Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 30.10.2023 – RN 4 S 23.1896
Titel:

Zum Zeitpunkt der "Durchführung" eines Verteilungsverfahrens

Normenketten:
SGB VIII § 42b Abs. 4 Nr. 4, Abs. 7
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz:
Mit dem Verteilungsverfahren iSd § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ist das Verwaltungsverfahren gemeint, welches mit dem Erlass der Zuweisungsentscheidung, und nicht erst mit der tatsächlichen Überstellung des betroffenen Jugendlichen, seinen Abschluss findet. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zum Zeitpunkt der „Durchführung“ eines Verteilungsverfahrens, Verteilungsverfahren, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, Durchführung, Zuweisung, Überstellung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 44162

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, welche diese selbst tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen eine zwei unbegleitete minderjährige Ausländer betreffende Zuweisungsentscheidung des Antragsgegners.
2
Das Jugendamt des zu 1) beigeladenen Landkreises G … nahm am 1.9.2023 den am …2007 geborenen a … Staatsangehörigen …1 …2 und am 4.9.2023 den am …2006 geborenen a … Staatsangehörigen … … vorläufig in Obhut. Am 5.9.2023 führte das Jugendamt bei beiden Jugendlichen eine Altersfeststellung durch qualifizierte Inaugenscheinnahme durch und stellte jeweils die Minderjährigkeit fest.
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Am 26.9.2023 verpflichtete das Bundesverwaltungsamt den Antragsgegner zur Aufnahme.
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Mit Bescheiden vom 27.9.2023, welche eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrungenthielten, wies die Landesstelle des Freistaates ... für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen die unbegleiteten minderjährigen Ausländer … … und … … nach § 42b Abs. 3 des Achten Sozialgesetzbuchs (SGB VIII) dem Antragsteller zu. Der Beigeladene zu 1) wurde gebeten, mit dem Antragsteller Kontakt aufzunehmen. Dem Antragsteller wurden die Bescheide am gleichen Tag per E-Mail übermittelt.
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Am 4.10.2023 nahm der Beigeladene zu 1) per E-Mail Kontakt mit dem Antragsteller auf und bat ihn um schnellstmögliche Aufnahme der Jugendlichen, bestenfalls nächste Woche.
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Mit Schreiben vom 10.10.2023 bat der Antragsteller nach eigenen Angaben beim zu 2) beigeladenen Bezirk N … um Prüfung einer Kostenerstattung durch die Wirtschaftliche Jugendhilfe, worauf ihm am 12.10.2023 mitgeteilt worden sei, dass eine Kostenübernahme abgelehnt und empfohlen werde, ebenso zu verfahren und die Übernahme abzulehnen. Am gleichen Tag wurde der Beigeladene zu 1) informiert, dass eine Übernahme im Hinblick auf die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII abgelehnt werde.
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Am 17.10.2023 hat der Antragsteller gegen die Zuweisungsentscheidungen Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.
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Er trägt vor, dass die Verteilung der beiden minderjährigen Personen rechtswidrig sei. Die erste Kontaktaufnahme durch das Jugendamt des Beigeladenen zu 1) sei am 4.10.2023 erfolgt. Damit hätte eine Übergabe erst in der Kalenderwoche 41, also zwischen dem 9.10.2023 und dem 13.10.2023 erfolgen können. Die beiden Jugendlichen seien bis dato nicht dem Antragsteller übergeben worden. Eine Übergabe sei ohnehin bereits außerhalb der Monatsfrist erfolgt, welche mit der Feststellung der Minderjährigkeit am 5.9.2023 zu laufen begonnen habe. Gemäß der Begründung zum Gesetz bestehe ein Verteilungsausschluss, wenn sich das Kind oder der Jugendliche länger als einen Monat in der vorläufigen Obhut des Jugendamts am Ort seines Aufgriffs befinde. Der Ausschluss schränke aber die Möglichkeiten des Jugendamts nicht ein, ein anderes Jugendamt um Übernahme zu bitten, wenn zum Beispiel die dortige Unterbringung dem Wohl des Kindes diene. Eine Verteilung sei aber ausgeschlossen, wenn keine tatsächliche Übergabe innerhalb der Monatsfrist erfolge. Der Antragsteller könne auch keine Betreuung oder Unterbringung für die betroffenen Jugendlichen anbieten, welche deren spezifischen Bedürfnissen besser gerecht werde als die des Beigeladenen zu 1). Da der Beigeladene zu 1) telefonisch angekündigt habe, die Jugendlichen persönlich vorbeizubringen, sei die Angelegenheit eilbedürftig.
