Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 27.11.2023 – 203 StObWs 456/23
Titel:

Strafvollzug – Anforderungen an die Ablehnung einer Außenbeschäftigung

Normenketten:
StVollzG § 109
BayStVollzG Art. 13 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. In einem Strafvollzugsverfahren ist ein Feststellungsantrag gegenüber einem Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag subsidiär, da ansonsten die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrages umgangen werden könnten. (Rn. 9)
2. Begehrt ein Gefangener eine Lockerung, hat die Vollzugsbehörde bei der zu treffenden Entscheidung den Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr stets in Bezug zu der beantragten Lockerungsform zu setzen. (Rn. 13)
3. Begehrt der Gefangene eine Außenbeschäftigung, hat die Anstalt zu prüfen, ob dieser Lockerungsmaßnahme, die nach der gesetzlichen Ausgestaltung unter Aufsicht eines oder mehrerer Vollzugsbediensteter ausgeübt wird, trotz Überwachung eine Missbrauchsbefürchtung entgegensteht und ob dieser mit Sicherungsmaßnahmen entgegengewirkt werden kann. (Rn. 19)
Schlagworte:
Strafvollzug, Außenbeschäftigung, Feststellungsantrag, Lockerungsmaßnahme, Sicherungsmaßnahme
Vorinstanz:
LG Amberg, Beschluss vom 24.08.2023 – 2 StVK 8/23 Vollz
Fundstelle:
BeckRS 2023, 44764

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen werden der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg vom 24. August 2023 mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes und der Bescheid der Justizvollzugsanstalt Amberg vom 29. Dezember 2022 aufgehoben.
II. Die Justizvollzugsanstalt Amberg wird verpflichtet, den Antrag des Beschwerdeführers vom 9. Oktober 2022 auf Außenbeschäftigung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats neu zu verbescheiden.
III. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
IV. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens beider Instanzen und die dem Antragsteller darin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
V. Der Beschwerdewert wird auf 1000.- € festgesetzt.
VI. Dem Beschwerdeführer wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt. Der Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Der laut Auszug aus dem Bundeszentralregister mehrfach vorbestrafte Beschwerdeführer wurde am 15. Februar 2019 festgenommen und befindet sich seit 20. Oktober 2021 in der Justizvollzugsanstalt A.- auch zur Vollstreckung einer wegen einer Sexualstraftat ausgesprochenen Freiheitsstrafe – in Strafhaft. Zwei Drittel der Strafe waren am 9. Juli 2022 verbüßt, das voraussichtliche Strafende errechnet sich auf den 31. Januar 2024. Die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung ist rechtskräftig abgelehnt worden.
2
Der Strafgefangene hat bei der Justizvollzugsanstalt A. (JVA) am 9. Oktober 2022 einen Antrag auf Außenbeschäftigung gestellt. Mit Bescheid vom 29. Dezember 2022 hat die Justizvollzugsanstalt den Antrag aufgrund von Missbrauchsbefürchtungen unter Verweis auf einen früheren Bescheid vom 15. September 2022 sowie unter Hinweis auf eine Disziplinarmaßnahme und einen Abbruch einer psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahme im November 2022 abgelehnt. Nach erneuter Prüfung der Sach- und Rechtslage sei die Gewährung von Vollzugslockerungen „insbesondere“ aufgrund bestehender Missbrauchsbefürchtungen abzulehnen.
3
Mit Schreiben vom 30. Dezember 2022, bei Gericht eingegangen am 04. Januar 2023, hat sich der Strafgefangene bei der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg gegen den Bescheid gewandt und beantragt, festzustellen, dass die Ablehnung der Außenbeschäftigung mit Bescheid vom 29. Dezember 2022 rechtswidrig sei. Gleichzeitig hat er beantragt, den Antragsteller im Vollzug zu lockern und hilfsweise, ihn zu verlegen. Mit Schreiben vom 10. März 2023 hat er beantragt, die JVA zu verpflichten, ihn „mit der Aussenfrei“ zu lockern.
4
Mit Beschluss vom 24. August 2023, dem Antragsteller zugestellt am 30. August 2023, hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen und zur Begründung angeführt, dass die Ablehnung der Außenbeschäftigung aus den von der Anstalt dargelegten Gründen nicht zu beanstanden sei.
5
Hiergegen hat der Beschwerdeführer zur Niederschrift des Urkundsbeamten am 21. September 2023 Rechtsbeschwerde eingelegt und formelle und materielle Rügen erhoben. Der Generalstaatsanwalt in München beantragt, die Rechtsbeschwerde des Strafgefangenen als unbegründet zu verwerfen. Der Beschwerdeführer wiederholt und vertieft seine Bedenken gegen die Versagung der Außenbeschäftigung.
II.
