Titel:
Rechtmäßige Ausweisungsverfügung wehen jahrelanger Verstöße gegen die Passpflicht
Normenketten:
AufenthG § 3 Abs. 1 S. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54, § 55, § 60a Abs. 2 S. 1
BZRG § 46, § 47, § 51 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG eine absolute Obergrenze bei der Berücksichtigung für das Ausweisungsinteresse, denn nach deren Ablauf dürfen die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden (§ 51 Abs. 1 BZRG). (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, wer durch falsche oder unvollständige Angaben oder sonst mit allen Mitteln versucht, seine zwangsweise Rückführung in sein Herkunftsland zu hintertreiben. (Rn. 59) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Bleibeinteresse, Nichtberücksichtigung von Verurteilungen bei Tilgungsreife im BZR, Berücksichtigungsfähigkeit familiärer Beziehungen zu ebenfalls ausreisepflichtigen Verwandten, Ausweisungsinteresse, Passbeschaffung, Mitwirkung, familiäre Bindungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 46214
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Ausweisungsbescheides.
2
Die verwitwete Klägerin, eine sunnitische Muslimin aserbaidschanischer Volkszugehörigkeit, wurde nach eigenen Angaben am … in … (Republik Aserbaidschan) geboren und hat die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes. Sie ist Mutter einer in jungen Jahren verstorbenen Tochter und dreier Söhne: S., geb. am …, wohnt mit seiner Familie in T. … (Landkreis …) und hat derzeit eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V. m. § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Der ledige B., geb. am …, zu dessen Gunsten das Bundesamt am 11.11.2013 ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen festgestellt hatte, besaß einige Jahre eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG und verfügte zuletzt über Fiktionsbescheinigungen. Er und sein Bruder O., geb. am …, der nach erfolglosem Asylverfahren zuletzt eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V. m. § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG besaß, leben unter unterschiedlichen Adressen in der Stadt C. … Am 16.05.2011 reiste die damals knapp 48 Jahre alte Klägerin zusammen mit ihren beiden jüngeren Söhnen ohne Visum und Ausweispapiere ins Bundesgebiet ein. Am …2011 stellte sie einen Asylantrag, erhielt zur Durchführung des Asylverfahrens wiederholt verlängerte Aufenthaltsgestattungen und wurde verpflichtet, ihren Wohnsitz in einer Staatlichen Gemeinschaftsunterkunft in der Stadt C. … zu nehmen.
3
Bei ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am …2011 erklärte die Klägerin u. a., sie habe in Aserbaidschan nie einen Reisepass, aber eine Geburtsurkunde, einen alten sowjetischen Inlandspass und eine Urkunde über ihre Heirat im Jahr 198* besessen. Bei der Flucht vor den armenischen Truppen bei den Auseinandersetzungen um Bergkarabach im Jahr 1993 habe sie die Dokumente in ihrem Heimatort zurückgelassen. Vor ihrer Ausreise habe sie zuletzt illegal im Keller unter einem Kindergarten in … gelebt und als Reinigungskraft gearbeitet.
4
Mit Bescheid vom 26.04.2013 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte ab (Ziff. 1), stellte fest, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch Abschiebungsverbote vorlägen (Ziff. 2 und 3) und drohte der Klägerin die Abschiebung nach Aserbaidschan an, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Klageverfahrens verlassen habe (Ziff. 4). Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 01.08.2013 ab, auch soweit erstmals ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen geltend gemacht wurde (Az. B 5 K 13.30093). Das Urteil wurde am 12.10.2013 rechtskräftig. Die Ausreisefrist endete am 11.11.2013, ohne dass die Klägerin bis heute das Bundesgebiet verlassen hätte.
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Am 26.01.2014 ließ die Klägerin beim Bundesamt einen Antrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG stellen.
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Am 23.04.2014 stellte die Ausländerbehörde der Klägerin auf ihren Antrag hin erstmals eine Duldungsbescheinigung aus, weil ihre Abschiebung ohne einen aserbaidschanischen Reisepass tatsächlich unmöglich war. In der Folgezeit hatte die Klägerin, die keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte, vom 19.01.2017 bis 05.04.2018 und ab 22.06.2018 bis 27.09.2022 keine Duldungsbescheinigung. Erst am 28.09.2022 erhielt sie auf einen Duldungsantrag hin eine Duldungsbescheinigung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG i.V. m. § 60b Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die anschließend bis 06.05.2023 verlängert wurde.
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Auf ein Rückübernahmeersuchen hin erhielt die Regierung von …, Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) am 21.04.2016 die Antwort, die Klägerin sei als „H. … C. …, geb. …“ in … in Aserbaidschan weder in den Melde- und Passregistern noch bei der Kommunalverwaltung registriert. Deshalb könne davon ausgegangen werden, dass die Klägerin falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht habe. Aus dem gleichen Grund scheiterten auch zwei weitere Ersuchen, wie der ZAB am 22.08.2017 bzw. 16.05.2019 mitgeteilt wurde.
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Am 22.11.2016 lehnte das Bundesamt den Wiederaufgreifensantrag ab. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 28.02.2017 ab (Az. B 1 K 16.31802). Den Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 27.04.2017 ab (Az. 2 ZB 17.30347).
