Inhalt

LG München II, Endurteil v. 22.09.2023 – 2 O 1673/22 VZS
Titel:

Haftungsverteilung bei Rückwärtskollision nach Verlassen zweier Waschboxen

Normenketten:
StVO § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 5
StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 2, Abs. 3
Leitsätze:
2. § 9 Abs. 5 StVO schützt den fließenden Verkehr und findet daher keine Anwendung auf einem Waschanlagengelände. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Kollidieren zwei aus Waschboxen jeweils zurücksetzende Fahrzeuge miteinander, trifft denjenigen den höheren Verursachungsanteil (hier: 70%), der durch eine Richtungsänderung nach rechts den Schadenseintritt wesentlich wahrscheinlicher machte. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Waschbox, Rückwärtsfahren
Fundstellen:
FDStrVR 2024, 944658
BeckRS 2023, 44658

Tenor

1.    Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.041,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 3.645,89 € für die Zeit vom 04.06.2022 bis zum 14.07.2022 und aus 1.989,52 € für die Zeit vom 15.07.2022 bis zum 21.08.2022 und aus 1.041,68 € seit 22.08.2022, sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 173,27 € nebst Zinsen aus 453,87 € für die Zeit vom 04.06.2022 bis zum 14.07.2022 und aus 173,27 € seit 15.07.2022 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2.    Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 30 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 70 % zu tragen.
3.    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
4.    Der Streitwert wird auf 5.208,41 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Klägerin verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall.
2
Am 12.02.2022 gegen 16:30 Uhr fuhr die Klägerin mit ihrem Pkw, aus einer Waschbox auf dem Gelände des Supermarktes rückwärts heraus. Zur selben Zeit fuhr die Beklagte zu 1) mit ihrem Fahrzeug, amtliches Kennzeichen ..., das bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, aus der sich links neben der von der Klägerin benutzten Waschbox befindlichen Waschbox heraus. In der Folge kam es zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge, wobei der Kollisionsbereich beim Fahrzeug der Beklagten zu 1) rechts hinten und der beim klägerischen Fahrzeug an der linken Fahrzeugseite war.
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Nach dem Unfall machte die Klägerin gegenüber den Beklagten Reparaturkosten in Höhe von 4.295,67 € netto, Sachverständigenkosten in Höhe von 887,74 € und eine allgemeine Unkostenpauschale in Höhe von 25 €, insgesamt also einen Betrag in Höhe von 5.208,41 €, sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 € geltend.
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Die Klägerin behauptet, sie sei mit ihrem Fahrzeug bereits einige Sekunden gestanden als es zur Kollision gekommen sei. Sie ist der Meinung, der Unfall sei für sie unvermeidbar gewesen. Die Beklagte zu 1) habe den Unfall allein verursacht. Insbesondere wiege das Verschulden der Beklagten zu 1) so schwer, dass demgegenüber die bestehende Betriebsgefahr des klägerischen Pkw vollständig zurücktrete. Die Beklagte zu 1) sei in das stehende Fahrzeug der Klägerin gefahren.
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Mit der den Beklagten am 03.06.2023 zugestellten Klage beantragte die Klägerin zunächst:
1. Die Beklagten werden samtverbindlich verurteilt, die Klägerin 5.208,41 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagten werden samt verbindlich verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 627,13 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zahlen.
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Die Beklagten beantragen
K l a g e a b w e i s u n g.
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Am 15.07.2022, also nach Rechtshängigkeit, zahlte die Beklagte zu 2) an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 1.656,37 € (Fahrzeugschaden: 1.200 €, Kostenpauschale 12,50 €, Sachverständigenkosten 443,87 €) und am 18.07.2022 zahlte sie vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 280,60 €. In Höhe dieser Beträge erklärte die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.07.2022 die Hauptsache für erledigt. Die Beklagten stimmten der Erledigung unter Verwahrung gegen die Kosten zu.
