Titel:
Obdachlosenrecht, Räumungsanordnung, unzureichende Anhörung
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung der Stadt Starnberg
BayVwVfG Art. 28
BayVwVfG Art. 45
BayVwVfG Art. 46
Schlagworte:
Obdachlosenrecht, Räumungsanordnung, unzureichende Anhörung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4573
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … … 2023 wird in Bezug auf die Anordnung in Nr. 1 des Bescheidtenors wiederhergestellt, in Bezug auf die Zwangsmittelandrohung in Nr. 2 des Bescheidtenors angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
Gründe
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Der zulässige Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz Nr. 4 VwGO von der Behörde angeordnet wurde (hier in Bezug auf die Räumungsanordnung in Nr. 1 des Bescheidtenors) wiederherstellen bzw., soweit die Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet (hier in Bezug auf die Zwangsmittelandrohung in Nr. 2 des Bescheidtenors), anordnen. Es trifft hierbei eine eigene Ermessensentscheidung, die sich wesentlich daran orientiert, ob nach den Umständen des Falles dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers oder dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes der Vorrang einzuräumen ist, wobei als maßgebliches, aber nicht alleiniges Kriterium auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abzustellen ist.
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1. Vorliegend ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche und gebotene Interessenabwägung aufgrund einer summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, dass die Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom … … 2023 voraussichtlich Erfolg haben dürfte.
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Zwar ist davon auszugehen, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Räumungsanordnung gegenüber der Antragstellerin grundsätzlich gegeben sind. Wegen des Fehlens einer ordnungsgemäßen Anhörung ist der streitgegenständliche Bescheid allerdings zur Überzeugung der Kammer formell rechtswidrig. Nach den Umständen des Falles folgt hieraus – ungeachtet der Möglichkeit, den Fehler im weiteren Verfahren zu heilen, – ein Überwiegen des Aussetzungsinteresses. Bezüglich der Räumungsanordnung (Nr. 1 des Bescheidtenors) war daher die aufschiebende Wirkung wiederherzustellen; hinsichtlich der hierauf Bezug nehmenden Zwangsmittelandrohungen (Nr. 2 des Bescheidtenors) war diese anzuordnen.
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1.1. Die Antragstellerin wurde vor dem Erlass des angefochtenen Bescheids nicht ordnungsgemäß angehört.
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Gemäß Art. 28 Abs. 1 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) ist vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben ist, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dabei hat die Behörde zum einen die tatsächlichen Umstände zu benennen, die sie ihrer Entscheidung als relevant zugrunde legen will und zum anderen den beabsichtigten Verwaltungsakt nach Art und Inhalt so konkret zu umschreiben, dass für den Beteiligten hinreichend erkennbar ist, weshalb und wozu er sich äußern können soll und mit welcher eingreifenden Entscheidung er zu welchem ungefähren Zeitpunkt zu rechnen hat (vgl. BVerwG, B.v. 20.12.2013 – 7 B 18.13 – ZUR 2014, 236; Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 28 Rn. 14 m.w.N.).
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Unmittelbar vor dem Erlass des Bescheids fand keine Anhörung der Antragstellerin in diesem Sinne statt. Eine solche stellt ferner auch das Schreiben der Antragsgegnerin vom … … 2022 nicht dar. Zum einen erwähnt dieses Schreiben lediglich die durch die Antragstellerin nicht (vollständig) entrichtete Benutzungsgebühr (§ 9 Abs. 3 Nr. 9 der Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung der Antragsgegnerin), im streitgegenständlichen Bescheid wird die Beendigung des Nutzungsverhältnisses aber auch auf weitere Gründe gestützt (keine ernsthaften Bemühungen um eigenen Wohnraum, pflichtwidriger Gebrauch der Unterkunft, Hausfriedensstörung gemäß § 9 Abs. 3 Nr. 2, 3 und 8 der Obdachlosenunterkunftsbenutzungssatzung). Zum anderen wurde das Benutzungsverhältnis trotz der im Schreiben vom … … 2022 für den Fall der Nichtbegleichung der offenen Forderungen bis zum … … 2023 angekündigten Räumung der Unterkunft mit weiterem Bescheid vom … … 2023 erneut bis zum … … 2023 verlängert. Vor dem Erlass des Bescheids vom … … 2023 hätte die Antragstellerin zu sämtlichen relevanten Tatsachen, die aus Sicht der Behörde für die Entscheidung von Bedeutung sind, informiert werden müssen, sodass sie dazu Stellung nehmen könnte.