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Zur weiteren Begründung bezieht sich der Antragsteller auf § 42b Abs. 3 SGB VIII, welcher besage, dass die nach Landesrecht für die Verteilung unbegleiteter minderjähriger ausländischer Kinder und Jugendlicher zuständige Stelle das Kind oder den Jugendlichen innerhalb von zwei Werktagen einem in seinem Bereich gelegenen Jugendamt zur Inobhutnahme zuweise. Laut dem Gesetz stünden dem Antragsgegner hierfür zwei Werktage zu und nicht ein Monat.
10
Die gesetzliche Regelung, dass die Verteilung binnen eines Monats beendet sein müsse, sei Ausdruck des Gedankens des Kindeswohls. Insoweit nimmt der Antragsteller Bezug auf die Gesetzesbegründung. Die Verwaltungsabläufe sollten sich am kindlichen Zeitempfinden orientieren, nach Ablauf von einem Monat dürfe keine Verteilung mehr erfolgen. Der junge Mensch solle möglichst schnell Kenntnis über seinen zukünftigen Aufenthaltsort erlangen, um weitere Brüche zu vermeiden. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass Minderjährige nach einem Monat persönliche Bindungen mit den Personen vor Ort aufgebaut hätten, deren Abbruch durch eine spätere Verteilung das Kindeswohl gefährden könnte. Das Verteilungsverfahren sei daher erst mit der Ankunft des jungen Menschen im Zuweisungsjugendamt abgeschlossen.
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Zudem ergebe sich aus der Formulierung des § 42a Abs. 5 Satz 1 SGB VIII, dass die Übergabe an das für die Inobhutnahme zuständig gewordene Jugendamt zum Verteilungsverfahren gehöre.
12
Bei der anderslautenden Entscheidung des OVG Bautzen handle es sich um eine Einzelfallentscheidung unter besonderen Umständen, welche zwischenzeitlich durch die aktuelle Literatur deutlich in Frage gestellt werde.
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Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der gegen die Zuweisungsentscheidungen vom 27.9.2023 erhobenen Klage anzuordnen.
14
Der Antragsgegner tritt dem entgegen.
15
In der Sache trägt er vor, dass das Verteilungsverfahren innerhalb eines Monats nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt sei. Die Zuweisung und damit der Zuständigkeitsübergang sei am 27.9.2023 erfolgt, womit das Verteilungsverfahren abgeschlossen sei. Natürlich solle die „körperliche“ Übergabe so schnell wie möglich erfolgen, diese ziehe sich aber in der Praxis aus verschiedenen Gründen, welche sich sowohl auf der Seite des abgebenden als auch der des aufnehmenden Jugendamts ergeben könnten, regelmäßig in die Länge. Auf die Überstellung abzustellen, hätte für die Praxis unüberschaubare Folgen. Aufnehmende Jugendämter, welche keine Plätze mehr hätten, würden die Aufnahme bis zum Monatsablauf hinauszögern, abgebende Jugendämter würden aus Sorge, die unbegleiteten minderjährigen Ausländer behalten zu müssen, die Jugendlichen tatsächlich „vor die Tür“ der aufnehmenden Jugendämter stellen. Vor diesem Hintergrund sei das Verteilverfahren mit der Zuweisung und nicht mit der Übergabe beendet.
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Das Gericht hat den Landkreis G … (Beigeladener zu 1)) mit Beschluss vom 17.10.2023 und den Bezirk N … (Beigeladener zu 2)) mit Beschluss vom 26.10.2023 beigeladen.