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Am 06.04.2017 stellte die ZAB Strafantrag gegen die Klägerin wegen „Erschleichens einer Duldung“. Daraufhin erließ das Amtsgericht C. … gestützt auf § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG am 11.09.2017 einen Strafbefehl über 90 Tagessätze zu je 10,00 EUR, der am 14.10.2017 bis auf die Tagessatzhöhe rechtskräftig wurde (Az. …). Darin hält das Gericht fest, dass der Klägerin aufgrund der falschen Personalien am 23.04. und 04.11.2014, am 30.03. und 30.09.2015, am 06.04.2016, am 13.07.2016 und am 12.12.2016 Duldungen erteilt bzw. erneuert wurden. Mit Urteil vom 27.08.2018, das am 04.09.2018 rechtskräftig wurde, erhöhte das Amtsgericht C. … den Tagessatz auf 15,00 EUR.
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Nachdem die Klägerin zuvor u. a. im Zusammenhang mit der Abholung ihrer Duldungsbescheinigung aufgefordert worden war, ihrer Passpflicht nachzukommen, verpflichtete sie die ZAB mit Bescheid vom 11.04.2018 ein zur Heimreise berechtigendes Dokument bei der aserbaidschanischen Auslandsvertretung zu beantragen und eine Bestätigung über die Antragstellung der ZAB vorzulegen und ordnete den Sofortvollzug an (Ziff. 1, 2 und 5 des Bescheides). Der Bescheid wurde bestandskräftig. Die Klägerin kam der Verpflichtung aber nicht nach.
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Mit Bescheid vom 29.11.2019 verpflichtete die ZAB die Klägerin, jeweils unter Anordnung der sofortigen Vollziehung, ihren Wohnsitz in der Ausreiseeinrichtung in B. … (AEO) zu nehmen und beschränkte ihren Aufenthalt räumlich auf das Gebiet der Stadt B. … Dagegen ließ die Klägerin beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth Klage erheben (Az. B 6 K 20.8). Den gleichzeitig gestellten Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO lehnte das Gericht mit Beschluss vom 23.01.2020 ab.
12
Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 06.04.2020 zurück (Az. 19 CS 20.339).
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In der Begründung, auf die verwiesen wird, führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof zum Stand Anfang April 2020 aus, die Identität der Klägerin sei trotz ihrer langen Aufenthaltszeit im Bundesgebiet immer noch ungeklärt, weil sie keine entsprechenden Dokumente vorgelegt habe, und die Versuche, ihre Identität anhand der allein auf ihren eigenen Angaben beruhenden persönlichen Daten zu klären, allesamt erfolglos geblieben seien. Wenn die Klägerin sich in einem Schriftsatz an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof vom 31.03.2020 bemüht habe, die fehlende Identitätsbetätigung damit zu rechtfertigen, es bestünden erhebliche Bedenken, ob die aserbaidschanischen Behörden ordnungsgemäß funktionierten und es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die dortigen Register nicht vollständig oder nicht ordnungsgemäß geführt würden, überzeugten diese Erklärungsversuche nicht. Vielmehr deuteten die Umstände darauf hin, dass die Klägerin falsche oder unvollständige Angaben mache und damit ihrer Mitwirkungspflicht nicht genüge.
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Nachdem die Klägerin am 10.03.2020 in die Ausreiseeinrichtung verbracht worden war und dort vom 10.03.2020 bis 16.03.2020 und dann wieder vom 30.04.2020 bis 24.05.2020 gewohnt hatte, war ihr Aufenthalt vom 25.05.2020 bis 13.09.2021 und vom 20.10.2021 bis 14.09.2022 amtlich unbekannt.
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Bei einem Besuch bei ihrem Sohn S. in T. … erkrankte die Klägerin an COVID-19 und wurde wegen daraus resultierender schwerer akuter Atemnot (ARDS – ICD 10: U07.1) ab 14.09.2021 erst in der Kreisklinik …, dann im Krankenhaus in … und schließlich bis 28.10.2021 im Universitätsklinikum … unter Einsatz u. a. eines Beatmungsgerätes behandelt. Mit Beschluss vom 30.09.2021 ordnete das Amtsgericht … die vorläufige Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge bis 29.03.2022 an (Az. …).
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Vom 09.02.2022 bis 02.03.2022 wurde die Klägerin stationär im … (Landkreis C. …) behandelt. Wie sich aus dem Abschlussbericht der Abteilung Neurologie vom 02.03.2022 ergibt, wurden bei ihr als Folge der künstlichen Beatmung wegen ihrer schweren Atemnot bei der COVID-19-Pneumonie eine Critical-Illness-Polyneuropathie (G62.80), eine Paraparese, d. h. eine teilweise Lähmung beider Beine (G82.29), Stand- und Gangunsicherheit (R26.8), Sturzneigung (R29.6) und Schmerzen in den oberen und unteren Extremitäten sowie im LWS-Bereich (R52.2) diagnostiziert. Die Klägerin, die einen Rollator benötigt, wurde bei der Entlassung bis auf weiteres arbeitsunfähig geschrieben.
