Titel:
zum abgeleiteten Flüchtlingsschutz für Familienangehörige
Normenkette:
AsylG § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, Abs. 5
Leitsatz:
Abgeleiteter Flüchtlingsschutz für Familienangehörige kommt dann nicht in Betracht, wenn das Kind erst im Aufnahmemitgliedstaat geboren und dort als schutzberechtigt anerkannt wurde. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sekundärmigration (Lettland), Folgeantrag, internationaler Schutz für Familienangehörige (verneint), Familie mit vier Kindern, subsidiärer Schutz in Lettland, unzulässiger Folgeantrag, subsidiärer Schutz für in Deutschland geborene Familienangehörige
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.03.2024 – 24 ZB 24.30079
Fundstelle:
BeckRS 2023, 44991
Tenor
1.Die Klagen werden abgewiesen.
2.Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner.
3.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Kläger sind nach den Angaben der Kläger zu 1 und 2 syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Sie seien am 03.05.2017 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und stellten am 09.05.2017 Asylanträge.
2
Im Erstverfahren lehnte das Bundesamt die Asylanträge mit Bescheid vom 05.07.2017 als unzulässig ab (Nr. 1), nachdem es in Erfahrung gebracht hatte, dass den Klägern bereits in Lettland am 10.04.2017 der subsidiäre Schutz zuerkannt worden war. In dem Bescheid vom 05.07.2017 wurde weiter das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint (Nr. 2). Den Klägern wurde ferner die Abschiebung nach Lettland angedroht und es wurde festgestellt, dass die Kläger nicht nach Syrien abgeschoben werden dürfen (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
3
Die gegen den Bescheid vom 05.07.2017 erhobene Klage bleib im Wesentlichen erfolglos. Das Verwaltungsgericht Bayreuth hob mit Urteil vom 14.02.2018 lediglich die Nr. 3 des Bescheids insoweit auf, als den Klägern eine Ausreisefrist von 30 Tagen gesetzt wurde (Az. B 3 K 17.32501). Mit Rücknahme eines Antrags auf Zulassung der Berufung seitens der Beklagten wurde das Urteil vom 05.07.2017 rechtskräftig (BayVGH, B.v. 3.5.2019 – 20 ZB 18.30605).
4
Mit weiterem Bescheid vom 03.07.2019 änderte das Bundesamt den Bescheid vom 05.07.2017 hinsichtlich der Ausreisefrist. Eine gegen diesen Änderungsbescheid erhobene Klage blieb ohne Erfolg (Gb. v. 9.2.2021 – B 3 K 19.30887).
5
Im Erstverfahren wurde gegenüber dem Bundesamt sinngemäß im Wesentlichen vorgetragen, die Kläger hätten in Lettland Alltagsdiskriminierungen (z.B. Beschimpfung im Bus; Empfindung eines Kindes, in der Schule nicht willkommen zu sein – „komisch angeschaut worden“) erfahren; es sei dort zu einem großen Teil russisch gesprochen worden. In den sich anschließenden Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth war dieser Vortrag weiter ausgebaut bzw. gesteigert worden (auf die Einzelheiten wird verwiesen).
6
Hinsichtlich eines weiteren Kindes der Kläger zu 1 und 2 (Sohn …, geb. …*) lehnte das Bundesamt den Asylantrag mit Bescheid vom 23.01.2020 als unzulässig ab. Mit Gerichtsbescheid vom 09.02.2021 hat das Verwaltungsgericht Bayreuth den Bescheid vom 23.01.2020 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Daraufhin wurde ein nationales Asylverfahren durchgeführt und der Asylantrag des Kindes … mit Bescheid vom 20.08.2021 abgelehnt. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hatte Erfolg (U.v. 9.6.2022 – B 3 K 21.30654). Die Beklagte wurde verpflichtet, dem Kind … den subsidiären Schutz zuzuerkennen. Nach entsprechender Rechtskraft dieses Urteils wurde dem Kind … sodann mit Bescheid vom 08.08.2022 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt.
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Die vorliegend streitgegenständlichen Folgeanträge wurden am 04.11.2022 beim Bundesamt angebracht.