6
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat mit der Sachrüge weitestgehend Erfolg.
7
1. Die nach § 116 Abs. 1 StVollzG statthafte Rechtsbeschwerde ist form- und fristgerecht (§ 118 StVollzG) erhoben und genügt auch den besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG. Die Rechtsbeschwerde ist zur Fortbildung des Rechts zulässig. Der Fall gibt Veranlassung, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen Rechts aufzustellen.
8
2. Die Sachrüge ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des der gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Bescheides der Justizvollzugsanstalt. Der Bescheid der JVA A. vom 29. Dezember 2022 erweist sich als rechtsfehlerhaft.
9
a. Der Senat legt unter Berücksichtigung des Rechtsschutzziels des Antragstellers die in der ersten Instanz angebrachten Anträge des Beschwerdeführers als einen kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag aus. Nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung wäre in einem Strafvollzugsverfahren ein Feststellungsantrag gegenüber einem Anfechtungs- und Verpflichtungsantrag subsidiär, da ansonsten die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrages umgangen werden könnten (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 25. September 2007 – 2/5 Ws 189/05 Vollz –, juris Rn. 13; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14. Juni 2017 – 1 Ws (RB) 24/17 –, juris Rn. 3 m.w.N.; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 12. Kapitel Rechtsbehelfe B Rn. 22). Ein Ausnahmefall, dass ein Feststellungsantrag den effektiveren Rechtsschutz bieten und keine Umgehung der besonderen Voraussetzungen eines Anfechtungs- oder Verpflichtungsantrags drohen würde (vgl. Laubenthal a.a.O.), liegt hier nicht vor. Da der Antragsteller in seinen Schreiben vom 30. Dezember 2022 und vom 10. März 2023 jedoch neben dem Feststellungsantrag auch einen Verpflichtungsantrag formuliert hat, legt der Senat den Hauptantrag des Beschwerdeführers vom 30. Dezember 2022 dahingehend aus, dass sein Rechtsschutzbegehren in erster Linie auf die Aufhebung des Bescheides der JVA vom 29. Dezember 2022 und die Verpflichtung der Anstalt, ihm baldmöglichst Außenbeschäftigung zu gewähren, gerichtet ist.
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b. Das Rechtsmittel hat insoweit Erfolg, als der angefochtene Bescheid der Anstalt vom 29. Dezember 2022 aufzuheben und sie zu verpflichten ist, über den Antrag auf Außenbeschäftigung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.
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aa. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 BayStVollzG kann mit Zustimmung eines Gefangenen als Lockerung des Vollzugs angeordnet werden, dass er außerhalb der Anstalt einer Beschäftigung unter Aufsicht (Außenbeschäftigung) nachgehen darf, wenn nicht zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerung des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen wird. Nach Art. 15 BayStVollzG ist bei Gefangenen, gegen die während des laufenden Freiheitsentzugs eine Strafe unter anderem wegen einer schwerwiegenden Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung mit Ausnahme der §§ 180a und 181a StGB vollzogen wurde oder zu vollziehen ist, eine Lockerung des Vollzugs besonders gründlich zu prüfen. Bei der Entscheidung sind nach der gesetzlichen Regelung auch die Feststellungen im Urteil und die im Ermittlungs- oder Strafverfahren erstatteten Gutachten zu berücksichtigen.
12
bb. Hinsichtlich der unbestimmten Rechtsbegriffe der Flucht- und Missbrauchsgefahr steht der Vollzugsbehörde nach gefestigter Rechtsprechung ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (vgl. Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl. § 11 Rn. 10 m.w.N; § 115 Rn. 16; Harrendorf/Ullenbruch in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C II Rn. 51). Die Justizvollzugsanstalt hat allerdings im Rahmen einer Gesamtwürdigung nähere Anhaltspunkte darzulegen, welche geeignet sind, die Prognose einer Flucht- oder Missbrauchsgefahr in der Person des Gefangenen zu konkretisieren (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 1165/19 –, juris Rn. 19; vgl. auch Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 StObWs 318/20 –, juris Rn. 22). Die Vollzugsbehörde hat in ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, dass nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Vorschriften über Vollzugslockerungen und vollzugsöffnende Maßnahmen der Wiedereingliederung der Gefangenen und deren Resozialisierungsinteresse dienen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 1165/19-, juris Rn. 17). Durch Lockerungsmaßnahmen werden dem Gefangenen Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 – 2 BvR 729/08 –, juris, Rn. 32; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15. Mai 2018 – 2 BvR 287/17 –, juris Rn. 30).