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Am 18.04.2022 erstattete der Facharzt für Neurologie Dr. med. H., … (Landkreis C. …), ein Gutachten über die Notwendigkeit eines Betreuers. Darin hielt er nach einer persönlichen Untersuchung fest, der Klägerin sei es aufgrund der diagnostizierten Erkrankungen nicht möglich, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu besorgen. Zudem habe sich nach eigenen Angaben ihre Depression verschlechtert, so dass sie nur noch auf dem Sofa liege. Auf dieser Grundlage und nach persönlicher Anhörung der Klägerin ordnete das Amtsgericht C. … – Betreuungsgericht mit Beschluss vom 17.06.2022 die Betreuung der Klägerin bis 16.06.2029 an (Az. …). Die Betreuung umfasst u. a. die Vertretung gegenüber Einrichtungen und Behörden. Ein Einwilligungsvorbehalt wurde nicht verfügt.
18
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 27.07.2022, der dem jetzigen Prozessbevollmächtigten am 04.08.2022 zugestellt wurde, wies die ZAB die Klägerin nach vorheriger Anhörung aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziff. 1) und befristete die Wirkungen der Ausweisung und einer eventuellen Abschiebung auf die Dauer von drei Jahren ab Ausreise/Abschiebung (Ziff. 2).
19
Der Beklagte ging dabei davon aus, die Klägerin habe dauerhaft vorsätzlich falsche oder unvollständige Angaben gemacht, um sich eine Duldung zu beschaffen. Deshalb habe auch das Amtsgericht C. … rechtskräftig eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen verhängt.
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Außerdem befolge die Klägerin die Verpflichtung, in der AEO ihren Wohnsitz zu nehmen und sich in der Stadt B. … aufzuhalten, seit 25.05.2020 nicht, sondern halte sich bei ihrem Sohn in C. … auf. Damit habe sie nicht nur vereinzelt und geringfügig gegen Rechtsvorschriften und eine behördliche Entscheidung verstoßen und ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse verwirklicht.
21
Die für eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen erforderliche Wiederholungsgefahr sei gegeben. Es sei nicht ersichtlich, dass die Klägerin ihr Verhalten ändern wolle, so dass zu besorgen sei, dass die Klägerin auch in Zukunft gegen die Rechtsordnung verstoßen werde.
22
Der Beklagte weise die Klägerin aber auch aus generalpräventiven Gründen aus, um anderen Ausländern deutlich vor Augen zu führen, dass ein Verhalten wie das der Klägerin nicht hingenommen werde und aufenthaltsrechtliche Maßnahmen konsequent ergriffen würden.
23
Dem Ausweisungsinteresse stünde nach dem Inhalt der Akten kein besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber. Die Klägerin habe keine Bindungen zu Familienangehörigen, die auf ihre Anwesenheit angewiesen seien. Die im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen seien bereits volljährig und hätten jeweils einen eigenen Hausstand gegründet. Die Klägerin sei nicht bereit, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und dazu die rechtlichen Vorschriften einzuhalten. Da eine ausreichende Versorgung in Aserbaidschan ebenfalls sichergestellt werden könne, begründeten auch die gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin kein allgemeines Bleibeinteresse.
24
Bei der Interessenabwägung überwiege, auch unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Klägerin ihr persönliches Interesse an einem weiteren Verbleib.
25
Bei der Ermessensentscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei davon auszugehen, dass die Frist von fünf Jahren nur ausnahmsweise überschritten werden dürfe. Das Verhalten der Klägerin trage das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr für einen Zeitraum von drei Jahren. Dabei sei zu berücksichtigen, dass das Verhalten der Klägerin die Annahme nicht rechtfertige, dass sie sich künftig an die Rechtsordnung halten werde.
26
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 03.08.2022 hob die ZAB den Bescheid vom 29.11.2019, in dem die Wohnsitznahme in der AEO und die Aufenthaltsbeschränkung auf die Stadt B. … angeordnet worden war, insgesamt auf (Ziff. 1) und verfügte, die Klägerin habe ihren Wohnsitz in C. … zu nehmen (Ziff. 2). Als Begründung führte die Behörde an, für die Klägerin sei aktuell ein gesteigerter Pflegebedarf im Alltag festgestellt worden, der durch ihren Sohn O. und seine Familie übernommen werden könne und werde.
27
Am 04.08.2022 bevollmächtigte die Klägerin selbst ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten, sie im vorliegenden Klageverfahren zu vertreten.
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Mit Schriftsatz vom 05.09.2022 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth erhoben und zuletzt beantragt,
„1. Die Beklagte wird verurteilt, ihren Bescheid vom 17.07.2022 aufzuheben.
2. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Unterzeichners gewährt.“
29
Zur Begründung führt der Klägerbevollmächtigte am 19.12.2022 aus, die Ausweisung sei unverhältnismäßig. Außerdem gehe vom Aufenthalt der Klägerin keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus.
30
Die Klägerin halte sich bereits seit mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet auf. Wesentliche strafrechtliche Verfehlungen seien nicht zu verzeichnen. Vielmehr sei sie nur einmal wegen eines ausländerstrafrechtlichen Verstoßes verurteilt worden. Voraussichtlich werde sie einen Anspruch auf ein Chancen-Aufenthaltsrecht haben.
31
Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes sei die Klägerin reiseunfähig. Ihre Erkrankung und die damit verbundenen Einschränkungen müssten auch zu ihren Gunsten berücksichtigt werden, wenn es darum gehe, ob die Klägerin alles versucht habe, das Ausreisehindernis der Passlosigkeit zu beseitigen.