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Am 22.08.2022 zahlte die Beklagte zu 2) an die Klägerin einen weiteren Betrag in Höhe von 947,84 €. Die Zahlung durch die Beklagte zu 2) erfolgte, nachdem die Klägerin in der Replik erklärte und nachwies, dass ihr Fahrzeug Scheckheft gepflegt gewesen sei und sie somit zu der von den Beklagten zunächst beanstandete Abrechnung nach den Nettoreparaturkosten berechtigt sei. Aufgrund der Zahlung der Beklagte zu 2) erklärte die Klägerin den Rechtsstreit hinsichtlich des Klageantrags 1. dann auch in Höhe eines weiteren Betrages von 947,84 € in der Hauptsache für erledigt. Die Beklagten stimmten der Erledigung unter Verwahrung gegen die Kosten zu.
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Die Beklagte zu 1) behauptet, sie habe sich vergewissert, dass der Verkehrsraum hinter ihr vollständig frei gewesen sei. Da dies der Fall gewesen sei, habe sie langsam und vorsichtig zurückgesetzt. Währenddessen habe sie weiter den Verkehrsraum hinter und neben ihrem Fahrzeug beobachtet. Sie sei bereits praktisch gänzlich aus der Waschbox herausgefahren gewesen und habe sich (schräg) auf der Fahrstraße befunden als plötzlich aus der benachbarten Box die Klägerin rückwärts ausgefahren sei. Die Klägerin sei direkt in das Beklagtenfahrzeug gefahren. Die Beklagte zu 1) habe die Kollision nicht mehr vermeiden können.
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Sollte das klägerische Fahrzeug zum Unfallzeitpunkt tatsächlich gestanden haben, so sei dies keinesfalls für einen rechtlich relevanten Zeitraum gewesen.
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Die Beklagten sind der Ansicht, hinsichtlich des von der Beklagten zu 2) bezahlten Betrages in Höhe von 947,84 € liege ein sofortiges Anerkenntnis vor. Insoweit seien der Klägerin die Kosten aufzuerlegen. Hätte die Klägerin die seit 13 Jahren bekannte Rechtsprechung beachtet und außergerichtlich wenigstens einen Hinweis auf die Scheckheftpflege gegeben, so wäre in dieser Höhe eine Klage nicht notwendig gewesen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten vom 13.04.2023 Bezug genommen.
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Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die wechselnden Schriftsätze sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 18.11.2022 und 28.07.2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist überwiegend begründet.
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Die Klägerin kann von den Beklagten 70% des ihr aufgrund des Unfalls entstandenen Schadens verlangen (§§ 18 I S. 1, III, 17 II, I StVG, 115 I S. 1 Nr. 1 VVG, 1 S. 1 PflVG, 823 I BGB). Unter Berücksichtigung der bereits von der Beklagten zu 2) während des Rechtsstreits geleisteten Zahlungen kann die Klägerin von den Beklagten samtverbindlich noch einen Betrag von 1.041,39 € verlangen, nebst Rechtsanwaltskosten in Höhe von weiteren 173,27 €.
I.
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Die Klägerin kann von den Beklagten den Ersatz ihrer Schäden aus dem Unfall in Höhe von 70% verlangen.
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1. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich der streitgegenständliche Unfall wie folgt ereignet hat:
Die Klägerin und die Beklagte zu 1) benutzen mit ihren PKW zunächst je eine Waschbox. Die beiden Waschboxen grenzten aneinander. Die Klägerin war mit ihrem PKW in der rechten Waschbox und die Beklagte zu 1) war mit ihrem PKW in der linken Waschbox. Beide Unfallparteien fuhren nahezu zeitgleich rückwärts nebeneinander aus der jeweiligen Waschbox heraus. Das Fahrzeug der Klägerin fuhr dabei geradeaus gerichtet nach hinten. Die Beklagte zu 1) fuhr nach hinten rechts gerichtet aus ihrer Waschbox aus und verunfallte mit dem hinteren linken seitlichen Bereich des PKWs der Klägerin in einem Kollisionswinkel von etwa 90°. Zu Beginn des Kontaktes der Fahrzeuge war das Fahrzeug der Klägerin noch in Bewegung nach hinten. Während des Kontaktes der Fahrzeuge kam das Fahrzeug der Klägerin noch zum Stillstand. Die Kollisionsgeschwindigkeit der beiden Fahrzeuge lag bei maximal Schrittgeschwindigkeit.
