Inhalt

BayObLG, Urteil v. 14.12.2023 – 207 StRR 325/23
Titel:

Umfang der Kognitionspflicht des Tatrichters

Normenkette:
StPO § 261, § 264
Leitsätze:
Die Kognitionspflicht des Tatrichters gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten (hier: nicht nur als unmittelbarer Täter, sondern auch als "Hintermann"), soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. (Rn. 11 – 17) (red. LS Alexander Kalomiris)
Die Kognitionspflicht des Tatrichters gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. (Redaktioneller Leitsatz) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kognitionspflicht, Prozessgegenstand, prozessuale Tat, einheitlicher Lebensvorgang
Vorinstanzen:
BayObLG, Beschluss vom 19.10.2023 – 207 StRR 325/23
LG München I, Urteil vom 28.03.2023 – 18 NBs 112 Js 178777/21
Fundstellen:
StV 2024, 375
BeckRS 2023, 44182

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts München I vom 28. März 2023 hinsichtlich des Angeklagten mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Amtsgericht München hat gegen den Angeklagten mit Urteil vom 25. Oktober 2022 wegen Volksverhetzung in 2 tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit öffentlicher Aufforderung zum Totschlag eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten festgesetzt; gegen den Mitangeklagten wurde wegen Volksverhetzung in 20 tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit öffentlicher Aufforderung zum Totschlag, eine Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 50 € festgesetzt. Auf die Berufungen der Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil vom 28. März 2023 das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben, den Mitangeklagten der Volksverhetzung in 20 tateinheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit öffentlicher Aufforderung zu Straftaten in Tateinheit mit Billigung von Straftaten schuldig gesprochen und ihn zu einer Geldstrafe von 140 Tagessätzen zu je 60 € verurteilt und den Angeklagten freigesprochen.
2
Der Verurteilung des Mitangeklagten lag nach den Feststellungen des Landgerichts zugrunde, dass dieser als Vorsitzender der Partei „Der III. Weg“ und presserechtlich Verantwortlicher die Fertigung eines Wahlplakates für den Bundestagswahlkampf und dessen Aufhängung an mindestens 20 verschiedenen Orten in Bayern und Sachsen veranlasst hatte. Das Plakat ist rund 85 cm hoch und 59 cm breit. Es ist fast vollständig dunkelgrün eingefärbt. Im oberen Bereich bedeckt der großformatige Schriftzug „HÄNGT DIE GRÜNEN“ etwa die Hälfte des Plakates über eine Höhe von 44 cm. Jedes der drei Worte ist dabei in einer eigenen Zeile geschrieben. Der erste Buchstabe des ersten Wortes „HÄNGT“ hat eine Größe von 12 cm und eine Breite von 10 cm, beim zweiten Wort „DIE“ beträgt die Zeilenhöhe 7 cm, das dritte Wort „GRÜNEN“ sowie das Ausrufungszeichen dahinter haben eine Höhe von 10 cm. Darunter befindet sich mit einer Abdeckung von 10 cm der Höhe des Plakats und einer Zeichenhöhe von ca. 1,5 cm der Satz „Macht unsere nationalrevolutionäre Bewegung durch Plakatwerbung in unseren Parteifarben in Stadt und Land bekannt!“ auf insgesamt drei Zeilen geschrieben. Im unteren Drittel befindet sich ein wieder durch die Gestaltung deutlich hervorgehobener Schriftzug mit stilisiertem Wahlkreuz „Wählt Deutsch!“ sowie das Zeichen und ein Schriftzug der Partei „DER III. WEG“.
3
Der Senat hat die Revision des Mitangeklagten bis auf eine Korrektur des Schuldspruches mit Beschluss vom 19. Oktober 2023 als offensichtlich unbegründet verworfen.