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1.2. Diesen Anhörungsfehler hat die Antragsgegnerin bislang auch nicht geheilt.
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Eine Heilung gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG würde dabei voraussetzen, dass die Anhörung nachträglich ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Erforderlich wäre danach, dass der Beteiligte – nachträglich – eine vollwertige Gelegenheit zur Stellungnahme erhält und die Behörde die vorgebrachten Argumente zum Anlass nimmt, die ohne ausreichende Anhörung getroffene Entscheidung kritisch zu überdenken (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 3 C 16/11 – NJW 2012, 2823; SächsOVG, B.v. 21.5.2019 – 3 B 151/19 – BeckRS 2019, 9339 – Rn. 13 m.w.N.).
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Diese Voraussetzungen liegen hier schon deshalb nicht vor, weil sich die Antragsgegnerin im Antrags- bzw. Klageverfahren nicht geäußert hat, sodass eine Nachholung der Anhörung der Antragstellerin nicht erfolgt ist (bzw. nicht erfolgen konnte).
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1.3. Schließlich kann nach Aktenlage auch nicht angenommen werden, dass der Fehler nach Art. 46 BayVwVfG unbeachtlich wäre.
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Nach dieser Bestimmung kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach Art. 44 BayVwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zu Stande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
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Mit Blick auf Ermessensentscheidungen – und den Umstand, dass die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vorlagen, – lässt sich aber zumeist nicht mit Sicherheit ausschließen, dass die Behörde im Fall eines ordnungsgemäßen Verfahrens nicht zu einer abweichenden Sachentscheidung gekommen wäre, was zur Folge hat, dass die in Art. 46 BayVwVfG genannten Fehler bei Ermessensentscheidungen regelmäßig relevant sind (vgl. HessVGH, U.v. 6.5.2015 – 6 A 493/14 – BeckRS 2015, 47466 Rn. 41; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 46 Rn. 27). Bei der Prüfung dieser Frage ist ein objektiver Maßstab anzulegen. Auf den hypothetischen Willen der Behörde kommt es nicht an. Offensichtlichkeit liegt vor, wenn die fehlende Kausalität für einen unvoreingenommenen, mit den Umständen vertrauten und verständigen Beobachter zum Zeitpunkt der Entscheidung ohne weiteres und ohne jeden vernünftigen Zweifel erkennbar ist (vgl. Huck/Müller, VwVfG, 3. Aufl. 2020, § 46 Rn. 11; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 46 Rn. 34).
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Besondere Umstände, die hier die Annahme rechtfertigen könnten, der Verfahrensfehler wäre offensichtlich ohne Einfluss auf die Entscheidung geblieben, vermag das Gericht aber nicht zu erkennen. Unter Berücksichtigung des im Gerichtsverfahren erfolgten Vortrags der Antragstellerin, auf den bezüglich dessen, was bei ordnungsgemäßer Anhörung (möglicherweise) vorgebracht worden wäre, abgestellt werden kann, lässt sich nicht ohne weiteres und ohne jeden vernünftigen Zweifel konstatieren, dass die Berücksichtigung dieses Vorbringens (insbes. mit Blick auch auf die Aussichten auf eine Sozialwohnung) bei korrekter Verfahrenshandhabung das Verfahrensergebnis nicht hätte beeinflussen können, wobei wie ausgeführt ein objektiver Maßstab anzulegen ist und es auf den hypothetischen Willen der handelnden Behörde nicht ankommt.
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2. Dem Antrag war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG).