Titel:
Trotz fehlender Feststellung einer neuen rechtswidrigen Tat im Rahmen eines Straf- oder Sicherungsverfahrens, kann eine Aussetzung der Unterbringung auch wegen des Zustandes des Verurteilten widerrufen werden.
Normenkette:
StGB § 20, § 21, § 63, § 64, § 67e, § 67g Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 67h Abs. 1
Leitsätze:
1. Für den Widerruf der Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB muss die Begehung einer rechtswidrigen Tat während der Dauer der Führungsaufsicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Liegt kein rechtskräftiges Urteil und kein glaubhaftes Geständnis des Verurteilten vor, kann sich das Gericht die erforderliche Überzeugung von der Tatbegehung wegen der Unschuldsvermutung nicht allein aufgrund der Aktenlage verschaffen. (Rn. 19 – 20)
2. Ist die Feststellung einer neuen rechtswidrigen Tat im Rahmen eines Straf- oder Sicherungsverfahrens aus rechtlichen Gründen nicht zu erwarten, ist der Rückgriff auf den Widerrufsgrund des § 67g Abs. 2 StGB nicht ausgeschlossen. (Rn. 23)
3. Der Widerruf nach § 67g Abs. 2 StGB knüpft nicht an ein Verhalten des Verurteilten an, sondern an seinen Zustand. Bei der Prüfung, ob von ihm infolge seines Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel seine Unterbringung erfordert, können im Freibeweisverfahren festgestellte Umstände bei der Begehung der neuen Tat herangezogen werden. Die Begehung neuerlicher Straftaten kann dabei ein maßgebliches Zeichen dafür sein, dass sich der Zustand verschlechtert hat und weitere Taten zu erwarten sind. (Rn. 24)
1. Die im Vollstreckungsverfahren im Freibeweisverfahren festgestellten Umstände bei der Begehung einer neuen Tat können bei der Würdigung des Zustands des Verurteilten in einer Zusammenschau so wie alle anderen relevanten Umstände herangezogen werden. Auf den inneren Zustand einer Person und der sich daraus ergebenden Gefährlichkeit kann nur durch Äußerungen oder wahrnehmbares Verhalten geschlossen werden. Die Begehung neuerlicher Straftaten kann dabei ein maßgebliches Zeichen dafür sein, dass sich der Zustand des Verurteilten verschlechtert und von ihm weitere rechtswidrige Taten zu erwarten sind. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein solcher Rückgriff ist auch nicht ausgeschlossen, wenn dem Widerruf ein Verhalten des Verurteilten zugrunde gelegt werden soll, dessen Eignung als Anlasstat im Sinne des § 67g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB im Rahmen des dafür vorgesehenen Erkenntnisverfahrens erst noch festgestellt werden muss. Denn nicht die Straftat an sich, sondern der aus dem Verhalten gezogene Rückschluss auf den Zustand des Verurteilten ist zu berücksichtigten. Lässt sich aus den Tatumständen nicht schließen, dass sich nunmehr aus dem Zustand des Verurteilten ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind, ist ein Bewährungswiderruf nach § 67g Abs. 2 StGB trotz der neuen Straftat nicht möglich. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unterbringung, Erkenntnisverfahren, Freibeweis, Bewährung, Aussetzungswiderruf, Zustand, Krisenintervention
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 07.11.2023 – BwR 2 KLs 950 Js 161359/19
Fundstellen:
BeckRS 2023, 44836
StV 2025, 35
LSK 2023, 44836
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Landgerichts Nürnberg-Fürth – 2. Strafkammer – vom 07.11.2023, mit dem die Aussetzung der durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23.11.2020 angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung widerrufen wurde, wird als unbegründet verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Gründe
1
Mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23.11.2020 (Az.: 2 KLs 950 Js 161359/19), rechtskräftig seit dem 01.12.2020, wurde der Beschwerdeführer vom Tatvorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen sowie des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung aus rechtlichen Gründen freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass beim Beschwerdeführer die Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB nicht ausschließbar vorlägen und bei ihm zu den Tatzeitpunkten sicher die Voraussetzungen des § 21 StGB vorgelegen haben. Beim Beschwerdeführer habe zum Zeitpunkt der Begehung der Taten eine paranoide Schizophrenie gemäß ICD 10-Kategorie F20.0 vorgelegen. Zudem seien in der Explorationssituation Auffälligkeiten aufgetreten, die als schizophrener Residualzustand gemäß ICD 10-Kategorie F20.5 einzuordnen seien. Im Hinblick auf die Geschehnisse am 25.08.2018 (Tatvorwurf der gefährlichen Körperverletzung mittels Einsatzes eines Messers gegen den Kopf des Geschädigten) sei es durch ein Zusammenwirken verschiedener Aspekte zu einem vermehrten Erregungszustand des Beschwerdeführers gekommen, was im Zusammenhang mit der paranoiden Schizophrenie zu einer sicher verminderten, wenn nicht sogar aufgehobenen Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers geführt habe. Hinsichtlich der Geschehnisse am 22.04.2018 (Tatvorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen sowie des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung) sei es durch Zusammenwirken mehrerer Aspekte, der beginnenden Schizophrenie, des Drogenkonsums sowie real erlebtes Belastendes zu einer nicht auszuschließenden Aufhebung der Steuerungsfähigkeit beim Beschwerdeführer gekommen.