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Den Freispruch des Angeklagten stützte das Landgericht darauf, dass ihm eine Beteiligung an der Tat nicht nachgewiesen werden konnte (UA S. 29ff.). Es ging davon aus (UA S. 17), dass dem Angeklagten zur Last lag, gemeinsam mit einem unbekannten Mittäter zwei der vorgenannten Wahlplakate an näher bezeichneten Orten in München angebracht zu haben. Weder die vorliegenden Lichtbilder noch ein erholtes Sachverständigengutachten hätten mit hinreichender Sicherheit ergeben, dass der Angeklagte diese Plakate aufgehängt habe. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Angeklagte den Antrag auf Plakatierung gestellt und auch eine aktive Rolle bei der Partei in München und Oberbayern gespielt habe, sei eine Beteilung des Angeklagten an den ihm zur Last gelegten Plakatierungsaktionen zwar möglich, aber nicht nachgewiesen (UA S. 33).
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Gegen den Freispruch des Angeklagten wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, die sie auf eine Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) und die allgemeine Sachrüge stützt. Mit ersterer rügt die Staatsanwaltschaft, dass das Landgericht keine weitere Beweisaufnahme zu weiteren Indizien für eine operative und organisatorische Täterschaft des Angeklagten durchgeführt habe, obwohl sich dies aufgedrängt hätte. Mit der Sachrüge beanstandet die Staatsanwaltschaft die fehlerhafte Würdigung der Aussage eines Zeugen und des Sachverständigengutachtens sowie die fehlende rechtliche Würdigung und Beweiswürdigung unter dem Gesichtspunkt einer organisatorischen Täterschaft des Angeklagten.
6
Das Rechtsmittel wird von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten. Sie führt in ihrer Antragsschrift vom 11. September 2023 aus, dass bereits die Beweiswürdigung der Tatfotos und des Sachverständigengutachtens Rechtsmängel aufweise, darüber hinaus aber die mögliche Strafbarkeit durch Einbindung des Angeklagten in die Organisation der Plakatierungsaktion vom Landgericht nicht erörtert worden sei.
II.
7
Die zulässige Revision hat mit der erhobenen Sachrüge jedenfalls vorläufig Erfolg; eines Eingehens auf die Verfahrensrüge bedarf es daher nicht.
8
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts, wonach dieses die Aufhängung der Plakate durch den Angeklagten selbst (in zwei Fällen) für nicht nachweisbar gehalten hat, genügt im Ergebnis noch den an sie zu stellenden Anforderungen.
9
Zwar hat sich das Landgericht die unzutreffenden Ausführungen der forensisch-anthropologischen Sachverständigen zu eigen gemacht, Statur und Erscheinung des Angeklagten in den verfahrensgegenständlichen beiden Einzelbilddateien, auf denen jeweils eine Person beim Aufhängen der Plakate gezeigt wird, dürften für dessen Identifizierung nicht herangezogen werden, da der Angeklagte extra nach Statur und Erscheinungsbild ausgewählt worden sei (UA S. 32/33) obwohl solcher Zirkelschluss hier fern lag: Nach den Urteilsfeststellungen geriet der Angeklagte nicht auf Grund der Ablichtungen in den Fokus der Ermittlungen, sondern u. a. weil er gegenüber dem Kreisverwaltungsreferat München im Juli 2021 den Antrag auf Plakatierung für die Partei „III. Weg“ gestellt hatte (UA S. 33).
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Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich jedoch, dass das Landgericht den Angeklagten auf Grund fehlender individueller Merkmale nicht ausreichend sicher festgestellt gesehen hat (UA S. 30 ff), was auch bei der Hinzunahme weitere Merkmale gelte (UA S.33/34). Der vorgenannte Fehler hat sich danach auf das Ergebnis der Beweiswürdigung nicht ausgewirkt.
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2. Durchgreifend und der staatsanwaltschaftlichen Revision zum Erfolg verhelfend ist jedoch, dass das Landgericht den Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht verstoßen hat.
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a) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlichrechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (ständige obergerichtliche Rechtsprechung; s. etwa BGH, Urteil vom 08.12.2021, 5 StR 236/21, zitiert nach juris, dort Rdn. 10 m. w. N. sowie Beschluss vom 20.05.2021, 3 StR 443/20, zitiert nach juris, dort Rdn. 11 m. w. N.).
