Inhalt

VG München, Beschluss v. 06.03.2023 – M 1 SN 21.4587
Titel:

Erfolgloser Nachbareilantrag wegen Nutzungsänderung eines Betriebsleiterwohnhauses durch Einbau von zusätzlichen Wohneinheiten

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 80 Abs. 5 S. 1, § 80a Abs. 3
BauGB § 34 Abs. 1, § 212a Abs. 1
BauNVO § 15 Abs. 1
GIRL Nr. 3.1
Leitsätze:
1. Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind^.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Rücksichtnahme ist nicht nur derjenige verpflichtet, der – beispielsweise als Inhaber eines Betriebes – Emissionen verursacht, sondern auch derjenige, der ein gegenüber Immissionen schutzbedürftiges Vorhaben, wie ein Wohngebäude, in der Nachbarschaft einer „emittierenden“ Anlage – beispielsweise eines landwirtschaftlichen Betriebes – errichtet. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei de Immissionswerten nach der Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) handelt es sich nicht um einen starren Wert, da die GIRL keine Rechtsquelle darstellt. sondern ein technisches Regelwerk ist, dessen Werte auf den Erkenntnissen und Erfahrungen von Experten beruhen und das insoweit die Bedeutung eines antizipierten Sachverständigengutachtens hat. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarantrag, Heranrückende Wohnbebauung, Rinderhaltung, Gebot der Rücksichtnahme, Nachbareilantrag, Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Interessenabwägung, Baurecht, Nutzungsgenehmigung, Wohnungen, landwirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft, Rücksichtnahmegebot, Geruchsimmissionsrichtlinie
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4578

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten über eine Baugenehmigung, die der Beklagte der Beigeladenen erteilt hat.
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Der Antragsteller ist unter anderem Eigentümer des Grundstücks FlNr. 49/6 Gem. …, das sich östlich an das Vorhabengrundstück FlNr. 49 Gem. … anschließt. Die Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans … der Gemeinde R …, den diese am 28. April 1977 beschlossen hat. Der Bebauungsplan wurde am 9. September 1977 bekannt gemacht, die Ausfertigung erfolgte jedoch erst am 12. Dezember 1977.
3
Der Beklagte erteilte dem Antragsteller am 7. März 2018 eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Rinderstalles mit 50 GV auf seinem o.g. Grundstück. Grundlage für die Erteilung bildete die vom Antragsteller vorgelegte Geruchsimmissionsprognose Bericht Nr. … der … GmbH vom 26. Juni 2017. Gegen diese Baugenehmigung erhob die Beigeladene Klage (M 1 K 17.3284). Für das Verfahren wurde auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 17. Oktober 2018 das Ruhen angeordnet.
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In diesem Zusammenhang machte der Antragsteller den Beklagten darauf aufmerksam, dass die Beigeladene in dem ehemaligen Betriebsleiterwohnhaus auf FlNr. 49 Gem. … in zusätzlich eingebauten Wohnungen ohne Baugenehmigung Vermietung betreibe.
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Unter dem 13. August 2021 erteilte der Beklagte der Beigeladenen antragsgemäß die von ihr beantragte Baugenehmigung zur Nutzungsänderung des bestehenden landwirtschaftlichen Betriebsleiterwohnhauses – Einbau von drei zusätzlichen Wohneinheiten mit Ausbau des Dachgeschosses. Nach Aussage der Beigeladenen seien diese Änderungen schon vollzogen gewesen, als sie das Anwesen im Jahr 2009 erwarb.
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Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am … August 2021 Klage (M 1 K 21.4586) erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Zugleich beantragt er,
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die Vollziehbarkeit der Baugenehmigung aufzuheben und die rechtswidrig bereits aufgenommene Nutzung zu untersagen.
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Die Erteilung der Baugenehmigung greife wegen der Nachteile der sog. heranrückenden Baugenehmigung schwer in die bestehenden und bestandsgeschützten Rechte des Klägers als Landwirt ein, weil das Vorhaben den Umgebungscharakter einschneidend verändere, indem neben der Betriebsleiterwohnung zusätzliche Wohneinheiten entstünden.