Der Pkw der Klägerin wurde bei der Kollision im hinteren Teilbereich der hinteren linken Türe im Übergang zur Seitenwand hinten links streifbelastet und leicht plastisch deformiert. Die Seitenwand hinten links ist im Bereich der Radlaufkante etwas vor der Hinterachsmitte kantig deformiert. Die Radzierkappe hinten links ist gebrochen. Der Pkw der Beklagten ist mit Schwerpunkt etwas rechts der Heckmitte flächenhaft überstriffen und im Bereich der unteren Abschlusskante des Heckdeckels angeschlagen und leicht plastisch deformiert. Im rechten Teilbereich der Verkleidung der Heckstoßstange ist ein viertelkreisförmiger Abdruckschaden zu erkennen. Im linken Teilbereich der Heckstoßstange über den beiden Endrohren der Abgasanlage sind leicht schrägorientierte Streifspuren festzustellen.
Die Überzeugung des Gerichts bildet sich wie folgt:
„a. Die Klägerin gab im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung an, sie habe beim Einsteigen noch gesehen, dass auch die Beklagte zu 1) in ihr Fahrzeug eingestiegen sei und dass sie beide gleichzeitig rückwärts losgefahren seien. Sie habe dann in den Rückspiegel geschaut. Während des Rückwärtsfahrens habe sie das Fahrzeug der Beklagten zu 1) nicht gesehen. Dann sei sie stehen geblieben und habe den Vorwärtsgang eingelegt, um nach rechts wegzufahren. Sie habe sich nach rechts umgedreht, um zu schauen, ob noch ein Fahrzeug kommt. Vielleicht 3 oder 4 Sekunden sei sie gestanden bis es gekracht habe. Die Beklagte zu 1) sei mit ihrem Heck in ihre linke Seite gefahren.
b. Die Beklagte zu 1) gab im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung an, sie sei zunächst in der Waschbox links neben der Klägerin gewesen. Sie sei dann rückwärts herausgefahren, habe leicht nach rechts eingelenkt, damit sie dann vorwärts nach links hätte wegfahren können. Während der ganzen Zeit habe sie den Spiegel im Auge gehabt, den Rückspiegel und beide Seitenspiegel. Sie habe sich auch umgedreht, und zwar nach rechts, sodass sie in der Mitte durch die Heckscheibe habe schauen können. Es sei niemand da gewesen. Deswegen sei sie weiter rückwärts gefahren, um dann vorwärts nach links wegzufahren fahren zu können. Wann der Knall gewesen sei, wisse sie nicht mehr. Sie können nicht sagen, ob der Knall während des Rückwärtsverfahrens gewesen sei.
c. Der Sachverhalt ist insoweit unstreitig als beide Fahrzeuge gleichzeitig rückwärts gefahren sind, die Beklagte zu 1) während des Rückwärtsverfahrens nach rechts gefahren ist und es dann zur Kollision der beiden Fahrzeuge kam.
d. Nach den Ausführungen des Sachverständigen konnte er am Fahrzeug der Klägerin Hinweise finden, dass zum Kontaktbeginn das Fahrzeug der Klägerin nach hinten gerichtet in Bewegung gewesen sei. Ob der Pkw der Klägerin noch während des Kontaktes bis zum Stillstand abgebremst worden ist, entziehe sich einer technischen Bewertung. Unter Berücksichtigung der Skizzen der Prozessparteien sei dieser Stillstand des PKWs der Klägerin während des Kontaktes aber durchaus möglich. Die Kollisionsgeschwindigkeit der Parteien sei bei maximal Schrittgeschwindigkeit einzugrenzen. Aufgrund fehlender Möglichkeit der exakten Fixierung der wegzeitlichen Korrelation der Bewegung der Parteifahrzeuge sei eine zahlenmäßige Bewertung der Vermeidbarkeit des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls nicht möglich. Die Klägerin hätte nach den Ausführungen des Sachverständigen den Unfall vermeiden können, wenn sie frühzeitig durch Stillstand des PKWs auf die Fahraktion der Beklagten zu 1) reagiert hätte. Die Beklagte zu 1) hätte den Unfall vermeiden können, wenn sie den nach hinten rechts gerichteten Fahrkanal ihres Fahrzeuges entsprechend sorgfältig überwacht hätte.
e. Das Gericht schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen an und macht sich diese zu eigen. Aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin ist das Gericht auch davon überzeugt, dass die Klägerin während des Kollisionsvorgangs noch zum Stehen gekommen ist. Die Klägerin gab zwar an, sie sei bereits 3 oder 4 Sekunden vor der Kollision gestanden. Nach den Ausführungen des Sachverständigen gibt es jedoch technische Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin zu Beginn des Kontaktes noch in Bewegung gewesen sei. Der Sachverständige wird es jedoch für möglich, dass die Klägerin noch während des Kontaktes zum Stehen gekommen ist. Daher ist das Gericht aufgrund der Angaben der Klägerin davon überzeugt, dass das Fahrzeug der Klägerin noch während der Kollision zum Stehen gekommen ist.