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Die Strafkammer ging sachverständig beraten davon aus, dass aufgrund der vorliegenden paranoiden Schizophrenie mit schizophrenem Residualzustand vom Beschwerdeführer die Gefahr der Begehung weiterer, den Anlasstaten vergleichbarer Straftaten ausgeht und er deshalb nach § 63 StGB untergebracht werden muss. Zum Zeitpunkt des Urteilserlasses sei zwar aufgrund der eingerichteten Betreuung des Beschwerdeführers und der bereits im Rahmen der vorläufigen Unterbringung erfolgten Medikamentenverabreichung eine gewisse Stabilisierung des Zustands des Beschwerdeführers und seiner Krankheit eingetreten. Eine anhaltende Bewältigung der Krankheit oder zumindest eine Krankheitseinsicht liege beim Beschwerdeführer jedoch noch nicht vor, weshalb er nach wie vor gefährlich sei.
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Das Landgericht setzte die Unterbringung nach § 63 StGB zur Bewährung aus. Es führte aus, dass besondere Umstände erkennbar seien, die die Erwartung rechtfertigen würden, dass der Zweck der Maßregel auch durch deren Aussetzung zur Bewährung erreicht werden könne. Neben der Tatsache, dass der Beschwerdeführer unter Betreuung stehe und sich regelmäßig der erforderlichen Medikation in Form einer Depotspritze unterziehe, sei positiv im Sinne der Kriminalprognose zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer seine Beschäftigung als Friseur wieder aufgenommen habe und wieder selbständig in einer Wohnung wohne.
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Die Bewährungszeit wurde auf vier Jahre festgesetzt.
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Die Staatsanwaltschaft N.-F. führte unter dem Aktenzeichen 412 Js 50703/23 ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, Tatzeit: 17.01.2023, gegen den Beschwerdeführer und erwirkte am 18.01.2023 einen Unterbringungsbefehl gegen diesen, weshalb der Beschwerdeführer ab da einstweilig in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht war. Die Staatsanwaltschaft beauftragte den Sachverständigen Dr. W. mit der Erstattung eines Gutachtens zum Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63 und 64 StGB, welches dieser am 07.08.2023 erstattete. Danach sei weiterhin vom Vorliegen einer phasenhaft verlaufenden paranoiden Schizophrenie auszugehen, wobei er auf die Vorbefunde verweist, insbesondere aus dem Zeitraum der vorläufigen Unterbringung des Beschwerdeführers seit dem 18.01.2023. Eine zusätzliche Diagnose sei nicht zu stellen. Unter der konsequent stattgefundenen Medikation habe sich bisher zwar eine gute Stabilisierung erreichen lassen. Der zwischenzeitlich zustande gekommene Restzustand der entsprechenden Problematik könne unter die ICD 10-Kategorie F20.5 – Residualsyndrom einer schizophrenen Erkrankung – subsumiert werden. Der Beschwerdeführer habe zwar vor der Tat vom 17.01.2023 erneut Kokain konsumiert, dieser Konsum sei jedoch nicht (allein-) ursächlich für das Wiederauftreten des paranoiden Syndroms gewesen. Als Auslösemechanismen der neuerlichen Krankheitsepisode bezeichnet er eine emotionale Belastung, Wegfall von Unterstützung, Suchtmittelkonsum und insbesondere Vernachlässigung notwendiger Behandlung. Infolge seines psychotischen Zustandes sei zum Tatzeitpunkt seine Einsichtsfähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen, wobei es nahe liege, von einer aufgehobenen Steuerungsfähigkeit auszugehen. Vom Beschwerdeführer gehe die Gefahr der Begehung weiterer, der Anlasstat vergleichbarer Aggressionsdelikte aus, weshalb aus Sicht des Sachverständigen die Voraussetzungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegeben sind. Im Hinblick auf die Behandlungsmöglichkeiten wies er zunächst auf die zwischenzeitlich wieder gut vorhandene Bereitschaft zur medikamentösen Behandlung hin, hob jedoch hervor, dass der zunächst ambulante Ansatz als gescheitert anzusehen sei. Die soziale Situation habe sich beim Beschwerdeführer zwischenzeitlich verkompliziert, so verfüge er über keine Arbeit mehr und er sei krankheitsbedingt auch nicht zur umfassenden Krankheitseinsicht in der Lage. Die stationäre Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus müsse darauf ausgerichtet werden, seine soziale Situation wieder zu stabilisieren und beim Beschwerdeführer die Krankheitseinsicht und die Bereitschaft, sich medikamentös behandeln zu lassen, derart zu verfestigen, dass diesen auch eventuelle Änderungen in den Rahmenbedingungen nichts anhaben können.