13
cc. Der Versagungsgrund der Flucht- und Missbrauchsgefahr ist von der Vollzugsbehörde bei der zu treffenden Entscheidung jeweils in Bezug zu der beantragten Lockerung zu setzen (Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 11a m.w.N.). Ob die Anstalt die Flucht- und Missbrauchsgefahr hinreichend dargelegt und auf die konkret beantragte Lockerungsform bezogen hat, hat die Strafvollstreckungskammer ihrerseits zu überprüfen.
14
dd. Gemessen daran können die gerichtliche Entscheidung wie auch der Bescheid der Vollzugsbehörde keinen Bestand haben.
15
aaa. Der gesetzlichen Vorgabe entsprechend wird die vom Antragsteller beantragte Außenbeschäftigung nämlich stets unter – mehr oder weniger strenger – Aufsicht eines oder mehrerer Vollzugsbediensteter ausgeübt (vgl. Harrendorf in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C I Rn. 9; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 6). Die Anstalt kann zudem bei Bedarf Sicherungsmaßnahmen anordnen. Bei einer Außenbeschäftigung dient also bereits die gesetzlich vorgesehene Begleitung des Gefangenen durch Vollzugsbedienstete dem Zweck, einer bestehenden Flucht- und Missbrauchsgefahr entgegenzuwirken (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 15. Mai 2018 – 2 BvR 287/17 –, juris Rn. 39).
16
bbb. Die JVA hat hier nicht bedacht, dass die mögliche Missbrauchs- und Fluchtgefahr bei einer Arbeit unter Aufsicht im Regelfall deutlich geringer ist als bei einem unbegleiteten Ausgang oder Urlaub (vgl. auch OLG München, Beschluss vom 17. Dezember 2012 – 4 Ws 204/12 (R) –, juris Rn. 30). Der Verweis auf die Begründung der Missbrauchsgefahr im Bescheid vom 15. September 2022 vermag die Ablehnung daher nicht zu tragen, da diese Entscheidung zu einer anderen Lockerungsform, nämlich zu einem unbegleiteten Sonderausgang und Sonderurlaub, ergangen war. Lockerungsformbezogene entscheidungsrelevante Aspekte wie die Zahl der Gefangenen, die Art der Arbeit und die örtlichen Gegebenheiten (vgl. dazu Harrendorf a.a.O. 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C I Rn. 10) hat die Anstalt hier ersichtlich nicht in ihre Beurteilung der Flucht- und Missbrauchsgefahr mit eingestellt.
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ccc. Der Disziplinarverstoß und der Therapieabbruch wiegen nicht so schwer, als dass alleine darauf eine grundsätzliche Versagung einer Außenbeschäftigung gestützt werden könnte. Die Erwägungen der JVA in ihrem Bescheid vom 29. Dezember 2022 genügen daher auch in der gebotenen Gesamtschau mit den Ausführungen im Bescheid vom 15. September 2022 nicht, um dem Antragsteller eine Außenbeschäftigung zu versagen.
18
ddd. Da die Entscheidungen der Anstalt und der Strafvollstreckungskammer nicht auf der Grundlage eines vollständig ermittelten Sachverhalts ergangen sind, unterliegen sie der Aufhebung. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass alleine die Tatsache, dass eine Außenbeschäftigung eine personalintensive Wiedereingliederungsmaßnahme sein kann, nicht dazu führen darf, dass sie gar nicht angeboten wird.
19
3. Die Anstalt wird zu prüfen haben, ob einer Außenbeschäftigung trotz Aufsicht eine Missbrauchsbefürchtung entgegensteht und ob dieser mit Sicherungsmaßnahmen entgegengewirkt werden kann, um den Gefangenen bei seiner Entlassung nicht unvorbereitet zu lassen.
20
4. Die Rechtsbeschwerde im übrigen ist zurückzuweisen. Soweit der Antragsteller über die Aufhebung des Bescheids der Anstalt vom 29. Dezember 2022 hinausgehend die Gestattung einer Außenbeschäftigung begehrt, war diesem Antrag nicht stattzugeben. Der Beschwerdegegner hat nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Senats.
III.
21
1. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 1 und 4 StVollzG, § 467 Abs. 1, § 473 Abs. 4 StPO.
22
2. Die Festsetzung des Geschäftswerts für das Rechtsbeschwerdeverfahren beruht auf § 1 S. 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 60, 65, 52 Abs. 1 GKG.
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3. Die Entscheidung über die Bewilligung der Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren für den bekannt mittellosen Beschwerdeführer beruht auf Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, §§ 114, 115, 119 Abs. 1 ZPO.
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4. Der Beiordnung eines Rechtsanwalts bedarf es nicht, da bereits aufgrund der vom Beschwerdeführer form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde die angefochtenen Entscheidungen aufgehoben werden, so dass die Tätigkeit eines Rechtsanwalts im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr erforderlich ist (Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 120 Abs. 2 StVollzG, § 121 Abs. 2 ZPO).