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Der Beklagte beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Ausweislich der Geruchsimmissionsprognose des Ingenieurbüros … GmbH vom 26. Juni 2017, die der Antragsteller in seinem Baugenehmigungsverfahren betreffend die Errichtung des Rinderstalles auf FlNr. 49/6 Gem. … vorgelegt habe, ergeben sich im Bereich des streitgegenständlichen Gebäudes 15% Jahreshäufigkeitsstunden. Diese seien im Dorfgebiet zulässig. Der Antragsteller verhalte sich treuwidrig, wenn er sich gegen die Baugenehmigung wende, obschon nach dem von ihm vorgelegten Gutachten die Nachbarverträglichkeit bestätigt sei. Es handle sich schon nicht um eine heranrückende Wohnbebauung. Der Regelungsgehalt der streitgegenständlichen Baugenehmigung erschöpfe sich in einer abweichenden Raumaufteilung bzw. der Erhöhung der Anzahl der Wohneinheiten bei bereits vorhandener, genehmigter Wohnnutzung. Zudem bleibe die Wohnnutzung auch nach Aufgabe der Landwirtschaft und Übergang zur Wohnnutzung in die landwirtschaftliche Schicksalsgemeinschaft nachwirkend eingebunden, wonach erhöhte Rücksichtnahmepflichten bestehen. Nachbarliche Abwehrrechte des Antragstellers seien überdies als verwirkt anzusehen, weil der Voreigentümer bereits im Jahr 1996 eine Wohneinheit im Erdgeschoss vermietet habe, wovon der Antragsteller spätestens seit 2009 Kenntnis gehabt habe. Damals habe dieser sich im Zwangsversteigerungsverfahren des streitgegenständlichen Anwesens beteiligt. Das zugrundeliegende Wertermittlungsgutachten, aus dem die Fremdvermietung ersichtlich gewesen sei, sei dem Antragsteller bekannt gewesen. Daher könne er sich jetzt im Drittanfechtungsprozess nicht mehr auf die Rechtsverletzung berufen.
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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte, auch im Verfahren M 1 K 21.4586, sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Die zulässigen Anträge, die zum einen auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Baugenehmigung vom 13. August 2021 gemäß §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1, 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 212a Abs. 1 BauGB sowie zum anderen – ausweislich des Wortlauts der vom anwaltlichen Vertreter des Antragstellers formulierten Anträge – auf Anordnung einer Nutzungsuntersagung gegenüber der Beigeladenen gerichtet sind, haben in der Sache keinen Erfolg.
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1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den Erfolg des gestellten Antrags. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige, Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
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Danach fällt die Interessenabwägung zugunsten der Vollziehbarkeit der Baugenehmigung aus, weil die der Hauptsache angegriffene Baugenehmigung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 VwGO.
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20, 22).
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Die Baugenehmigung verletzt den Antragsteller nicht in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten. Insbesondere ist die Baugenehmigung nicht ihm gegenüber rücksichtslos im Sinne von §§ 34 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB, 15 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. BauNVO. Er hat infolge des Vorhabens der Beigeladenen keine unzumutbaren Einschränkungen beim zukünftigen Betrieb seines Rinderstalles zu befürchten.
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Dabei ist zur Rücksichtnahme nicht nur derjenige verpflichtet, der – beispielsweise als Inhaber eines Betriebes – Emissionen verursacht, sondern auch derjenige, der ein gegenüber Immissionen schutzbedürftiges Vorhaben, wie ein Wohngebäude, in der Nachbarschaft einer „emittierenden“ Anlage – beispielsweise eines landwirtschaftlichen Betriebes – errichtet. Nicht nur Vorhaben, von denen Belästigungen oder Störungen ausgehen, sondern auch solche, die sich schädlichen Umwelteinwirkungen aussetzen (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 2 2. Alt. BauNVO), können gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen (BayVGH, B.v. 25.10.2006 – 1 ZB 06.24 – juris Rn. 15). Ein Verstoß liegt aber nicht vor, wenn ein neues störempfindliches Vorhaben keine zusätzlichen Einschränkungen für die „störende“ Anlage zur Folge haben wird, weil die Anlage schon auf eine vorhandene, in derselben Weise störempfindliche Bebauung Rücksicht nehmen muss. Ergeben sich hingegen zusätzliche Rücksichtnahmepflichten und ist deshalb mit einer Verschärfung der immissionsschutzrechtlichen Anforderungen an die Anlage zu rechnen, etwa weil eine beabsichtigte Wohnbebauung näher „heranrückt“ als die vorhandene Wohnbebauung oder weil die störempfindliche Bebauung in einer Richtung geplant ist, in die die Anlage bisher ungehindert emittieren darf, wird das störempfindliche Vorhaben regelmäßig gegenüber dem Betrieb „rücksichtslos“ sein.
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Nach diesem Maßstab ist das Gebot der Rücksichtnahme nicht verletzt.