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Der Bevollmächtigte wies schriftlich darauf hin, dass dem Kind … zwischenzeitlich der subsidiäre Schutz zuerkannt worden sei. Die Kläger zu 1 und 2 wurden ferner nach den Gründen für ihren Folgeantrag befragt und verwiesen in diesem Kontext darauf, dass sie nicht nach Syrien zurückkönnten (wurde weiter ausgeführt). In Deutschland lebten sie seit mehr als fünf Jahren, die Kinder besuchten die Schule und seien hier integriert. Der Kläger zu 1 habe einen Ausbildungsvertrag zum Pflegeassistenten.
9
Mit Bescheid vom 24.01.2023 lehnte das Bundesamt die Folgeanträge als unzulässig ab (Nr. 1). Die Anträge auf Abänderung des Bescheides vom 05.07.2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG wurden ebenfalls abgelehnt (Nr. 2).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, die Anträge seien unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung von weiteren Asylverfahren nicht vorlägen. Der Erstantrag der Kläger sei als unzulässig abgelehnt worden. Ein Abschiebungsverbot für Syrien sei festgestellt worden. Daher könnten sich die Ausführungen zu einer Verfolgungsgefahr bei Rückkehr nach Syrien nicht zu Gunsten der Kläger auswirken. Dies gelte auch im Hinblick auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Sohn … § 26 Abs. 3 und 5 AsylG sei dahingehend auszulegen, dass der Stammberechtigte bereits im Herkunftsland Teil der Familie gewesen sein müsse. Zumindest müsse zum Zeitpunkt der Ausreise bereits eine Schwangerschaft bestanden haben. Da er erst am … in Deutschland geboren worden sei und die Familie jedoch bereits seit Mai 2017 in Deutschland sei, lägen diese Voraussetzungen nicht vor. Ebenfalls nicht gegeben seien die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Die Antragsteller hätten keine Umstände vorgetragen, die zu einem vom Erstverfahrensbescheid abweichenden Ergebnis bezüglich der Feststellung von Abschiebeverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG führen würden. Auf die weiteren Ausführungen wird verwiesen.
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Mit am 03.02.2023 eingegangenem Schriftsatz ließen die Kläger gegen den Bescheid vom 24.01.2023 Klage erheben.
12
Die Kläger beantragen,
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zum Az. … vom 24.01.2023 wird aufgehoben.
- 2.
-
Hilfsweise wird beantragt, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Lettland vorliegen.
- 3.
-
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
13
Zur Begründung der Klage wurde geltend gemacht, dass der streitgegenständliche Bescheid fehlerhaft sei, denn die Zuerkennung von subsidiärem Schutz für Familienangehörige (§ 26 Abs. 3 und 5 AsylG) sei zu Unrecht versagt worden. Auf entsprechende obergerichtliche Rechtsprechung wurde hingewiesen. Danach sei es nicht zutreffend, dass der Stammberechtigte, hier das Kind …, bereits im Herkunftsland Teil der Familie habe gewesen sein müssen. Die Eheschließung der Kläger zu 1 und 2 sei bereits im Jahr 2007 erfolgt. Ferner wurde geltend gemacht, dass den Klägern bei Rückkehr nach Lettland dort eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK drohe. Es wurde in diesem Zusammenhang auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 03.09.2020 – Az. 15 K 14001/17.A – verwiesen.
14
Die Beklagte beantragt,
15
Zur Begründung bezog sich das Bundesamt auf die angefochtene Entscheidung.
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Nachdem der Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden war und die Anträge der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe verbeschieden wurden (Beschlüsse vom 11.08.2023 bzw. 14.08.2023), hat das Bundesverwaltungsgericht im November 2023 eine Pressemitteilung veröffentlich, die die vorliegend in erster Linie im Raum stehende Frage der Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG betrifft.
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Auf eine Anfrage des Gerichts, ob vor diesem Hintergrund die Klagen zurückgenommen werden könnten, ließen die Kläger mitteilen, dass eine Rücknahme nicht in Betracht komme. Es sei notfalls beabsichtigt, die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht überprüfen zu lassen.
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Mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren haben sich die Kläger einverstanden erklärt.