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2. Die Klägerin kann von den Beklagten als Gesamtschuldner Ersatz des ihr entstandenen Schadens nach §§ 18 I S. 1 StVG, 115 I S. 1 Nr. 1 VVG verlangen.
a. Das Fahrzeug der Klägerin ist beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) beschädigt worden. Die Beklagte zu 1) war Fahrerin des unfallbeteiligten Fahrzeugs.
b. Die Ersatzpflicht ist nicht nach § 7 II StVG ausgeschlossen. Höhere Gewalt liegt nicht vor.
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3. Die Ersatzpflicht der Beklagten zu 1) ist nicht nach § 18 I S. 2 StVG ausgeschlossen. Die Beklagte zu 1) trifft ein schuldhaftes Verhalten.
a. Der Begriff des Verschuldens richtet sich nach § 276 BGB (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 18 Rn. 18). Der Kfz-Führer muss sich also für Vorsatz und Fahrlässigkeit entlasten. Maßstab, an dem sich das Verhalten zu orientieren hat, ist dabei die Sorgfalt eines besonnenen und gewissenhaften Kraftfahrers (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 18 Rn. 18). Nach allgemeinen Grundsätzen erfordert das fahrlässige Verhalten die Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit des Schadensereignisses bei Beachtung der anzulegenden Sorgfaltsanforderungen. Das Verschulden kann sich dabei auf sämtliche mit der Fahrzeugführung in Zusammenhang stehenden Aspekte beziehen. Ein Verschulden kann also in Nachlässigkeiten vor, während und nach der Fahrt liegen und mit bestimmten Fahrmanövern, dem Zustand des Kfz sowie des Fahrzeugführers selbst in Zusammenhang stehen. (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 18 Rn. 18). Der Kfz-Führer muss zur Entlastung also nachweisen, dass er alles einem ordentlichen Kraftfahrer Zumutbare unternommen hat, um den Unfall zu vermeiden (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 18 Rn. 19). Verstöße gegen die in der StVO normierten Verhaltensregeln im Straßenverkehr stehen einer Entlastung grundsätzlich entgegen. Wer also Seitenabstände nicht beachtet, die gesteigerten Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren außer Acht lässt oder beim Überholen den nachfolgenden Verkehr unberücksichtigt lässt, handelt mit dem Verstoß gegen die StVO auch schuldhaft. Der Kfz-Führer muss also einen Unfallhergang beweisen, der den Vorwurf eines Verstoßes gegen die Verhaltensregeln der StVO – auch das Gebot zur Vorsicht und Rücksichtnahme nach § 1 StVO – nicht rechtfertigt (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 18 Rn. 20).
b. Die Beklagte zu 1) hat beim Rückwärtsfahren das Fahrzeug der Klägerin übersehen, so dass es zur Kollision der beiden Fahrzeuge gekommen ist. Sie hat nicht die erforderliche Sorgfalt beim Rückwärtsfahren angewandt. Für sie war es vorhersehbar und vermeidbar, dass sie beim Rückwärtsfahren und bei der dabei noch getätigten Richtungsänderung nach rechts mit der ebenfalls zur selben Zeit aus der rechts benachbarten Waschbox mit ihrem PKW rückwärts herausfahrenden und damit rechts neben ihr fahrenden Klägerin kollidieren könnte. Sie hat die Sorgfalt einer besonnen und gewissenhaften Kraftfahrerin nicht beachtet.