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1.1 In dem streitgegenständlichen Anwesen war bereits seit 1962/1963 im Obergeschoss Wohnnutzung genehmigt (s. die Eingabepläne zum Neubau eines landwirtschaftlichen Gebäudes mit Wohnhaus“ vom 21. März 1962, Bl. 168 der Behördenakte), auf die der Antragsteller seit jeher Rücksicht zu nehmen hat.
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Diese Verpflichtung verschärft sich durch den genehmigten (Innen-)Umbau und die Erhöhung der Zahl der Wohneinheiten nicht. Auch die zusätzlichen drei Wohnungen werden keinen stärkeren Belastungen ausgesetzt werden als die bisher vorhandene Wohnnutzung. Zwar handelt es sich hierbei nicht (mehr) um Wohnungen, die einem landwirtschaftlichen Betrieb als Betriebsleiterwohnungen zugeordnet sind. Jedoch nehmen auch diese, wie der Vertreter des Beklagten zutreffend ausgeführt hat, an der sog. landwirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft teil, sodass ihr Schutzanspruch in Bezug auf Geruchsimmissionen eingeschränkt ist. Die Pflicht, Geruchsbelästigungen hinzunehmen, erhöht sich immer dann, wenn das in Rede stehende Wohnhaus selbst der Landwirtschaft dient. In diesem Fall besteht eine Schicksalsgemeinschaft der emittierenden landwirtschaftlichen Betriebe. Dies wirkt nach, wenn auf einem Grundstück im Außenbereich die Landwirtschaft aufgegeben wurde und ein Übergang vom privilegierten zum allgemeinen Wohnen erfolgt ist (BayVGH, B.v. 28.4.2015 – 2 ZB 14.2665 – juris Rn. 4).
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1.2 Schließlich ergibt sich aus der Geruchsimmissionsprognose Bericht Nr. … der … GmbH vom 26. Juni 2017 für das streitgegenständliche Anwesen eine Geruchsstundenhäufigkeit von maximal 15% Jahresstundenhäufigkeit. Der nach der Geruchsimmissions-Richtlinie (GIRL) für ein (faktisches) Dorfgebiet vorgesehene Immissionswert von 0,15 wird daher gegenüber dem streitgegenständlichen Vorhaben eingehalten. Dabei handelt es sich bei diesem Immissionswert gemäß Nr. 3.1 der GIRL schon nicht um einen starren Wert. Die GIRL stellt nämlich keine Rechtsquelle dar. Sie ist ein technisches Regelwerk, dessen Werte auf den Erkenntnissen und Erfahrungen von Experten beruhen und das insoweit die Bedeutung eines antizipierten Sachverständigengutachtens hat. Berechnungen auf der Basis der GIRL stellen ein im Sinne einer konservativen Prognosesicherheit komfortables „worst-case-Szenario“ dar (BayVGH U.v. 5.5.2021 – 22 B 18.2189 – juris Rn. 29 m.w.N.) Jede schematische oder rechtsatzartige Anwendung der in der GIRL bestimmten Immissionswerte verbietet sich – maßgeblich bleibt stets die umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BayVGH, a.a.O.). Daher hat die Rechtsprechung im Einzelfall in Dorfgebieten mitunter weit höhere Jahresstundenhäufigkeiten für zumutbar erachtet (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 27.03.2014 – 22 ZB 13.692 – juris Rn. 13: unter besonderen Umständen kann im Einzelfall sogar eine Geruchshäufigkeit von 50% noch zumutbar sein).
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2. Damit scheidet auch eine einstweilige Anordnung, § 123 VwGO, einer Nutzungsuntersagung im Sinne von Art. 76 Satz 2 BayBO, die bislang bei der Bauaufsichtsbehörde überdies noch nicht beantragt worden ist, von vornherein aus, weil weder eine formell rechtswidrige noch eine materiell rechtswidrige Wohnnutzung vorliegt.
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3. Die Anträge waren deshalb mit der sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergebenden Kostenfolge abzulehnen, wobei es der Billigkeit entsprach, die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen zu lassen, da diese selbst keinen Antrag gestellt hat und damit kein Kostenrisiko eingegangen ist, § 162 Abs. 3 VwGO, § 154 Abs. 3 VwGO entsprechend.
4. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 2 Nrn. 1 und 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nrn.1.1.1, 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wobei für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ein Streitwert i.H.v. 5.000,00 Euro und für den Antrag auf Erlass einer Nutzungsuntersagung ein Streitwert i.H.v. 2.500,00 Euro festgesetzt wird.