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Der Beigeladene zu 1) hat keinen Antrag gestellt.
18
Er führt aus, dass § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII in diesem speziellen Fall nicht zur Anwendung kommen sollte, da die Umstände der bisherigen Betreuungssituation der Jugendlichen eine Ausnahme rechtfertigten. Die beiden Jugendlichen seien seit ihrer vorläufigen Inobhutnahme darauf vorbereitet worden, dass sie den Landkreis, in dem sie sich derzeit aufhielten, alsbald wieder verlassen müssten. Diese ständige Unsicherheit und fehlende räumliche Bindung an ihren derzeitigen Aufenthaltsort habe zu erheblichem Stress und emotionaler Belastung bei den Jugendlichen geführt. Sie hätten keine stabilen Bindungen zu Gleichaltrigen in der aktuellen Umgebung aufgebaut. Eine bundesweite Verteilung sei notwendig, um den Jugendlichen eine stabile Umgebung zu bieten, in der sie sich sicher fühlen könnten. Man habe zu keiner Zeit Druck auf das aufnehmende Jugendamt ausgeübt, vorrangige Sorge sei stets das Wohl der Jugendlichen gewesen. Es sei von großer Bedeutung, dass mit der Verteilungsentscheidung auch die Zuständigkeit wechsle. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die aufnehmenden Jugendämter die Frist aussäßen und sich nicht mehr für die Jugendlichen verantwortlich fühlten. Die bundesweite Verteilung stehe im Einklang mit dem Kindeswohl und den Zielen des SGB VIII.
19
Der Beigeladene zu 2) hat keinen Antrag gestellt und sich nicht zur Sache geäußert.
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Für den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die vorgelegten Behördenakten sowie die Gerichtsakten mit den wechselseitigen Schriftsätzen. Die Akten im Verfahren RN 4 K 23.1897 wurden beigezogen.
II.
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1. Der zulässige Antrag bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt allerdings nach § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO dann, wenn die Anordnung kraft Gesetzes – wie hier nach § 42b Abs. 7 SGB VIII – sofort vollziehbar ist oder die Behörde die sofortige Vollziehbarkeit eines Verwaltungsakts im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten besonders anordnet In diesen Fällen kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung von Klage und Widerspruch anordnen (wenn diese aufgrund Gesetzes ausgeschlossen ist) oder wiederherstellen (wenn eine Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO vorliegt). Das Gericht trifft insoweit eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat dabei zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit ihres Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind vorrangig die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die gebotene summarische Prüfung, dass Rechtsbehelfe gegen den angefochtenen Bescheid keinen Erfolg versprechen, tritt das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung regelmäßig hinter das Vollziehungsinteresse zurück und der Antrag ist unbegründet. Erweist sich die erhobene Klage hingegen bei summarischer Prüfung als zulässig und begründet, dann besteht kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheides und dem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist stattzugeben. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht ausreichend absehbar, muss das Gericht die widerstreitenden Interessen im Einzelnen abwägen. Die Begründetheit eines Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann sich daneben auch daraus ergeben, dass die behördliche Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtswidrig ist, weil sie den formellen Anforderungen nicht genügt.
23
Vor dem Hintergrund dieser Maßstäbe bleibt der Antrag ohne Erfolg. Eine summarische Prüfung der erhobenen Klage ergibt, dass diese in der Hauptsache voraussichtlich erfolglos bleiben wird, sodass das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinter das Vollziehungsinteresse zurücktritt (dazu 1.1). Auch sonst ist kein das Sofortvollzugsinteresse überwiegendes Aussetzungsinteresse ersichtlich (dazu 1.2).
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1.1 Bei summarischer Prüfung bestehen an der Rechtmäßigkeit der Zuweisungsentscheidung des Antragsgegners keine durchgreifenden Zweifel. Allein streitig ist vorliegend die Frage, ob ein Ausschlussgrund für die Durchführung eines Verteilungsverfahrens nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII vorliegt. Hiervon geht das Gericht nicht aus.