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4. Die Ersatzpflicht der Beklagten ist nicht nach § 18 III, 17 III StVG ausgeschlossen. Der Unfall war für die Beklagte zu 1) kein unabwendbares Ereignis.
a. Nach § 17 III S. 1, 2 StVG ist die Ersatzpflicht ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Kraftfahrzeugs noch auf einem Versagen seiner Vorrichtungen beruht und sowohl der Halter als auch der Führer des Kraftfahrzeugs jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet hat. Absolute Unvermeidbarkeit wird dabei nicht gefordert (BGH NZV 2005, 305). Es reicht aus, dass der Unfall auch bei der äußersten möglichen Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (BGH NZV 2005, 305; OLG Koblenz NZV 2006, 201 (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVG § 17 Rn. 8). Hierbei kommt es allerdings nicht nur darauf an, wie ein „Idealfahrer“ in der konkreten Gefahrensituation reagiert hätte, sondern auch darauf, ob ein „Idealfahrer“ überhaupt in eine solche Gefahrenlage geraten wäre (Burmann/Heß/ Hühnermann/Jahnke/Heß, 27. Aufl. 2022, StVG § 17 Rn. 8).
b. Die Beklagte zu 1) gab zwar an, während des gesamten Rückwärtsfahrens in alle Spiegel geschaut und sich auch umgedreht und durch die Heckscheibe geschaut zu haben; es sei niemand da gewesen.
c. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen steht aber fest, dass das klägerische Fahrzeug für die Beklagte zu 1) erkennbar war. Sie hat daher nicht die nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet.
d. Damit war der Unfall für die Beklagte zu 1) kein unabwendbares Ereignis.
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4. Nach §§ 18 III, 17 II, I StVG sind die Verursachungsbeiträge der beiden Unfallbeteiligten gegen einander abzuwägen.
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Nach dieser Regelung hängt die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes durch die Beklagte zu 1) als Fahrerin von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.
a. Entscheidendes Kriterium bei der Abwägung ist der Verursachungsbeitrag und damit das Ausmaß, in dem zur Schadensentstehung beigetragen wurde (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 46). Es kommt danach für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten – unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge – den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 46). Daneben bildet ein etwaiges Verschulden des Geschädigten und dessen Schwere nur einen Faktor der Abwägung (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 46). Ein Verschulden setzt ein verkehrswidriges Verhalten voraus. Dies ist nicht nur, aber jedenfalls dann gegeben, wenn eine Verhaltensvorschrift nach der StVO unbeachtet gelassen wird und sich dies auf den Unfall auswirkt. Die Vorschriften der StVO haben den Zweck, die Gefahren des Straßenverkehrs abzuwehren und Verkehrsunfälle zu verhindern. Sie beruhen auf der durch Erfahrung und Überlegung gewonnenen Erkenntnis, welche typischen Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringt und welches Verkehrsverhalten diesen Gefahren am besten begegnet (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 36). Bei der Berücksichtigung des Verschuldens als Abwägungsfaktor ist neben dem Maß der Verursachung durchaus auch der Verschuldensgrad bedeutsam (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 48). Bei der folgenden Abwägung dürfen nur die Verursachungs- und Verschuldensanteile berücksichtigt werden, die festgestellt wurden, dh unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind und sich auf die Schadensentstehung ausgewirkt haben (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 17 Rn. 30).
b. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts trifft zunächst beide Unfallparteien ein Verstoß gegen § 1 II StVO.
a. a. § 9 V StVO, wonach derjenige, der ein Fahrzeug führt, sich beim Rückwärtsfahren darüber hinaus so verhalten muss, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist und sich erforderlichenfalls sich einweisen lassen muss, kommt hier nicht direkt zur Anwendung.