32
Am 06.07.2023 ergänzte er, inzwischen sei ein Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherungskasse gestellt worden. Zugleich legte er ein vom 26.06.2023 datierendes Attest eines die Klägerin behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin aus … vor, der die zuständige Behörde um Feststellung der Pflegebedürftigkeit ersucht. Er diagnostizierte bei ihr (ohne ICD-10 Klassifizierungen anzugeben): Kognitivstörung, beginnende Demenz, Epilepsie mit symptomatischen Krampfanfällen, Depression, Insomnie, Konzentrationsstörungen, Anpassungsstörungen, Hypertonie mit hypertonen Krisen, Herzrhythmusstörungen, Schwindel, kurzfristige Ohnmachten, Sturzsyndrom, Veneninsuffizienz, Gehbehinderung, Gastritis und Refluxösophagitis. Aufgrund des gesamten Krankenbildes sei die Klägerin auf Hilfe von Dritten (Essensvorbereitung, Medikamentengabe etc.) angewiesen. Die Pflege werde von ihrer Schwiegertochter übernommen.
33
Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 06.02.2023 und nochmals in der mündlichen Verhandlung am 06.09.2023
Klageabweisung beantragt.
34
Zur Begründung macht er in den Schriftsätzen vom 06.02.2023 sowie 01.08.2023 geltend, die Ausweisungsverfügung sei rechtmäßig.
35
Die Klägerin verwirkliche ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, weil sie hartnäckig gegen ihre Passpflicht und ihre Mitwirkungspflichten verstoße. Die Gefahr für die deutsche Rechtsordnung bestehe fort. Dafür spreche, dass sie bis heute den Plan verfolge, ihre Abschiebung unter allen Umständen zu verhindern. Die Klägerin könne sich demgegenüber nicht darauf berufen, sie halte sich schon lange Jahre im Bundesgebiet auf. Sie habe ihren Aufenthalt nur durch andauernde unvollständige oder falsche Angaben zu ihrer Identität in rechtswidriger Weise zielgerichtet auf über ein Jahrzehnt verlängert. Schon deshalb habe sie auch keinen Anspruch auf ein Chancenaufenthaltsrecht, das sie bislang zudem noch gar nicht beantragt habe. Außerdem habe sie zurückgerechnet ab 30.10.2022 keinen fünfjährigen geduldeten Aufenthalt vorzuweisen, weil sie für die Zeit von Juni 2018 bis September 2022 keine Duldungsbescheinigungen und solange sie monatelang untergetaucht gewesen sei, nicht einmal einen Anspruch auf eine Duldung gehabt habe.
36
Aus den vorgelegten Attesten und den Beschlüssen über die Betreuung ergebe sich nicht, dass es der Klägerin unmöglich sei, an der Identitätsklärung und Passbeschaffung effektiv mitzuwirken. Bei dem aktuellen Attest vom 26.06.2023 handle es sich nicht um eine qualifizierte Bescheinigung.
37
Mit Beschluss vom 24. August 2023 hat das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
38
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und die Behördenakte sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 06.09.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
39
Die als Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO auszulegende Klage ist zulässig, hat in der Sache jedoch keinen Erfolg, weil der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.
40
1. Die Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland ist rechtmäßig.
41
a) Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
42
§§ 54 und 55 AufenthG konkretisieren den in § 53 Abs. 1 AufenthG geregelten Grundtatbestand, indem sie, nicht abschließend, einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beimessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ (Abs. 1) oder als „schwerwiegend“ (Abs. 2). Auch wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist, ist bei einer auf spezialpräventive Gründe gestützten Ausweisung stets festzustellen, ob die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht. Darüber hinaus können auch generalpräventive Gründe ein Ausweisungsinteresse begründen. Denn nicht nur das persönliche Verhalten eines Ausländers kann eine Gefahr darstellen, sondern nach dem Wortlaut von § 53 Abs. 1 AufenthG kann auch bereits der weitere Aufenthalt als solcher eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bewirken (BVerwG, U. v. 09.05.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn. 17).
43
Bei der Abwägung zwischen den Ausweisungs- und den Bleibeinteressen, einer gebundenen und deshalb gerichtlich voll überprüfbaren Entscheidung auf der Tatbestandsseite, sind die in § 53 Abs. 2 AufenthG ebenfalls nicht abschließend aufgezählten Umstände und das Ausweisungs- bzw. Bleibeinteresse gemäß § 54 und § 55 AufenthG nach ihrem spezifischen Gewicht zu berücksichtigen (grundlegend zur spezialpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 22.02.2017 – 1 C 3/16 – BVerwGE 157, 325 = NVwZ 2017, 1883, jew. Rn. 20-26; grundlegend zur generalpräventiven Ausweisung BVerwG, U. v. 09.05.2019 – 1 C 21.18 – BVerwGE 165, 331 = InfAuslR 2019, 381 Rn. 17).
44
b) Zum Anlass für die Ausweisungsverfügung hat der Beklagte genommen, dass die Klägerin, deren Asylantrag unanfechtbar abgelehnt wurde, seit Jahren gegen ihre aus dem Aufenthaltsrecht resultierende Passpflicht verstößt und außerdem wegen ihrer unrichtigen Angaben zur Beschaffung einer Duldung rechtskräftig verurteilt wurde.
45
c) Zu Recht ging der Beklagte davon aus, dass bezüglich der Klägerin ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vorliegt.
