverzüglich zu löschen.
98
(2) Allgemein gilt, dass Erkenntnisse für das Strafverfahren dann nicht mehr erforderlich sind, wenn feststeht, dass ihnen keine Beweisbedeutung mehr zukommt. Bestehen hingegen noch Zweifel, muss die Löschung bzw. Vernichtung der Daten unterbleiben (vgl. zu § 101 Abs. 8 StPO Hilger, NStZ 1997, 371, 373; Bär in KMR-Kommentar StPO, 87. EL September 2018, § 101 Rn. 38; Rückert in MüKoStPO, 2. Aufl. 2023, StPO § 101 Rn. 117; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 101 Rn. 27). Die Regelungen über die Datenvernichtung dürfen nämlich nicht dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG zuwiderlaufen und dazu führen, dass durch die Löschung der Daten ein effektiver Rechtsschutz erschwert, wenn nicht gar vereitelt wird (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1999 – 1 BvR 2226/94 –, BVerfGE 100, 313-403).
99
Für den Fall der rechtskräftigen Verurteilung eines Angeklagten wird die Auffassung vertreten, für eine Wiederaufnahme bedeutsame Erkenntnisse seien so lange aufzubewahren, bis die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeantrages mit hoher Wahrscheinlichkeit auszuschließen ist (Hilger a.a.O.). Material, das für die Hauptverhandlung aufbewahrt werden müsse, werde auch nach Urteilsrechtskraft nicht vernichtet, damit es ggf. für ein Wiederaufnahmeverfahren zur Verfügung stehe (Köhler a.a.O.).
100
Nach Auffassung des Senats ist jedoch eine Löschung von Daten zulässig, sofern die Verurteilung rechtskräftig ist, und weder ein Wiederaufnahmeantrag gestellt ist noch aus Sicht der Staatsanwaltschaft, der hierbei ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen ist, konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein solcher zu erwarten steht.
101
Denn eine rechtskräftige Verurteilung trägt jedenfalls die Vermutung in sich, dass den Daten keine Beweisbedeutung mehr zukommt. Die §§ 359 ff. StPO lassen lediglich in engen Grenzen die Durchbrechung der Rechtskraft von Strafurteilen zu (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, Vorbem. zu § 359 Rn. 1). Es wäre verfehlt, allein schon die theoretische Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens genügen zu lassen, die Daten nahezu unbegrenzt aufzubewahren. Grundsätzlich kann nämlich in keinem rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren mit der geforderten hohen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass ein Wiederaufnahmeantrag gestellt wird. Selbst ein in der Hauptverhandlung abgelegtes voll umfängliches Geständnis kann widerrufen, und hierauf ein Wiederaufnahmeantrag gestützt werden.
102
Ein Zuwarten mit der Löschung nach rechtskräftiger Verurteilung bis zu einem unbestimmten Zeitpunkt, an dem mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit einem Wiederaufnahmeantrag zu rechnen ist, würde zudem dem in § 75 Abs. 2 BDSG enthaltenen Gebot zur unverzüglichen Löschung widersprechen. „Unverzüglich“ bedeutet „so bald wie möglich“, ohne eine nicht durch die Sachlage begründete Verzögerung (Schmitt a.a.O., § 25 Rn. 8).
103
(3) Nach diesen Grundsätzen bestand für die Generalstaatsanwaltschaft München zum Zeitpunkt der Löschungsanordnung keine Verpflichtung, die gespeicherten Sprachnachrichten über den Zeitpunkt der Rechtskraft des Urteils hinaus aufzubewahren und nicht zu löschen.
104
Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei den gelöschten Sprachnachrichten nicht um Beweismittel handelte, auf denen der Schuld- oder Strafausspruch des Urteils beruhte. Diesem lagen nämlich ausschließlich die Übersetzungen der Chatverläufe aus dem Arabischen zugrunde, die durch Verlesung, überwiegend im Wege des Selbstleseverfahrens, in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren.