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Die Staatsanwaltschaft stellte deshalb am 16.08.2023 beim Landgericht Nürnberg-Fürth den Antrag, gegen den Beschwerdeführer das Hauptverfahren im Sicherungsverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth zu eröffnen, die Fortdauer der Unterbringung anzuordnen und einen neuen Unterbringungsbefehl unter Aufhebung des alten zu erlassen und dem Beschwerdeführer zu eröffnen.
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Das Landgericht Nürnberg-Fürth – 17. Strafkammer – lehnte mit Beschluss vom 02.10.2023 die Anträge ab, hob den Unterbringungsbefehl vom 18.01.2023 auf und sprach dem Beschwerdeführer eine Entschädigung für die erlittene einstweilige Unterbringung zu. Der Beschwerdeführer wurde in dieser Sache am selben Tag aus der einstweiligen Unterbringung entlassen. Gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens im Sicherungsverfahren legte die Staatsanwaltschaft N.-F. mit am selben Tag bei Gericht eingegangenen Schreiben vom 05.10.2023 sofortige Beschwerde ein, die sie mit am 09.10.2023 eingegangenen Schreiben begründete. Mit Beschluss vom 28.12.2023 (Az.: Ws 1002/23) hat der Senat die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft N.-F. als unbegründet verworfen.
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Im vorliegenden Vollstreckungsverfahren berichtete die zuständige Bewährungshelferin zuletzt mit Bericht vom 08.11.2022 über den Verlauf der Bewährung. Nachdem bekannt wurde, dass sich der Beschwerdeführer seit dem 18.01.2023 in anderer Sache in der einstweiligen Unterbringung im Klinikum am E. in E. befand, erholte das Gericht mit Schreiben vom 01.03.2023 eine ärztliche Stellungnahme über die aktuelle psychische Verfassung des Beschwerdeführers und der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit, welche mit Schreiben vom 14.03.2023 abgegeben wurde. Zudem wurden ihm die Unterlagen (Antragsschrift und Sachverständigengutachten des Dr. W. vom 07.08.2023) im Verfahren, Az.: 412 Js 50703/23, übersandt. Am 29.09.2023 erließ die 1. Strafkammer einen Sicherungsunterbringungsbefehl gegen den Beschwerdeführer, der ihm am selben Tag eröffnet wurde. Im Termin am 29.09.2023 berichteten die Behandelnden über den Verlauf der ambulanten Behandlung und der einstweiligen Unterbringung. Außerdem hatte der Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme zu einem eventuellen Widerruf. Seit dem 02.10.2023 befindet er sich in dieser Sache aufgrund des Sicherungsunterbringungsbefehls in einem psychiatrischen Krankenhaus, derzeit im Klinikum am E. in E..
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Am 24.10.2023 gingen beim Landgericht weitere Unterlagen des Klinikums am E. in E. über eine Ereignismeldung vom Mai 2023 ein. Am 30.10.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft N.-F. den Widerruf der Aussetzung zur Bewährung der Unterbringung nach § 63 StGB.