25
Nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII ist die Durchführung eines Verteilungsverfahrens bei einem unbegleiteten ausländischen Kind oder Jugendlichen ausgeschlossen, wenn die Durchführung des Verteilungsverfahrens nicht innerhalb von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt. Soweit nach Aktenlage ersichtlich ist, wurde diese Monatsfrist vorliegend eingehalten.
26
Für den Fristbeginn ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt, dass die Monatsfrist erst zu laufen beginnt, wenn die Minderjährigkeit des Betreffenden feststeht (BVerwG, U. v. 26.4.2028, 5 C 11/17 – juris Rn. 27). Abzustellen ist somit auf den Zeitpunkt der Inobhutnahme (Winkler in BeckOK Sozialrecht,, 70. Ed. 1.9.2023, SGB VIII, § 42b Rn. 10). Begründet wird dies damit, dass eine Auslegung, die unabhängig von ihrem Rechtsgrund an jedwede Inobhutnahme anknüpfen würde, außer Acht ließe, dass die Vorschrift nach ihrem ausdrücklich Wortlaut ausschließlich „Kinder und Jugendliche“, also Minderjährige, betrifft (BVerwG, U.v. 26.4.2018, a.a.O.). Dies werde auch durch den systematischen Zusammenhang mit den weiteren Regelungen des Ersten Abschnitts des Dritten Kapitels des SGB VIII unterstrichen, weil die § 42c bis e SGB VIII ebenfalls die Minderjährigkeit der betreffenden Person voraussetzten (BVerwG, U.v. 26.4.2018, a.a.O. Rn. 9). Dieser Auffassung schließt sich die Kammer an, so dass der Fristbeginn hier an die am 5.9.2023 erfolgte Altersfeststellung der beiden Minderjährigen anknüpft und die Frist am 6.9.2023 zu laufen begann, § 187 Abs. 1 BGB i.V.m. § 26 Abs. 1 SGB X.
27
Die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII war auch nicht abgelaufen, weil die Durchführung des Verteilungsverfahrens vorliegend bereits am 27.9.2023 erfolgt ist.
28
Die Frage, wann ein Verteilungsverfahren durchgeführt ist, wird in Rechtsprechung und Literatur uneinheitlich beantwortet. Während das Sächsische Oberverwaltungsgericht entschieden hat, dass es für eine fristwahrende Durchführung nicht auf die tatsächliche Überstellung des betroffenen Jugendlichen, sondern auf die rechtzeitige Zuweisungsentscheidung ankommt (SächsOVG, U. v. 19.12.2019, 3 A 719/18, juris Rn. 16, dem folgend Winkler in BeckOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching, SGB VIII, 70. Ed. 1.9.2023, § 42b Rn. 10), wird in der Literatur teilweise vertreten, dass das Verwaltungsverfahren erst mit der Ankunft des/der Minderjährigen im Zuweisungsjugendamt abgeschlossen sei und nicht etwa schon mit Erlass des Zuweisungsbescheids durch die Landesstelle (Steinbüchel in: Wiesner/Wapler/Steinbüchel SGB VIII, 6.Aufl. 2022, § 42b Rn. 9; Trenczek in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42b Rn. 10).
29
Aus Sicht der entscheidenden Kammer folgt aus dem Wortlaut (dazu a)), der Gesetzessystematik (dazu b)), der Entstehungsgeschichte (dazu c)) und nicht zuletzt auch aus dem Sinn und Zweck der Norm (dazu d)), dass mit dem Verteilungsverfahren im Sinn des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII das Verwaltungsverfahren gemeint ist, welches vorliegend mit dem Erlass der am 27.9.2023 erfolgten Zuweisungsentscheidung seinen Abschluss gefunden hat. Damit ist die Verteilung mit dem Erlass der Zuweisungsentscheidung „durchgeführt“ (ebenso SächsOVG, U. v. 19.12.2019, a.a.O.Rn. 20).