46
Gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder behördliche Verfügungen begangen hat.
47
Die Zuwiderhandlung muss dabei nur rechtswidrig sein. Ein Verschulden oder eine Ahndung des Verstoßes sind nicht erforderlich. Um einen Verstoß als nicht geringfügig einzustufen, sind die Umstände des Einzelfalls unter besonderer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit umfassend abzuwägen. Nicht geringfügig ist in der Regel eine vorsätzlich begangene Straftat, insbesondere dann, wenn die verhängte Geldstrafe die als Anhaltspunkt dienende Wertgrenze von 1.000,00 EUR in § 87 Abs. 4 Satz 4 AufenthG übersteigt (Fleuß, in: Kluth/Heusch, BeckOKAuslR, Stand 01.07.2023, § 54 AufentG Rn. 317, 320, 324f.). Vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften sind regelmäßig nicht geringfügig (BayVGH, B. v. 29.03.2021 – 10 B 18.943 – juris Rn. 53). Der Verstoß gegen eine behördliche Verfügung ist nur dann ausweisungsrelevant, wenn der Verwaltungsakt zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung vollziehbar ist (Fleuß, a. a. O., Rn. 318).
48
Nach diesen Maßgaben liegt hinsichtlich der Klägerin in mehrfacher Hinsicht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse vor, weil sie aufenthaltsrechtliche Normen vorsätzlich verletzt hat.
49
Zum einen verstieß die Klägerin, seit ihr Aufenthalt nach Ablehnung ihres Asylantrages am 10.10.2013 dem AufenthG unterliegt, gegen die Passpflicht für Ausländer im Bundesgebiet.
50
Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG dürfen Ausländer sich nur im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz besitzen.
51
Nach der Allgemeinverfügung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat über die Anerkennung ausländischer Pässe und Passersatzpapiere v. 13.10.2022 (BAnzAT v. 25.10.2022) sind für aserbaidschanische Staatsangehörige u. a. reguläre Reisepässe und Heimreisescheine als gültige Pässe oder Passersatzpapiere anerkannt. Entsprechende Ausweisdokumente besitzt die Klägerin nicht.
52
Zum zweiten erfüllte die Klägerin die mit dem bestandskräftigen Bescheid vom 11.04.2018 ausgesprochenen, für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtungen, ein entsprechendes Dokument zu beantragen, und einen Nachweis über die Antragstellung bzw. das erteilte Dokument vorzulegen, nicht (§ 46 Abs. 1 AufenthG i.V. m. § 48 Abs. 3 Satz 1, § 49 Abs. 2, § 82 Abs. 1 Satz 1, § 48 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
53
Nicht mehr vorgehalten werden kann der Klägerin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung dagegen ihr Verhalten, wegen dem sie durch das Amtsgericht C. … gestützt auf § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15,00 EUR verurteilt wurde, weil sie im Rahmen des Verfahrens auf Erteilung einer Duldung Angaben gemacht hat, die nach den Erkenntnissen des Beklagten und des Strafgerichts, die auf die aserbaidschanischen Behörden zurückgehen, unrichtig sind. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG eine absolute Obergrenze bei Berücksichtigung für das Ausweisungsinteresse, weil gem. § 51 BZRG nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten werden dürfen (BVerwG, U. v. 12.7.2019 – 1 C 16/17 – BVerwGE 162, 349 = NVwZ 2019, 486 jew. Rn. 23). Wenn keine Freiheitsstrafe, kein Strafarrest und keine Jugendstrafe im Register eingetragen ist, beträgt die Tilgungsfrist bei Verurteilungen zu einer Geldstrafe von nicht mehr als neunzig Tagessätzen gem. § 46 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BZRG fünf Jahre. Für die Berechnung der Frist ist gem. § 47 Abs. 1 BZRG i.V. m. § 36 Satz 1, § 5 Abs. 1 Nr. 4 BZRG bei Strafbefehlen, gegen die Einspruch eingelegt worden ist, der Tag der auf den Einspruch ergehenden Entscheidung maßgeblich. Damit begann vorliegend die Frist am 27.08.2018 zu laufen und endete am 27.08.2023. Weiter vorgehalten werden darf der Klägerin jedoch unabhängig davon, dass sie nach den behördlichen Feststellungen und auch der Überzeugung des Gerichts bis heute an ihren unrichtigen Angaben zu ihrer Person festhält, ihre wahre Identität also hartnäckig verschweigt und damit ihren Pflichten aus § 49 Abs. 2 AufenthG nicht nachkommt.
54
Ebenfalls nicht mehr vorgehalten werden kann der Klägerin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, dass sie mit dem Aufenthalt bei einem ihrer Söhne in C. … gegen die für sofort vollziehbare erklärte, unanfechtbare Verpflichtung aus dem Bescheid vom 29.11.2019 verstieß, in der AEO ihren Wohnsitz zu nehmen und sich im Stadtgebiet B. … aufzuhalten. Denn diese Anordnungen wurden nach Erlass der Ausweisungsverfügung mit unanfechtbarem Bescheid vom 03.08.2022 aufgehoben.
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d) Das Ausweisungsinteresse besteht nach summarischer Prüfung sowohl aus spezial- als auch aus generalpräventiver Sicht fort.