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Mit Beschluss vom 07.11.2023 widerrief die 1. Strafkammer die Aussetzung zur Bewährung der durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 23.11.2020 angeordneten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und ordnete die Aufrechterhaltung des Sicherungsunterbringungsbefehls vom 29.09.2023 an.
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Gegen den Widerrufsbeschluss legte der Beschwerdeführer mit Schreiben seines Verteidigers vom 07.11.2023, eingegangen bei Gericht am 09.11.2023, sofortige Beschwerde ein und trug darin vor, dass ein Widerruf nicht erforderlich sei, eine Verlängerung der Bewährungszeit reiche aus. In der Beschwerdebegründung vom 27.12.2023 legte er dar, dass die Voraussetzungen für den Widerruf gemäß § 67g Abs. 2 StGB nicht vorliegen würden. Wie die Tat vom 17.01.2023 zeige, seien vom Beschwerdeführer keine erheblichen Straftaten im Sinne des § 63 StGB zu befürchten. Jedenfalls sei vorrangig eine Krisenintervention nach § 67h StGB anzuordnen.
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Die Generalstaatsanwaltschaft N. beantragte, die sofortige Beschwerde kostenfällig als unbegründet zu verwerfen.
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Der Beschwerdeführer hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
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Die sofortige Beschwerde des Untergebrachten ist zwar zulässig (§§ 463 Abs. 6 S. 1 i.V.m. 462 Abs. 3 S. 1, 306, 311 Abs. 2 StPO), in der Sache bleibt ihr jedoch der Erfolg versagt.
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Die Voraussetzungen für den Widerruf der dem Beschwerdeführer gewährten Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung gemäß § 67g Abs. 2 StGB sind erfüllt.
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1. Die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung kann nicht nach § 67b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB widerrufen werden.
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a. Voraussetzung dafür ist, dass der Beschwerdeführer während der Dauer der Führungsaufsicht eine rechtswidrige Tat begangen hat und sich daraus ergibt, dass der Zweck der Maßregel seine Unterbringung nach § 63 StGB erfordert.
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b. Zwar kommt als „rechtswidrige Tat“ die dem Beschwerdeführer mit der Antragsschrift der Staatsanwaltschaft N.-F. vom 10.08.2023 zur Last gelegte versuchte gefährliche Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen am 17.01.2023 in Betracht.
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Die Begehung dieser Straftat steht aber zur Überzeugung des Gerichts nicht fest. Es gilt der gleiche Maßstab wie für den Widerruf nach § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB (MüKoStGB/Groß/Veh, 4. Aufl. 2020, StGB § 67g Rn. 4, 5; § 56f Rn. 9, 10 und Rn. 40-42 m.w.N., zitiert nach beck-online). Es liegt keine rechtskräftige Verurteilung vor, noch ist eine solche zu erwarten (Fischer, StGB, 71. Aufl., § 56f Rn. 4 ff. m.w.N.). Das Landgericht Nürnberg-Fürth – 17. Strafkammer – hat den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des Sicherungsverfahrens abgelehnt. Die dagegen von der Staatsanwaltschaft N.-F. eingelegte sofortige Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 28.12.2023 als unbegründet verworfen. Da der Beschwerdeführer den Tatvorwurf bestritten und sich auf eine Notwehr- bzw. Nothilfelage berufen hat, liegt auch kein Geständnis der Tat vor (vgl. BVerfG in NJW 2005, 817; EGMR in NJW 2004, 43, 45; Fischer, ebenda).
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c. Wegen der Unschuldsvermutung ist es dem Senat verwehrt, sich im Widerrufsverfahren die erforderliche Überzeugung von der Tatbegehung im Freibeweisverfahren aufgrund der Aktenlage des Ermittlungsverfahrens zu verschaffen.
21
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 09.05.2006 (3 StR 111/06, NStZ-RR 2007, 8-10, juris), mit dem auf die Revision des Angeklagten die erneute Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben wurde, da diese angesichts der bereits früher angeordneten Unterbringung unverhältnismäßig sei und das im Sicherungsverfahren geltende Strengbeweisverfahren keine besseren Möglichkeiten zur Feststellung der neuen Straftat biete als das Vollstreckungsverfahren der früheren Unterbringung. Die neue, während der Unterbringung begangene Straftat sei bei der im Vollstreckungsverfahren zu treffende Fortdauerentscheidung nach § 67e StGB in allen maßgeblichen Aspekten berücksichtigt worden.