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a) Vom Wortlaut ausgehend ist das Gericht der Ansicht, dass der Begriff „Verteilungsverfahren“ nach allgemein üblichem Sprachgebrauch nahelegt, dass damit ein Verwaltungsverfahren und nicht auch der sich an dieses Verwaltungsverfahren anschließende Vollzug der in diesem Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidung gemeint ist. Als Verwaltungsverfahren wird in § 8 SGB X „die nach außen wirkende Tätigkeit der Behörden, die auf Prüfung der Voraussetzungen, die Vorbereitung und den Erlass eines Verwaltungsaktes oder auf den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags gerichtet ist“ legal definiert. Dem entspricht es, dass für die Beendigung eines solchen Verfahrens an den Erlass, die Bekanntgabe oder den Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts aber jedenfalls nicht an die Vollziehung angeknüpft wird (vgl. zu § 9 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 9 Rn. 34 ff.).
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b) Für ein solches Verständnis spricht auch die Gesetzessystematik. § 42b Abs. 4 SGB VIII ist nämlich im Kontext des voranstehenden § 42b Abs. 3 SGB VIII zu lesen. Dort wird im Einzelnen beschrieben, nach welchen Regeln die „Zuweisung“ erfolgt und dass für die „Verteilung“ das Landesjugendamts bzw. die nach Landesrecht bestimmte Stelle zuständig ist. Da im Gegensatz hierzu die körperliche Übergabe des Flüchtlings aber gerade nicht in den Händen dieser Stelle, sondern in denen des abgebenden Jugendamts liegt, wird deutlich, dass auch § 42b Abs. 3 SGB VIII mit „Verteilung“ die Zuweisungsentscheidung meint. § 42b Abs. 4 SGB VIII knüpft ersichtlich hieran an.
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Gegen diese Auslegung spricht auch nicht § 42a Abs. 5 SGB VIII. Diese Norm regelt, dass bei einer Unterbringung eines Minderjährigen im Rahmen des Verteilungsverfahrens die vorläufige Inobhutnahme die Pflicht zur Begleitung und Übergabe umfasst, sie bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Übergabe auch Teil dieses Verteilungsverfahrens ist. Vielmehr deutet die unterschiedliche Terminologie in § 42a Abs. 4 SGB VIII, der von „Verteilung“ spricht und in § 42a Abs. 5 SGB VIII, der den Begriff „Übergabe“ verwendet, darauf hin, dass diese Begriffe im Gesetz gerade nicht deckungsgleich verwendet werden.
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Damit greift auch der Einwand nicht durch, dass aus der Übergangsregelung in § 42d Abs. 3 SGB VIII ein anderes Ergebnis folgen würde, weil auch hier an den Begriff des Verteilungsverfahrens und nicht an den der Übergabe angeknüpft wird.
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c) Gegen dieses Ergebnis spricht – entgegen der Rechtsauffassung des Antragstellers – auch nicht die Entstehungsgeschichte der Norm. In der Gesetzesbegründung ist hierzu ausgeführt:
„Zur Ausrichtung der Verwaltungsabläufe am kindlichen Zeitempfinden und an der spezifischen Belastungssituation von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen wird durch die Regelung von Fristen für die Abwicklung der einzelnen Verfahrensschritte durch die beteiligten Behörden auf einen Abschluss des Verteilungsverfahrens innerhalb von insgesamt 14 Werktagen hingewirkt. Nach Ablauf von einem Monat nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme darf keine Verteilung mehr erfolgen.“
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Damit ist aber gerade noch nicht gesagt, was mit Verteilungsverfahren bzw. Verteilung gemeint ist. Vielmehr spricht nach Überzeugung der Kammer eine am Wortlaut orientierte Auslegung der Gesetzesbegründung aus den oben genannten Gründen ebenfalls dafür, dass mit „Verteilung“ auch hier die „Zuweisungsentscheidung“ und nicht die „Übergabe“ gemeint ist.