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aa) Eine spezialpräventiv motivierte Ausweisung, welche die Abwehr einer von dem Aufenthalt des Ausländers ausgehenden Gefährdung bezweckt, setzt die Feststellung einer Wiederholungsgefahr auf Grund einer individuellen Würdigung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls voraus, insbesondere auch der Persönlichkeit des Ausländers und seiner Entwicklung und Lebensumstände bis zu dem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, B. v. 09.01.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 15). Keine Wiederholungsgefahr besteht (mehr), wenn bei Anwendung praktischer Vernunft das Risiko, das von dem Ausländer ausgeht, kein anderes ist als das, was bei jedem Menschen mehr oder minder besteht (Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 48).
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Nach diesen Maßstäben gefährdet der Aufenthalt der Klägerin weiterhin die öffentliche Sicherheit und Ordnung, weil aktuell das erhebliche Risiko besteht, dass sie weiterhin in mindestens vergleichbarem Umfang gegen Rechtsvorschriften verstoßen wird.
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Obwohl die Klägerin seit ihrer Einreise vor über einem Dutzend Jahren weder über einen aserbaidschanischen Pass noch ein Passersatzpapier verfügt, hat sie sich trotz entsprechender Belehrungen auch in ihrer Heimatsprache und einer entsprechenden Anordnung nicht auch nur darum bemüht, ein entsprechendes Dokument zu erhalten. Mehrfache Initiativen von Amts wegen scheiterten daran, dass sie mit den von ihr angegebenen Daten in den aserbaidschanischen Registern nicht gefunden wurde, so dass alles darauf hindeutet, dass die Klägerin falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat.
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Belastbare Hinweise darauf, dass die Klägerin ihr entsprechendes Verhalten zukünftig ändern wird, gibt es nicht. Vielmehr spricht alles dafür, dass sie weiterhin versuchen wird, eine zwangsweise Rückführung nach Aserbaidschan mit allen Mitteln zu hintertreiben.
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Durch dieses Verhalten wird sie weiterhin gegen die Rechtsordnung verstoßen. Daran ändert ihr verschlechterter Gesundheitszustand nichts. Die Beschaffung eines Reisepasses mag zwar für die Klägerin zunehmend schwieriger werden. Denn nach den dem Gericht vorliegenden aktuellen Informationen des Landesamtes für Asyl und Rückführungen (i. f. LfAR) verlangen die aserbaidschanischen Behörden dafür die Vorlage eines Personalausweises. Besitzt ein Aserbaidschaner keinen Personalausweis, muss er ausreisen und das Dokument im Herkunftsland beantragen.
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Nur eine persönliche Vorsprache bei der Botschaft in B. ist aber nötig, um Heimreisepapiere, mit denen die Passpflicht erfüllt werden kann, zu beantragen. Wie der Beklagte in der Klageerwiderung zu Recht ausführt, ergibt sich aus den von Klägerseite vorgelegten medizinischen Unterlagen nicht, dass sie in Begleitung ihrer Betreuerin und/oder eines Verwandten, nicht in der Lage wäre einen entsprechenden Antrag zu stellen. Das vorgelegte Attest vom 26.06.2023 listet zwar zahlreiche Erkrankungen der Klägerin auf, erfüllt aber die Anforderungen nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung nicht, weil z. B. die ICD-Klassifizierungen fehlen. Zudem ergibt sich auch inhaltlich daraus nicht, dass die Klägerin auch mit entsprechender Betreuung und Begleitung nicht einmalig zu einer Vorsprache zur Auslandsvertretung in B. reisen könnte. Ein Antrag auf Leistungen der Pflegekasse wurde zwar inzwischen gestellt, es liegt jedoch bislang dem Gericht kein Ergebnis vor, das Rückschluss auf die Pflegebedürftigkeit der Klägerin erlauben würde.
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Ein entsprechender Antrag auf Heimreisepapiere verspricht auch durchaus Erfolg, vorausgesetzt, die Klägerin machte nunmehr richtige Angaben. Insbesondere zu Letzterem hat sich die Klägerin bisher nicht bereit gezeigt. Vielmehr führte sie in der mündlichen Verhandlung am 06.09.2023 auf Nachfrage des Gerichts, ob die Klägerin sich erklären könne, weshalb sie mit den von ihr angegebenen Personalien in den aserbaidschanischen Registern nicht habe gefunden werden können, lediglich aus, dass sie ihren tatsächlichen Namen angegeben habe und am … geboren sei. Die Klägerin hat keine Umstände vorgebracht, die sie daran hindern könnten, ihre wahre Identität offenzulegen, damit ihren Pflichten nach § 49 Abs. 2 AufenthG nachzukommen und somit der zuständigen Behörde zu ermöglichen, entsprechende Heimreisedokumente für sie zu beschaffen.
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bb) Der Beklagte hat die Ausweisung außerdem zu Recht auch auf generalpräventive Gründe gestützt.