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b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht. Die Strafkammer hat nicht in den Blick genommen, dass eine mögliche Strafbarkeit des Angeklagten (als Mittäter oder Gehilfe) auch durch seine Einbindung in die Organisation der Plakatierungsaktion als Mitverantwortlicher der Partei „Der III. Weg“ in Betracht zu ziehen sein könnte, obwohl hierzu auf der Grundlage seiner eigenen Feststellungen (UA S. 24 und 33) Anlass bestanden hätte.
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aa) Derartiges Verhalten des Angeklagten ist auch von dem angeklagten Tatgeschehen (Anklageschrift der Staatsanwaltschaft München I vom 24. Februar 2022) umfasst.
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Gegenstand der Urteilsfindung ist der historische Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (vgl. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 16.05.2023, 6 StR 545/22, zitiert nach juris, dort Rdn. 5 m. w. N.). Zur Tat im prozessualen Sinn gehört das gesamte Verhalten des Beteiligten, soweit es nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. Somit umfasst der Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse, selbst wenn diese Umstände in der Anklageschrift nicht ausdrücklich erwähnt sind. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat gleichwohl gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Diese ist dann gegeben, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls. Erfolgsdelikte wie vorliegend sind dadurch regelmäßig hinreichend konkretisiert, so dass die Tatidentität auch bei unwesentlichen Abweichungen vom zugelassenen Anklagesatz – hier etwa Beihilfe statt Täterschaft – gewahrt bleiben kann (vgl. BGH, Urteil vom 17.08.2017, 4 StR 127/17, zitiert nach juris, dort Rdn. 16 m. w. N.).
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Vorliegend führt die Anklageschrift vom 24. Februar 2022 (dort S. 2, Bl. 253 d. A.) ausdrücklich aus, dass der Angeklagte Leiter des Parteistützpunktes M./Oberbayern sowie stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes B. der Partei „Der III. Weg“ gewesen sei und sämtliche Plakate mit Wissen und Wollen der Angeschuldigten (also auch des Angeklagten) und ihrer unbekannten Mittäter aufgehängt worden seien.
17
bb) Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 19. Oktober 2023 (dort S. 7/8) hinsichtlich des Mitangeklagten ausgeführt hat, hat sich dieser als Vorsitzender der Partei „Der III. Weg“ dadurch täterschaftlich strafbar gemacht, dass die verfahrensgegenständlichen Plakate in seinem Auftrag und mit seinem Wissen aufgehängt wurden. Dies kann entsprechend (als Täter oder Gehilfe) auch für den Angeklagten gelten, wenn er in entsprechender Funktion ebenfalls in die Plakatierung eingebunden war, wie ihm dies die Staatsanwaltschaft zur Last gelegt hat.
III.
18
1. Das angefochtene Urteil war daher im angefochtenen Umfang einschließlich der zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben (§ 353 StPO). Die getroffenen Feststellungen sind aufzuheben, weil sie den Angeklagten belasten und er sie mangels Beschwer nicht hat angreifen können (vgl. etwa BGH, Urteil vom 14.07.2021, 6 StR 282/20, zitiert nach juris, dort Rdn. 37 m. w. N.).
19
2. Die Sache war nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückzuverweisen.
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3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das neue Tatgericht (ggf. nach entsprechenden Nachermittlungen) anlässlich einer weiteren Beweisaufnahme die Parteistruktur der Partei „Der III. Weg“ sowie die Genese, den näheren Ablauf und die Einbindung des Angeklagten in die Plakatierung mit Wahlplakaten im Bundestagswahlkampf 2021 in Bayern weiter aufzuklären haben wird. Erst auf dieser Grundlage wird sich das Gericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller für und gegen eine strafbare Beteiligung des Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte eine richterliche Überzeugung bilden können.
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Sofern die Kammer hiernach zu einer Beteiligung des Angeklagten (als Mittäter oder Gehilfe) gelangen sollte, wird sie zum Schuldspruch die Ausführungen des Senates in seinem Beschluss vom 19. Oktober 2023 zugrunde zu legen haben.