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Im Übrigen wird auf die Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Nach entsprechendem Hinweis an die Beteiligten (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG) kann das Gericht über die Klagen durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
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Die zulässigen Klagen haben in der Sache keinen Erfolg. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Das Bundesamt hat es zu Recht abgelehnt, zugunsten der Kläger ein Folgeverfahren durchzuführen. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist die Ablehnung des Antrags auf Abänderung der mit Bescheid vom 05.07.2017 getroffenen Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
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In der Sache selbst schließt sich das Gericht zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst im Wesentlichen den Gründen des angefochtenen Bescheides an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend ist zur Sache sowie zur Klage das Folgende auszuführen:
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1. Die Durchführung eines Folgeverfahrens ist vorliegend nicht mit Blick darauf geboten, dass dem Sohn … nach dem Abschluss des Erstverfahrens der Kläger zwischenzeitlich bestandskräftig der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde. Ausgehend vom Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) kommt ein Anspruch der Kläger auf internationalen Schutz für Familienangehörige – abgeleitet vom Schutzstatus des Sohnes … – von vornherein nicht in Betracht.
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Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Kontext der (auch oberverwaltungsgerichtlich) vertreten gewesenen Rechtsauffassung eine Absage erteilt, wonach ein abgeleiteter Flüchtlingsschutz für Familienangehörige auch dann in Betracht komme, wenn das Kind erst im Aufnahmemitgliedstaat geboren und dort als schutzberechtigt anerkannt wurde (§ 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG). Vielmehr hat das Bundesverwaltungsgericht betont, dass Voraussetzung für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für Familienangehörige ist, dass die Familie schon im Herkunfts- bzw. Verfolgerstaat bestanden hat. Diese Voraussetzung ergibt sich nicht nur aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG. Auch die unionsrechtliche Regelung über die Wahrung des Familienverbands in Art. 2 Buchst. j i.V.m. Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU, die der deutsche Gesetzgeber mit § 26 AsylG (überschießend) umgesetzt hat und auf die er darin ausdrücklich verweist, bezieht Familienangehörige nur insoweit ein, als die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden hat. Der dort jeweils verwendete Familienbegriff bezieht sich nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck der Regelung gerade auf das familiäre Verhältnis zwischen dem Stammberechtigten und dem Familienangehörigen, der den abgeleiteten Schutzstatus bzw. die Wahrung des Familienverbands begehrt. Danach scheidet ein Familienschutz für Eltern und Geschwister von vornherein aus, wenn das stammberechtigte Kind – wie hier – erst in Deutschland geboren wurde. Dem steht auch nicht entgegen, dass minderjährige Kinder eines Schutzberechtigten den abgeleiteten Schutz erhalten können, wenn die familiäre Beziehung erst in Deutschland entstanden ist, weil § 26 Abs. 2 AsylG insoweit nicht verlangt, dass die Familie bereits im Verfolgerstaat bestanden haben muss. Hierbei handelt es sich um eine über die Vorgaben des Unionsrechts hinausgehende bewusste Privilegierung, für die hinreichende sachliche Gründe bestehen (vgl. Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.11.2023, Nr. 87/2023).
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2. Ein Folgeverfahren ist auch nicht mit Blick auf die (Lebens-)Verhältnisse durchzuführen, die die Kläger bei hypothetischer Rückkehr im Familienverband nach Lettland erwarten würden.
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Liegen die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus Gründen des vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die den anerkannt Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, diesen der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540.17; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297-17; BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19; BVerwG, U.v. 21.4.2020 – 1 C 4/19 – alle juris). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK (vgl. SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris) im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten bzw. einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung zu prüfen sind.
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Den hiesigen Klägern würde jedoch bei hypothetischer Rückkehr nach Lettland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, dort eine Behandlung zu erfahren, die mit Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK nicht zu vereinbaren ist.
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Systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen fallen nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann unter Art. 4 GrCh, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt und die dann erreicht wäre, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich die betroffene Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 m.w.N.).
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Nach diesen Maßstäben kann auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel nicht zugunsten der Kläger festgestellt werden, dass bei deren Rückkehr nach Lettland die Gefahrenschwelle des Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK erreicht würde.