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Im Hinblick auf die langwährende Passlosigkeit und beharrliche Mitwirkungsverweigerung der Klägerin besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der passlose Aufenthalt und die dadurch letztlich erzwungene Fortsetzung des illegalen Aufenthalts nicht ohne aufenthaltsrechtliche Konsequenzen bleiben. In der Rechtsprechung (BayVGH, B. v. 04.05.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 8; OVG LSA, B. v. 22.03.2021 – 2 L 132/19 – juris Rn. 41; OVG LSA, B. v. 07.01.2022 – 2 M 137/21 – juris Rn. 33; VG Ansbach, U. v. 02.08.2022 – AN 11 K 20.1930 – BeckRS 2022, 21923 Rn. 76) ist anerkannt, dass ein gewichtiges generalpräventives Interesse daran besteht, einen Verstoß gegen die Passpflicht bzw. die Weigerung an der Passbeschaffung mitzuwirken zu „sanktionieren“, um andere Ausländer in einer ähnlichen Situation zur Mitwirkung an der Passbeschaffung anzuhalten. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden sind in vielen Fällen auf die Mitwirkung des Ausländers angewiesen, da gerade im Passbeschaffungsverfahren die persönliche Antragstellung und die Beschaffung und Vorlage persönlicher Dokumente erforderlich sind und nicht durch die Behörden erfolgen können. Daher ist es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der unerlaubte Aufenthalt ohne Pass nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung sowie ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach sich ziehen kann.
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Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch noch hinreichend aktuell, schon weil die Klägerin auch aktuell ihre Passpflicht nicht erfüllt, ihre wahre Identität weiterhin verschweigt und ihrer sofort vollziehbaren Verpflichtung, mit wahren Angaben einen Heimreiseschein zu beantragen, nicht nachkommt.
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e) Ein typisiertes Bleibeinteresse aus dem Katalog in § 55 AufenthG ist nicht ersichtlich.
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f) Die Abwägung des öffentlichen Interesses an der Ausreise der Klägerin mit dem privaten Interesse an ihrem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse überwiegt.
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aa) Bei der Abwägung sind insbesondere die Dauer ihres Aufenthalts, ihre persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG).
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aaa) Zwar hält sich die Klägerin bereits über zwölf Jahre im Bundesgebiet auf. Auf die schiere Länge ihres Aufenthalts kann sich die Klägerin zu ihren Gunsten, auch im Hinblick auf das Recht des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK, nicht berufen. Auch ein langjähriger Aufenthalt führt nur dann zu einer schützenswerten Verwurzelung, wenn er rechtmäßig war (BVerwG, U. v. 30.04.2009 – 1 C 3/08 – InfAuslR 2009, 333, Rn. 20; BayVGH, B. v. 03.07.2017 – 19 CS 17.561 – juris Rn. 11). Der Aufenthalt der Klägerin war während ihres Asylverfahrens gestattet, seit dessen Abschluss am 10.10.2013 aber lediglich geduldet bzw. gar nicht geregelt, so lange sie unbekannten Aufenthalts war, und damit weitaus die längste Zeit und bis heute nicht rechtmäßig.
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Eine Legalisierung ihres Aufenthalts jedenfalls für achtzehn Monate über ein Chancenaufenthaltsrecht gemäß § 104c Abs. 1 AufenthG, wenn sie einen entsprechenden Antrag stellt, die ihr Prozessbevollmächtigter ins Spiel gebracht hat, scheidet aus.
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Die Klägerin hat sich nicht gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG seit 31.10.2022 ununterbrochen geduldet, gestattet oder erlaubt im Bundesgebiet aufgehalten. Ein Anspruch auf diesen Aufenthaltstitel setzt zwar grundsätzlich nicht voraus, dass der Ausländer während der Vorduldungszeit über eine Duldungsbescheinigung verfügte. Etwas anders gilt allerdings dann, wenn sich der Ausländer während einer Duldungslücke für die Behörde nicht greifbar im Inland aufgehalten hat und der Aufenthalt der zuständigen Ausländerbehörde deshalb ohne ihr Verschulden unbekannt war (VG Gelsenkirchen, B. v. 06.02.2023 – 11 L 134/23 – juris Rn. 31; Zühlke, in: HTK-AuslR, Stand 21.08.2023, § 104c AufenthG Rn. 104).
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bbb) Die Klägerin verhielt sich auch nicht rechtstreu. Die Klägerin erfüllt seit einem Dutzend Jahren eine der grundlegenden Pflichten, die das Aufenthaltsgesetz normiert, die Pflicht zum Besitz eines Passes, der objektive Voraussetzung für eine rechtmäßige Einreise und einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet ist, nicht (vgl. allgemein zur Passpflicht Bender in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 3 AufenthG Rn.6). Weiterhin hat sie sich über viele Jahre allen Aufforderungen widersetzt, sich einen Reisepass zu beschaffen, nicht zuletzt dadurch, dass sie von den zuständigen Behörden als unwahr bewertete Angaben zu ihrer Identität gemacht hat. Soweit sie sich darauf beruft, seit sich ihr Gesundheitszustand seit 2021 aufgrund ihrer COVID-19-Erkrankung und der sich daraus ergebenden Folgen aufgrund der notwendigen künstlichen Beatmung verschlechtert hat, sei sie auch in Begleitung eines Angehörigen oder ihrer Betreuerin nicht mehr in der Lage, bei der Auslandsvertretung persönlich vorzusprechen, hat sie, wie der Prozessvertreter der Beklagten zutreffend bemerkt, diese weitreichend gesundheitliche Einschränkung durch keine entsprechende ärztliche Bescheinigung nachgewiesen.