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Vorliegend ist aber nicht über die Fortdauer der Unterbringung gemäß § 67e StGB, sondern über den Widerruf der Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung nach § 67g StGB zu entscheiden, für den die neue Tat in einer rechtskräftigen Verurteilung festgestellt oder der Angeklagte ein glaubhaftes Geständnis abgelegt haben muss. Der Beschwerdeführer soll zudem die neue Straftat nicht während der Unterbringung, sondern in Freiheit nach Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung während laufender Führungsaufsicht begangen haben.
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2. Die Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur Bewährung ist nach § 67g Abs. 2 StGB zu widerrufen, da sich während der Dauer der Führungsaufsicht ergeben hat, dass vom Beschwerdeführer infolge seines Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel seine Unterbringung erfordert. Die Anwendung dieser Vorschrift ist auch nicht ausgeschlossen.
24
a. Da der Widerruf nach dieser Vorschrift – anders als der Widerruf nach § 67g Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StGB – nicht an ein Verhalten des Probanden, sondern allgemein an dessen Zustand anknüpft, ist die Vorschrift restriktiv auszulegen (vgl. OLG Saarbrücken, Beschluss vom 18.09.2007, 1 Ws 150/07, juris Rn. 13, m.w.N.). Liegt ein Widerrufsgrund nach § 67g Abs. 1 StGB vor, bedarf es keines Rückgriffs auf § 67g Abs. 2 StGB.
25
Die im Vollstreckungsverfahren im Freibeweisverfahren festgestellten Umstände bei der Begehung der neuen Tat können aber bei der Würdigung des Zustands des Verurteilten in einer Zusammenschau so wie alle anderen relevanten Umstände herangezogen werden. Auf den inneren Zustand einer Person und der sich daraus ergebenden Gefährlichkeit kann nur durch Äußerungen oder wahrnehmbares Verhalten geschlossen werden. Die Begehung neuerlicher Straftaten kann dabei ein maßgebliches Zeichen dafür sein, dass sich der Zustand des Verurteilten verschlechtert und von ihm weitere rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Damit können neu begangene Straftaten bei der Feststellung des Zustands des Verurteilten, die einen Rückschluss auf den Zustand des Verurteilten ermöglichen, nicht ausgeblendet werden.
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Die Auffassung, dass ein solcher Rückgriff ausgeschlossen ist, wenn dem Widerruf ein Verhalten des Verurteilten zugrunde gelegt werden soll, dessen Eignung als Anlasstat im Sinne des § 67g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB im Rahmen des dafür vorgesehenen Erkenntnisverfahrens erst noch festgestellt werden muss (OLG Saarbrücken a.a.O.) übersieht, dass nicht die Straftat an sich, sondern der aus dem Verhalten gezogene Rückschluss auf den Zustand des Verurteilten berücksichtigt wird. Lässt sich aus den Tatumständen nicht schließen, dass sich nunmehr aus dem Zustand des Verurteilten ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind, ist ein Bewährungswiderruf nach § 67g Abs. 2 StGB trotz der neuen Straftat nicht möglich.
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Dies würde zudem zu einem widersprüchlichen Ergebnis führen: Handlungen des Verurteilten, die keinen Straftatbestand erfüllen, könnten bei der Feststellung seines Zustands immer berücksichtigt werden. Nicht berücksichtigt werden könnte indes, wenn der Verurteilte im Zustand der Schuldunfähigkeit eine Straftat begeht, wegen der aus Gründen der Verhältnismäßigkeit die neuerliche Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht angeordnet und deshalb kein Erkenntnisverfahren durchgeführt werden kann.
28
b. Die Strafvollstreckungskammer hat ausführlich und zutreffend dargelegt hat, dass sich während der Dauer der Führungsaufsicht ergeben hat, dass vom Beschwerdeführer infolge seines Zustands rechtswidrige Taten zu erwarten sind und deshalb der Zweck der Maßregel seine Unterbringung erfordert. Sie hat zutreffend dargelegt, dass während der Führungsaufsicht eine Verschlechterung der bestehenden psychischen Störung beim Beschwerdeführer eingetreten ist, wobei die Begehung der neuen Straftat als weiteres Anzeichen eines erneuten Schubs der Erkrankung neben anderen in die Gesamtwürdigung seines Zustands eingestellt wurde. Dem schließt sich der Senat vollumfänglich an.