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d) Entscheidend gestützt wird dieses Ergebnis durch eine teleologische Auslegung. Zwar ist es zweifelsfrei Ziel der gesetzlichen Regelung, zum Schutz der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine Verfahrensbeschleunigung zu erreichen. Dem wird allerdings bereits dadurch ausreichend Rechnung getragen, dass die Zuweisungsentscheidung innerhalb der Monatsfrist erfolgen muss. Die dieser Zuweisungsentscheidung nachfolgende Übergabe des Flüchtlings, also der Vollzug der Verteilung, wird sich nämlich in aller Regel ohne große zeitliche Verzögerung anschließen. Denn auf Seiten des in Obhut nehmenden Jugendamts werden regelmäßig Kosteninteresse und Kapazitätsgründe dafür sprechen, diesen Vollzug möglichst rasch herbeizuführen, zumal bereits vorher die kurzfristig zu treffende positive Entscheidung für die Teilnahme am länderübergreifenden Verteilungsverfahren ausdrücklich erfolgt sein muss, während umgekehrt für den Flüchtling ohne Belang sein dürfte, ob er innerhalb der Monatsfrist oder wenige Tage später an das neue Jugendamt übergeben wird (so bereits Sächs. OVG, U. v. 19.12.2019, a.a.O., Rn. 21).
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Eine Schutzlücke für die betroffenen Jugendlichen entsteht durch eine solche Auslegung schon deshalb nicht, weil neben dem Ausschlussgrund des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII die Gefährdung des Wohls des unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen in § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII als eigenständiger Ausschlussgrund normiert ist, wodurch atypische Fälle einer ausnahmsweise überlangen Verzögerung der der Zuweisungsentscheidung nachfolgenden Übergabe des Flüchtlings berücksichtigt werden können, wofür hier allerdings nichts ersichtlich ist.
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Bestätigt wird das Ergebnis auch dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht beim Fristbeginn zu Recht auf die Altersfeststellung und nicht auf die Inobhutnahme abgestellt hat und dabei ausdrücklich als „unvermeidbare Folge“ in Kauf genommen hat, dass mit dieser Rechtsprechung der Zweck einer Verteilung des betreffenden Personenkreises im Bundesgebiet innerhalb recht kurzer Zeiträume möglicherweise nicht vollständig erreicht werden könne, wenn gegebenenfalls zunächst die verwaltungsgerichtlich inzident überprüfbare Altersbestimmung abgewartet werden müsse. Vor diesem Hintergrund scheint die durch ein Abstellen auf die Zuweisungsentscheidung beim Fristende folgende Verzögerung von nur wenigen Tagen erst Recht hinzunehmen.
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Entscheidend hinzu kommt schließlich, dass schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ein Abstellen auf die tatsächliche Übergabe kaum in Betracht kommt. Insoweit hat der Antragsgegner zu Recht darauf hingewiesen, dass aufnehmende Jugendämter die Übergabe hinauszögern könnten, während abgebende Jugendämter zur Selbsthilfe greifen und Jugendliche ohne erforderliche Absprache einfach beim aufnehmenden Jugendamt vorbeibringen könnten, um einen Fristablauf zu verhindern. Dass ein solch ungeordnetes Verfahren jedenfalls weniger im Interesse der schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen läge als eine (geringfügige) zeitliche Verzögerung liegt nach Auffassung der Kammer auf der Hand.
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Letztlich wird eine Auslegung, die „Verteilung“ als „Übergabe“ und nicht als „Zuweisungsentscheidung“ versteht, auch dadurch ad absurdum geführt, dass die aufnehmenden Jugendämter die Frist bereits durch Einlegung eines Rechtsbehelfs im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aushebeln könnten.
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1.2 Ein anderes das Sofortvollzugsinteresse überwiegendes Aussetzungsinteresse ist nicht ersichtlich. Vielmehr spricht der in § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII angelegte Zweck einer Verfahrensbeschleunigung aus Gründen des Jugendschutzes deutlich für eine sofortige Vollziehung.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Den Beigeladenen konnten Kosten nicht auferlegt werden, da sie keine Anträge gestellt haben, § 154 Abs. 3 VwGO. Umgekehrt entsprach es nicht der Billigkeit, dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, da diese keinen Antrag gestellt und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt haben (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO). Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtkostenfrei, die Ausnahme von § 188 Satz 2, 2. Halbs. ist vorliegend nicht einschlägig.