(1) Die Vorschrift regelt primär die besondere Sorgfaltspflicht gegenüber dem fließenden Verkehr (Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 9 StVO, Rdnr. 51 m.w. Nachw.). Der mit dem fließenden – und deshalb in der Regel rascheren – Verkehr verbundenen erhöhten Unfallgefahr soll durch eine gegenüber der allgemeinen Sorgfaltspflicht aus § 1 II StVO gesteigerte Sorgfaltspflicht desjenigen begegnet werden, der im fließenden Verkehr rückwärts fährt oder in diesen Verkehr rückwärts einfährt (OLG Stuttgart, NZV 2004, 420). Dies ist bei dem auf einem Tankstellengelände herrschenden Verkehr nicht der Fall. Denn hier hat weniger das Bestreben nach möglichst zügiger Ortsveränderung Bedeutung, sondern das Befahren des Tankstellengeländes dient dem Aufsuchen von Tanksäulen oder sonstiger Einrichtungen der Tankstelle (OLG Düsseldorf, NZV 1988, 231). Die Verkehrssituationen sind vielmehr mit denen auf Parkplätzen sowie in Parkhäusern und Tiefgaragen vergleichbar (vgl. hierzu OLG Frankfurt, VRS 57, 207; OLG Frankfurt, VRS 57, 207; DAR 1980, 247; KG Berlin, VRS 64, 104; OLG Hamburg, DAR 2000, 41). Auch der Verordnungsgeber war der Ansicht, dass sich § 9 StVO nur an den Fahrverkehr wendet (VkBl. 1970, 806; OLG Dresden, NZV 2007, 152, beck-online). Zudem ist § 9 V StVO nicht unmittelbar anwendbar, wenn kein eindeutiger Straßencharakter vorhanden ist.
(2) Im vorliegenden Fall ereignete sich der Unfall auf einem Supermarkt- bzw. Tankstelle- bzw. Waschanlagengelände. Ein eindeutiger Straßencharakter ist in dem Bereich vor der Waschanlag, wo sich die Kollision ereignete, nicht vorhanden. Damit ist die Vorschrift des § 9 V StVG nicht unmittelbar anwendbar.
b. b. Die Vorschrift erlangt aber über § 1 StVO mittelbare Bedeutung (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 67).
(1) Auch im Rahmen der Grundregeln des § 1 StVO gilt: Das Rückwärtsfahren ist auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Wo gewendet werden kann, darf nicht über eine längere Strecke zurückgestoßen werden (Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 67).
(2) Entsprechend der Wertung des § 9 V StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (BGH r+s 2016, 149, beck-online). Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit) verursacht hat (BGH r+s 2016, 149 Rn. 11, beck-online). Der Anscheinsbeweis greift aber nicht ein, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Fahrzeug zum Zeitpunkt der Kollision bereits stand (BGH r+s 2017, 93; 2016, 149; 2016, 146; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 69).
(3) Ein Herüberwechseln auf die im Sinne der Rückwärtsfahrt rechte Seite ist nur aus besonderen Gründen gerechtfertigt, etwa um in einer Einbahnstraße in eine Parklücke auf der linken Fahrbahnseite zu gelangen (Burmann/Heß/ Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 67). Das Rückwärtsfahren ist kein Richtungsfahren im Sinne der für den fließenden Einbahnverkehr durch Z 220 vorgeschriebenen Fahrtrichtung, sondern eine Behelfsmaßnahme, die sich immer entgegen der Richtung des fließenden Verkehrs vollzieht, meistens ganz rechts; es ist daher auf Einbahnstraßen auf kurzer Strecke zulässig (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 67).
(3) Der Kraftfahrer muss vor Beginn der Rückwärtsfahrt sich vergewissern, dass der Raum hinter dem Fahrzeug frei ist, und zwar auch in den Bereichen, die er im Rückspiegel nicht übersehen kann (OLG Nürnberg NZV 1991, 67; OLG Oldenburg NZV 2001, 377; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/ Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 69). Während des Zurückstoßens hat er sorgfältig darauf zu achten, dass kein anderer von der Seite oder von hinten in den Gefahrenraum gelangt; er muss so langsam fahren, dass er erforderlichenfalls sofort anhalten kann (OLG Köln NZV 1994, 321; OLG Karlsruhe NZV 1988, 185; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Burmann, 27. Aufl. 2022, StVO § 9 Rn. 69).
c. c. Damit trifft aufgrund des festgestellten Sachverhalts beide Unfallparteien ein Verstoß gegen § 1 II StVO.
(1) Die Kollision ereignete sich als beide Fahrzeuge rückwärts fuhren.
(2) Auch das klägerische Fahrzeug war zu Beginn der Kollision noch in Bewegung.