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ccc) Da die bei der Einreise knapp 48 Jahre alte Klägerin auch nach 12 Jahren bis heute so gut wie kein Deutsch spricht und immer von Transferleistungen gelebt lebt, hat sie sich sprachlich und wirtschaftlich in die hiesigen Verhältnisse nicht integriert.
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ddd) In die Abwägung einzustellen sind aber die familiären Beziehungen der Klägerin zu ihren drei Söhnen und ihren Familien, die ebenfalls im Bundesgebiet leben.
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Art. 6 GG gebietet familiäre Bindungen zu Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, bei der Abwägung zur Geltung zu bringen (BVerfG in st. Rspr., vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 09.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – NJW 2022, 1804 Rn. 45). Die Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern und sonstigen erwachsenen Angehörigen ist in der Regel nicht auf eine Lebens- und Hausgemeinschaft, sondern auf eine Begegnungsgemeinschaft angelegt (BayVGH, B. v. 09.01.2023 – 19 ZB 21.429 – juris Rn. 45). Eine Beistandsgemeinschaft, die weitergehenden Schutz genießt, liegt allerdings dann vor, wenn ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist (BVerfG in st. Rspr. vgl. BVerfG, Kammerbeschluss v. 25.10.1995 – 2 BvR 901/95 – NVwZ 1996, 1099/1100). Aufenthaltsrechtlich schutzwürdig mit Blick auf Art. 6 GG ist dabei insbesondere die Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können (BVerwG, U. v. 18.04.2013 – 10 C 10/12 – BVerwGE 146, 198 = NVwZ 2013, 1339 jew. Rn. 38 a. E.).
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Die Klägerin hat jedoch keinen Nachweis erbracht, dass sie der Pflege bedarf, wie sie tatsächlich gepflegt wird, und dass die Pflege nur im Bundesgebiet geleistet werden kann. Dem Gericht lag zum Entscheidungszeitpunkt das Gutachten vor, dass vor der Bestellung der Betreuerin erstattet wurde und auch die zugrundeliegende ärztliche Untersuchung vom 13.04.2022 schildert. Außerdem stand dem Gericht der Bescheid des Beklagten vom 03.08.2022 zur Verfügung, in dem die ZAB begründet, dass an der Pflicht zur Wohnsitznahme in der AEO nicht festgehalten wird, weil die Klägerin der Unterstützung durch Sohn und Schwiegertochter bedarf. Eine Feststellung des Grades der Pflegebedürftigkeit durch die Pflegekasse nach einem Verfahren gemäß § 18 SGB XI liegt nicht vor. Hinzu kommt, dass die Pflegepersonen, insbesondere ihr Sohn O. und seine Lebensgefährtin, nicht anders als die ausreisepflichtige Klägerin selbst, über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet verfügen, so dass es jedenfalls keineswegs ausgeschlossen erscheint, der Klägerin zuzumuten, zusammen mit ihnen nach Aserbaidschan zurückzukehren, um dort gepflegt zu werden. Gleiches gilt für den Fall, dass es der Klägerin künftig gestattet wird, ihrem Wunsch entsprechend ihren Wohnsitz bei ihrem Sohn S. und dessen Lebensgefährtin in T. … zu nehmen.
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bb) Da die Aufzählung in § 53 Abs. 2 AufenthG nicht abschließend ist, können auch Gründe nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, die einer Abschiebung entgegenstehen, z. B. die rechtliche Unmöglichkeit einer Abschiebung Berücksichtigung finden. Die zwangsweise Rückführung ist u. a. dann rechtlich unmöglich, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (BayVGH, B. v. 25.05.2023 – 19 ZB 22.2395 – juris Rn. 33).
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Zum Zeitpunkt Entscheidung lag dem Gericht jedoch keine den gesetzlichen Anforderungen gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG genügende Bescheinigung vor, aus der sich die Reiseunfähigkeit der Klägerin ergeben hätte.
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Insgesamt überwog damit zum Zeitpunkt der Entscheidung das öffentliche Interesse daran, die Voraussetzungen für eine Beendigung des Aufenthalts der Klägerin, die sich seit Jahren weder um einen Reisepass noch zumindest um einen Heimreiseschein auch nur bemüht hat, zu schaffen, das Interesse der Klägerin daran, sich weiter im Bundesgebiet aufzuhalten, um hier von ihren ebenfalls ausreisepflichtigen Verwandten gepflegt zu werden.
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2. Auch die Klage gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot, das der Beklagte auf drei Jahre befristet hat (Ziff. 2 des Bescheides vom 27.07.2022) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Zwar hat die ZAB nicht, wie es § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 AufenthG bereits seit 21.08.2019 vorsehen, von Amts wegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und dann dessen Geltungsdauer befristet, sondern nur eine Befristung verfügt. Eine Befristungsentscheidung ist aber dahingehend auszulegen, dass darin konstitutiv die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbot enthalten ist (BVerwG, U. v. 21.08.2018 – 1 C 21.17 – BVerwGE 162, 382 = InfAuslR 2019, 3 jew. Rn. 25).
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Was die nur in den durch § 114 VwGO vorgegebenen Grenzen nachzuprüfende Ermessensentscheidung über die Länge der Frist (vgl. § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) betrifft, verweist das Gericht auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid, gegen die im Übrigen keine Einwände vorgetragen wurden oder ersichtlich sind.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 11 ZPO.