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Bei den Klägern zu 1 und 2 handelt es sich um gesunde Erwachsene, die durch eigene Arbeitstätigkeit ihren Lebensunterhalt sichern können; beide verfügen mit dem Fachabitur im Elektrobereich (Kläger zu 1) bzw. dem Fachabitur im Handelsbereich (Klägern zu 2) über eine ordentliche berufliche (Grund-)Ausbildung (vgl. jeweils S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 10.05.2017 im Erstverfahren). Es ist in keiner Weise erkennbar, dass die Kläger zu 1 und 2 im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht in der Lage wären, durch eigene Arbeit das Notwendige zum Unterhalt der Familie zu erwirtschaften. Nach den eingeführten Quellen ist die wirtschaftliche Lage in Lettland auch keineswegs derart desolat, dass realistische Erwerbsmöglichkeiten für die Kläger zu 1 und 2 zu verneinen wären. So herrscht beispielsweise auch in Lettland mittlerweile ein Mangel an Fachkräften (vgl. GTAI, Arbeitsmarkt – Lettland (22.02.2023). Für das laufende und die kommenden Jahre wird ein moderates Wirtschaftswachstum prognostiziert (vgl. Statista, Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1994 bis 2022 und Prognosen bis 2028) und die Arbeitslosenquote ist – abgesehen von einem Anstieg im „Corona-Jahr“ 2020 – kontinuierlich auf nun für das Jahr 2023 erwartete ca. 6,5% gesunken (vgl. Statista, Arbeitslosenquote von 1993 bis 2022 und Prognosen bis 2028). Dies gilt ungeachtet des Umstands, dass Lettland auch zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat (vgl. das vom Bevollmächtigten vorgelegte Urteil des VG Düsseldorf vom 29.12.2022, dort S. 9). Insgesamt erweist sich die wirtschaftliche Situation Lettlands als robust, obwohl dort im Herbst 2023 täglich hunderte Migranten an der Grenze zu Belarus registriert wurden, worauf gar über eine Schließung eines Grenzübergangs debattiert wurde und es auch tatsächlich zu Zurückweisungen gekommen sein soll. Bei der Bewertung dieses Sachverhalts ist aber auch einzubeziehen, dass Lettland oftmals nicht das Zielland von dort einreisenden Migranten und Asylbewerbern ist, sondern Menschenschmuggler den Betreffenden dabei helfen, in Lettland z.B. mit dem Auto weiterzukommen – oft bis nach Deutschland. Für den Transport von der Grenze bis nach Deutschland werden oftmals 1.600 USD pro Person verlangt und bezahlt (vgl. Zeit-Online: Lettland registriert täglich Hunderte Migranten an Grenze zu Belarus – 12.09.2023; Tagesschau: Migration über Belarus, „Hybrider Angriff auf Lettland“ – 14.10.2023). Es liegt auf der Hand, dass Lettland auf diese Weise auch eine Entlastung von dem gegenwärtigen Migrationsdruck erfährt, was sich nicht zuletzt auch in den absoluten Zahlen der dort registrierten Asylbewerber niederschlägt, die auch unter Berücksichtigung der Größe und Einwohnerzahl Lettlands nur als moderat bezeichnet werden können (vgl. Statista: Anzahl der Asylbewerber und erstmaligen Asylbewerber im Zeitraum Juli 2022 bis Juli 2023: Asylbewerber im Juli 2023 insgesamt unter 150 Personen).
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Absehbar kann bei hypothetischer Rückkehr auch der Kläger zu 3, der mittlerweile das 15. Lebensjahr vollendet hat, zum Unterhalt der Familie etwas beitragen. In Lettland steht der Zugang zur berufliche Bildung allen Jugendlichen ab 15 Jahren unabhängig vom Bildungsstand offen. Programme der beruflichen Grundschulbildung werden mit einem entsprechenden Zeugnis abgeschlossen, was bereits dem ersten nationalen lettischen Qualifikationsniveau entspricht und zu Hilfstätigkeiten und der Ausführung grundlegender Aufgaben in einem bestimmten Beruf befähigt; als Beispiel wird Küchengehilfe genannt (vgl. BQ-Portal – Berufsbildungssystem Lettland).
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Im Übrigen können sich die Kläger zu 1 und 2 in Sachen Erwerbstätigkeit und Betreuung vor allem der kleineren Kinder gegenseitig ergänzen und unterstützen. Kinder können in Lettland bereits ab 1,5 Jahren in einem Kindergarten aufgenommen werden (vgl. vacu-valoda.lv: Kindergarten, Schule und Ausbildung in Lettland), was die Möglichkeiten eigener Erwerbstätigkeit für die Kläger zu 1 und 2 vergrößert.