(3) Die Beklagte zu 1) hat während des Rückwärtsfahrens noch eine Richtungsänderung nach rechts vorgenommen, so dass es mit dem rechts neben ihr quasi parallel rückwärtsfahrenden Fahrzeug der Klägerin zur Kollision kam.
c. Der Verursachungsbeitrag und der Verschuldensbeitrag der Beklagten zu 1) überwiegt dabei aber den Verursachungsbeitrag und den Verschuldensbeitrag der Klägerin. Die Beklagte zu 1) hat mit ihrer Richtungsänderung nach rechts während des Rückwärtsfahrens den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht. Das sorgfaltswidrige Verhalten der Beklagten zu 1) ist größer als das der Klägerin. Hätte die Beklagte zu 1) ihr Fahrzeug nicht nach rechts gelenkt, wäre es beim Rückwärtsfahren der beiden Unfallbeteiligten wohl nicht zum Unfall gekommen. Andererseits hat die Klägerin nicht die neben ihr gleichzeitig losfahrende Beklagte zu 1) beobachtet. Sie hat ihre Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren verletzt. Allerdings hat sie keine Richtungsänderung während des Rückwärtsfahrens vorgenommen. Nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls trifft die Beklagte zu 1) eine Haftungsquote von 70% und die Klägerin eine Haftungsquote von 30%.
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5. Die der Klägerin entstandenen Schäden sind unstreitig. Der Gesamtschaden beläuft sich auf 5.208,41 €. Der Haftungsanteil der Beklagten in Höhe von 70% beträgt daher 3.645,89 €. Die Beklagte zu 2) hat bislang einen Betrag von insgesamt 2.604,21 € an die Klägerin gezahlt, so dass noch ein Betrag in Höhe von 1.041,68 € offen ist, den die Beklagten samtverbindlich an die Klägerin zu zahlen haben. Ferner hat die Klägerin Anspruch auf Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten aus einem Gegenstandswert von 3.645,89 € nebst Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer in Höhe von 453,87 €. Nach Abzug der von der Beklagten zu 2) hierauf geleisteten Zahlung in Höhe von 280,60 € verbleibt ein noch offener Betrag in Höhe von 173,27 €. Die Klägerin kann nach § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG die Beklagte zu 2) als Krafthaftpflichtversicherer (§ 1 PflVG) direkt in Anspruch nehmen. Die gesamtschuldnerische Haftung der Beklagten ergibt sich aus § 115 I S. 4 VVG.
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6. Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 291 BGB. Aufgrund der erfolgten Zahlungen durch die Beklagten nach Rechtshängigkeit sind die Zinsansprüche entsprechend auszusprechen gewesen.
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7. Die Beklagte zu 1) haftet gegenüber der Klägerin wegen der entstandenen Schäden zudem aus § 823 I BGB. Unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens der Klägerin und unter Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§ 254 I BGB) ist auch hier ein Haftungsanteil der Beklagten zu 1) in Höhe von 70% gegeben. Auf die obigen Ausführungen wird Bezug genommen.
II.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich §§ 91a, 92 I S. 1 ZPO.
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Die Parteien haben den Rechtsstreit in Höhe der von der Beklagten zu 2) nach Rechtshängigkeit geleisteten Zahlungen von insgesamt 2.604,21 € übereinstimmend für erledigt erklärt, so dass insoweit über die Kosten unter Berücksichtigung des Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu entscheiden war. Entgegen der Ansicht der Beklagten lag kein sofortiges Anerkenntnis im Sinne des § 93 ZPO vor. Die Beklagten hatten bereits Klageabweisung beantragt. Die Beklagten haben durch ihr Verhalten des Nichtzahlens zur Klage Anlass gegeben. Auch wenn die Klägerin erst im Verlauf des Rechtsstreits vorgetragen und nachgewiesen hat, dass ihr Fahrzeug scheckheftgepflegt ist, so ist dies kein Umstand der zu einer Kostentragung der Klägerin insoweit führen würde. Die Klage war zu 70% von Anfang an begründet. Die Beklagten haben vorgerichtlich überhaupt keine Zahlung geleistet. Vorgerichtlich war von der Beklagten zu 2) lediglich mitgeteilt worden, „der Kunde bestreite, den Schaden alleine verursacht zu haben“. Die Schadenshöhe wurde gar nicht thematisiert, so dass auch vorgerichtlich ein Hinweis der Klägerin auf die Scheckheftpflege nicht veranlasst war. Die Klägerin war nicht verpflichtet, vorgerichtlich ihre Ansprüche in allen Einzelheiten zu begründen. Bei Unklarheiten für die Beklagte zu 2) wäre dieser jederzeit eine Kommunikation möglich gewesen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, 2 ZPO.