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Für die Entscheidung besteht auch eine ausreichende Tatsachengrundlage. Es liegen Stellungnahmen der den Beschwerdeführer während der Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung und während der einstweiligen Unterbringung behandelnden Personen in der mündlichen Anhörung am 29.09.2023 sowie das im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft N.-F. (Az.: 412 Js 50703/23) erholte Gutachten des Sachverständigen Dr. W. vom 07.08.2023 vor. Der Sachverständige äußert sich zum Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63 und 64 StGB im dortigen Verfahren. Danach ist während der Dauer der Führungsaufsicht eine Verschlechterung des Krankheitszustandes beim Beschwerdeführer eingetreten, der zu der ernsthaften Besorgnis Anlass gibt, er werde weitere, erhebliche Straftaten begehen. Wie der Sachverständige nachvollziehbar darlegt, verlaufe die paranoide Schizophrenie beim Beschwerdeführer phasenhaft. Zum Zeitpunkt des Anlassurteils habe für die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung gesprochen, dass der Beschwerdeführer unter Betreuung stand, er die Depotmedikation akzeptierte und eine feste Arbeit und Wohnung hatte. Zu einem erneuten Ausbruch sei es durch ein Zusammenspiel mehrerer Aspekte gekommen, nämlich einer emotionalen Belastung, dem Wegfall von Unterstützung, Suchtmittelkonsum und insbesondere Vernachlässigung notwendiger Behandlung. Der Sachverständige sieht den ambulanten Ansatz deshalb als gescheitert an.
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Wie bereits im Ausgangsurteil dargelegt wurde, besteht damit aufgrund des Zustands des Beschwerdeführers die erhöhte Gefahr, dass er erneut impulsiv aggressiv reagiert und wahllos Personen körperlich, auch unter Einsatz von Waffen, wie z.B. Messern wie im Ausgangsurteil, zu Schaden kommen. Daran hat sich nichts geändert. Dabei handelt es sich auch um erhebliche Taten im Sinne des § 63 StGB, da sie geeignet sind, die Opfer körperlich erheblich zu schädigen bzw. erheblich zu gefährden. Dass es bei der Tat am 17.01.2023 zu keiner Verletzung bei den mit einem Rasiermesser ohne Klinge Angegriffenen kam, spricht nicht dagegen. Maßgebend ist die vom Sachverständigen dargelegte Erwartung, dass es wegen des Zustands des Beschwerdeführers auch zu einem Einsatz von gefährlichen Werkzeugen kommen kam, wie im Ausgangsurteil dargelegt.
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Aus den Ausführungen des Sachverständigen ist weiter zu entnehmen, dass der Zweck der Maßregel die Unterbringung erfordert. Deshalb bedarf es auch nicht der Erholung eines neuen Sachverständigengutachtens im Rahmen des Widerrufsverfahrens. Weder ist die Erholung eines solchen ausdrücklich im Gesetz vorgeschrieben, noch besteht zusätzlicher Aufklärungsbedarf. Der Sachverständige Dr. W. hat die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nachvollziehbar dargelegt und ausgeführt, warum seine stationäre Unterbringung erforderlich ist und dass nunmehr Ziel der Behandlung sein muss, seine soziale Situation wieder zu stabilisieren und bei ihm die Krankheitseinsicht und die Bereitschaft, sich medikamentös behandeln zu lassen, derart zu verfestigen, dass diesen auch eventuelle Änderungen in den Rahmenbedingungen nichts anhaben können.
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3. Es kommen auch keine milderen Maßnahmen in Betracht. Eine befristete Wiederinvollzugsetzung der Unterbringung gemäß § 67h Abs. 1 StGB mit einer Höchstdauer von sechs Monaten kommt nicht in Betracht. Der Beschwerdeführer bedarf einer länger andauernden Behandlung.
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Die vom Verteidiger des Beschwerdeführers vorgeschlagene Verlängerung der Bewährungszeit kommt schon deshalb nicht in Betracht, da § 67g StGB diese Möglichkeit – anders als bei dem Widerruf von Freiheitsstrafen in § 56f Abs. 2 StGB – nicht vorsieht.
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4. Der Bestand des Sicherungsunterbringungsbefehls ist nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens. Im Übrigen hat sich der Sicherungsunterbringungsbefehl mit der mit diesem Beschluss eingetretenen Rechtskraft der Widerrufsentscheidung prozessual erledigt.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.