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Bei dieser Konstellation ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger bei hypothetischer Rückkehr und entsprechendem ebenso zumutbarem wie zu erwartendem Engagement nicht in der Lage sein werden, ihren Lebensunterhalt in Lettland selbst zu erwirtschaften. Etwaige für die Anfangszeit nach der Rückkehr notwendige Unterstützung in Form von Sozialhilfe kann bei kommunalen Behörden beantragt werden; es ist nicht ersichtlich, dass diese Möglichkeit deshalb verschlossen wäre, weil der Zeitraum von sieben Monaten in den ersten 12 Monaten nach der Anerkennung, in dem subsidiär Schutzberechtigte staatliche Unterstützungsleistungen beanspruchen können, bereits verstrichen ist (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Osnabrück, 05.08.2019 – Gz. 508-516.80/52220). Darüber hinaus können nach den eingeführten Erkenntnismitteln gerade Familien mit Kindern in Lettland spezifische Leistungen, je nach dem Alter des Kindes, in Anspruch nehmen (vgl. Europäische Kommission: Beschäftigung, Soziales und Integration – Lettland (aktualisiert 2023): Geburtsbeihilfe, Mutterschafts-/Vaterschaftsgeld, Erziehungsgeld, Elternschaftsgeld, Kindergeld).
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Ohne dass dies vor dem geschilderten Hintergrund mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit notwendig sein wird, käme ferner in Betracht, dass die Kläger zu 1 und 2 von ihren zahlreichen Verwandten Unterstützung zumindest für eine Übergangszeit erlangen können (der Kläger zu 1 hat im Erstverfahren seine Eltern und eine Schwester erwähnt, die Klägerin zu 2 ihren Vater und insgesamt sogar sechs Geschwister, nämlich drei Schwestern und drei Brüder – vgl. jeweils S. 3 der Anhörungsniederschrift vom 10.05.2017 im Erstverfahren).
35
Bei dieser Gesamtsituation ist im Falle der Familie der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass sie bei hypothetischer Rückkehr in eine Situation extremer materieller Not geraten würden (vgl. im Ergebnis ähnlich VG Chemnitz, B.v. 2.11.2023 – 7 L 421/23.A; VG Frankfurt (Oder), U.v. 17.06.2021 – 10 K 1087/17.A; VG Magdeburg, U.v. 16.06.2020 – 8 A 49/20; U.v. 14.10.2019 – 8 A 33/19; VG Cottbus, U.v. 12.05.2020 – 5 K 2635/17.A; VG Berlin, B.v. 31.08.2018 – 34 L 207.18 A – alle juris).
36
Schließlich ist nicht erkennbar, dass ein aktuelles Positionspapier des UNHCR die Staaten ausdrücklich dazu auffordern oder ihnen generell empfehlen würde, von Abschiebungen anerkannt Schutzberechtigter nach Lettland abzusehen, da vom Vorliegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen auszugehen sei. Die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind aber im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in einem Mitgliedstaat angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die – bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrens zu beachtende – Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, besonders relevant (vgl. EuGH, U.v. 30.5.2013 – C-528/11; s.a. EGMR, U.v. 3.7.2014 – 71932/12).
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3. Ausgehend von den Erwägungen unter Nr. 2 können die Kläger auch nicht (hilfsweise) beanspruchen, dass das Bundesamt zu ihren Gunsten das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG feststellt. Aus den im Erstverfahren vorgebrachten und im vorliegenden Verfahren nicht näher wiederaufgegriffenen Alltagsdiskriminierungen, die sie in Lettland erlebt hätten, ergibt sich kein Abschiebungsverbot, wenngleich nicht verkannt wird, dass tatsächlich erlebte Ablehnung von Teilen der Aufnahmegesellschaft durchaus nachvollziehbar belastend sein kann. Dass bei Rückkehr – und den auch in Lettland zu unterstellenden Integrationsbemühungen der Kläger – aber die für ein Abschiebungsverbot anzulegende Schwelle erreicht würde, ist in keiner Weise erkennbar.
38
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.