105
Das gegen den Verurteilten ergangene Urteil ist am 8. August 2019 in Rechtskraft erwachsen. Die Löschungsanordnung der Generalstaatsanwaltschaft München erging am 11. November 2019. Zu diesem Zeitpunkt lag weder ein Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder ein Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für die Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens vor, noch gab es für die Generalstaatsanwaltschaft sonstige konkrete Anhaltspunkte, die Anlass geboten hätten, mit einem Wiederaufnahmeverfahren zu rechnen.
106
Der Verurteilte hat erstmals am 20. Januar 2020 einen Antrag nach § 364 b StPO gestellt. Entgegen seinem Vortrag enthält der Aktenbestand keine Anhaltspunkte dafür, dass er schon zum Zeitpunkt der Löschung beabsichtigte, einen Wiederaufnahmeantrag zu stellen.
107
Der Verurteilte äußert sich nicht dazu, an welcher Stelle konkret eine solche Ankündigung erfolgt sein soll. In keinem seiner zahlreichen in der Akte befindlichen Schreiben nach Verkündung des Urteils vom 2. August 2018 ist von einem beabsichtigten Wiederaufnahmeantrag die Rede. Vielmehr beziehen sich sämtliche Anträge und Beschwerden ausschließlich auf das laufende Revisionsverfahren.
108
Der Antrag vom 1. März 2019 auf Einsicht in die vollständige Akte, insbesondere auch die Tonaufnahmen, ebenso wie die Beschwerde vom 13. März 2019 gegen die ablehnende Verfügung des Vorsitzenden vom 7. März 2019, waren ausschließlich darauf gerichtet, im Revisionsverfahren die Unrichtigkeit der Übersetzung der Tonaufnahmen rügen zu können.
109
Auch in seinem Antrag auf Akteneinsicht vom 1. Juli 2019 trug der Verurteilte vor, er benötige die Akte (Voicemails, Chatnachrichten u.a.) „egal in welcher Form“ für eine effektive Verteidigung und zur Kontrolle falscher Übersetzungen. In seiner Beschwerde vom 11. Juli 2019 gegen die ablehnende Verfügung des Vorsitzenden vom 8. Juli 2019 kündigte der Verurteilte ebenfalls keinen Wiederaufnahmeantrag an, sondern begründete die Beschwerde im Wesentlichen damit, dass er die Akteneinsicht für eine effektive Verteidigung benötige. Im erstinstanzlichen Verfahren seien Sprach- und Textnachrichten fehlerhaft übersetzt, und sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.
110
Auch nach Rechtskraft des Urteils am 8. August 2019 betrafen die Schreiben des Verurteilten immer nur die Verletzung des rechtlichen Gehörs im Revisionsverfahren. Entgegen seinem Vortrag ist in den Anhörungsrügen nach § 356 a StPO vom 28. August und 2. September 2019 gegen den die Revision verwerfenden Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. August 2019 nicht davon die Rede, er beabsichtige einen Antrag auf Wiederaufnahme zu stellen, sobald über seine Anträge nach § 356 a StPO entschieden worden sei.
111
In seiner ausführlichen Erwiderung vom 30. September 2019 auf die Stellungnahme des Generalbundesanwalts im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesgerichtshof StB 24/19 legt er die Gründe dar, warum ihm ein eigenes Akteneinsichtsrecht im Revisionsverfahren zustehe, geht jedoch nicht darauf ein, dass die Akteneinsicht (auch) zur Vorbereitung einer beabsichtigten Wiederaufnahme diene.
112
Gleiches gilt für seine erneute Anhörungsrüge vom 4. November 2019 gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. September 2019, mit dem die ursprünglichen Anhörungsrügen als unzulässig verworfen wurden, sowie sein Schreiben an den 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs vom 7. November 2019. Auch nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27. November 2019, mit dem die Anhörungsrüge vom 4. November als unzulässig verworfen wurde, hat der Verurteilte mehr als sieben Wochen bis zum 20. Januar 2020 verstreichen lassen, um erstmals einen Antrag nach § 364 b StPO zu stellen.
113
Schließlich existiert auch kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass allein aufgrund konfrontativen Verhaltens im Erkenntnis- und Revisionsverfahren mit einem Wiederaufnahmeantrag zu rechnen sei. Jedenfalls stellt das prozessuale Verhalten eines Angeklagten kein taugliches Abgrenzungskriterium für die Frage der Erforderlichkeit der Aufbewahrung von an sich zu löschenden Daten dar.
114
(4) Der Löschung der Daten stand auch nicht der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. November 2019 entgegen.
115
Wie sich aus dem Sonderheft „Beschwerde Ablehnung Akteneinsicht“ ergibt, ging der Beschluss des Bundesgerichtshofs erst am 18. Dezember 2019 – und damit nach der Anordnung und dem Vollzug der Löschung der Sprachnachrichten am 11. bzw. 12. November 2019 – bei der Generalstaatsanwaltschaft München ein. Diese konnte daher den Inhalt der Entscheidung bei ihrer Löschungsanordnung gar nicht berücksichtigen.
116
Im Übrigen hat der 3. Strafsenat nicht entschieden, dass dem Verurteilten Akteneinsicht zu gewähren ist, sondern lediglich festgestellt, dass auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens grundsätzlich ein Recht auf Akteneinsicht nach § 147 StPO bestehen kann. Akteneinsicht sei aber dann zu versagen, wenn sie nicht mehr den Zweck habe, der Verteidigung des Antragstellers zu dienen. Die Zuständigkeit für die Entscheidung hierüber liege nach Rechtskraft der Verurteilung bei der Generalstaatsanwaltschaft München.
117
Nachdem der Verurteilte bis dahin nicht dargelegt hatte, dass er zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens Akteneinsicht benötige, ist auch nicht ersichtlich, inwieweit diese seiner Verteidigung hätte dienen sollen.
118
(5) Ein Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht des § 101 Abs. 4 StPO kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil § 101 Abs. 8 StPO als Rechtsgrundlage für die Löschung ausscheidet. Außerdem gilt die Benachrichtigungspflicht nur für die in § 101 Abs. 1 StPO genannten Maßnahmen, nicht aber für die Löschung der Daten nach § 101 Abs. 8 StPO. Mit dem Rechtsbehelf des § 101 Abs. 7 Satz 2 StPO kann nicht die Rechtmäßigkeit der Löschung der Daten, sondern ausschließlich die Rechtmäßigkeit der in § 101 Abs. 1 StPO bezeichneten Maßnahmen überprüft werden.
119
(6) Der Umstand, dass die Generalstaatsanwaltschaft München ihrer Löschungsanordnung womöglich die nicht einschlägige Rechtsvorschrift des § 101 Abs. 8 StPO zugrunde gelegt hat, begründet ebenfalls nicht die Rechtswidrigkeit der Entscheidung. Wie oben dargelegt, waren für die zu treffende Entscheidung nach § 489 StPO i.d.F. vom 05.07.2017, § 75 Abs. 2 BDSG im konkreten Fall dieselben Abwägungsgesichtspunkte maßgeblich wie bei § 101 Abs. 8 StPO. In beiden Fällen ist zu prüfen, ob die gespeicherten Daten für die Zwecke des Strafverfahrens nicht mehr erforderlich sind.
120
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist somit unbegründet, soweit der Verurteilte die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung der Löschung der Sprachnachrichten bei der KPI (Z) … begehrt.
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4. Die Entscheidung über die Kosten und notwendigen Auslagen beruht auf §§ 147 Abs. 5 Satz 3, 473 a StPO. Es war eine angemessene Verteilung vorzunehmen, weil der Antrag des Verurteilten nur teilweise Erfolg hatte.