Titel:
Anspruch des Erwerbers eines Diesel-Fahrzeugs mit Thermofenster auf Ersatz des Differenzschadens und Verbotsirrtum
Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
Leitsätze:
1. Selbst wenn das in der Motorsteuerung implementierte Thermofenster objektiv als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren wäre, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für den Fahrzeughersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedarf es vielmehr weiterer Umstände (hier verneint). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Fahrzeughersteller muss, wenn er eine Übereinstimmungsbescheinigung trotz der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegeben und dadurch § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt hat, im Fall der Inanspruchnahme nach § 823 Abs. 2 BGB Umstände darlegen und beweisen, die sein Verhalten zum maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufs des Fahrzeugs durch den Kläger ausnahmsweise nicht als fahrlässig erscheinen lassen. (Rn. 74) (redaktioneller Leitsatz)
3. Mit einer tatsächlich erteilten EG-Typgenehmigung kann sich der Fahrzeughersteller nur entlasten, wenn diese EG-Typgenehmigung die verwendete unzulässige Abschalteinrichtung in allen ihren nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten umfasst. Die EG-Typgenehmigung muss sich dann allerdings auf die Abschalteinrichtung in ihrer konkreten Ausführung und auch unter Berücksichtigung festgestellter Kombinationen von Abschalteinrichtungen erstrecken (hier verneint mangels entsprechenden Parteivortrags). (Rn. 79) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schadensersatz, Schutzgesetz, Dieselskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, EA 288, Thermofenster, Übereinstimmungsbescheinigung, Differenzschaden, Verbotsirrtum, erteilte EG-Typgenehmigung
Vorinstanz:
LG Traunstein, Urteil vom 14.09.2022 – 6 O 1273/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 43899
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 14.09.2022, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 240,58 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 07.07.2022 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen trägt die Klägerin.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 28.069,71 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
I. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatz aus dem Kauf eines Dieselfahrzeugs geltend.
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1. Die Klägerin erwarb am 20.11.2015 von der Auto K. GmbH einen von der Beklagten hergestellten VW T6 Multivan 2,0 l TDI, 110 kW mit einer ausländischen Kurzzulassung zum Kaufpreis von 36.450,00 € brutto und einem Kilometerstand von 20 km. Das Fahrzeug verfügt über einen von der Beklagten entwickelten und hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA 288 mit einem SCR-Katalysator und unterfällt der Abgasnorm Euro 6.
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In dem Fahrzeug kommt eine Abgasrückführung zur Anwendung, die sich mindernd auf die Stickoxidemissionen auswirkt, jedoch außerhalb eines bestimmten Außentemperaturbereichs abgeschaltet beziehungsweise reduziert wird (sogenanntes Thermofenster).
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In der Software des Motorsteuerungsgeräts war zum Zeitpunkt des Erwerbs eine sogenannte Fahrkurvenerkennung in Bezug auf den Prüfstand (NEFZ) implementiert, die bewirkt, dass die AGR-Rate im NEFZ auch nach Erreichen der vollen Wirksamkeit des SCR-Katalysators hochgehalten wird.
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Für das streitgegenständliche Fahrzeug existiert lediglich ein Rückruf des Kraftfahrtbundesamts (KBA) wegen einer Konformitätsabweichung im Zusammenhang mit der Regeneration des Dieselpartikelfilters, nicht jedoch wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung.
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Am 03.11.2023 betrug die Laufleistung des Fahrzeugs 77.815 km.
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2. Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, 28.069,71 € (Kaufpreis abzüglich Nutzungsentschädigung) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, abzüglich einer im Termin zur mündlichen Verhandlung zu beziffernden weiteren Nutzungsentschädigung, Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs zu zahlen. Daneben begehrt die Klägerin die Feststellung des Annahmeverzugs und die Freistellung von den vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.375,88 €.
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Die Klagepartei behauptet, im streitgegenständlichen Motor seien unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut, welche die Wirkung von Emissionskontrollsystemen manipulierend verringerten und eine auf den Prüfstand ausgerichtete Programmierung aufwiesen, die die Prüfstandsituation erkenne und mittels Schalterfunktion eine vom realen Fahrbetrieb abweichende Emissionsverringerung starte.
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3. Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 14.09.2022 abgewiesen. Die Voraussetzungen der geltend gemachten deliktischen Anspruchsgrundlagen, §§ 826, 831, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bzw. §§ 6, 27 EG-FGV, seien nicht gegeben. Die Klagepartei habe bereits das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht substantiiert dargelegt.
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4. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. In der Hauptsache verfolgt sie den sog. großen Schadensersatz wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung weiter, hilfsweise begehrt sie den Differenzschadensersatz. Die Berufung rügt sowohl die fehlerhaften tatsächlichen Feststellungen erster Instanz als auch fehlerhafte rechtliche Bewertungen. Das Landgericht überspanne die Substantiierungsanforderungen, habe die angebotenen Beweise fehlerhaft nicht erhoben und klägerischen Sachvortrag kommentarlos übergangen. Das streitgegenständliche Fahrzeug weise eine Prüfzykluserkennung auf, die wie bei der Umschaltlogik des EA 189 auch das Zusammenspiel von AGR-Rate und SCR-Einsatz so steuere, dass die Grenzwerte nur auf den Prüfstand eingehalten werden.
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Auf eine sogenannte Grenzwertkausalität bei der Manipulation des Abgasreinigungssystems komme es nicht an. Die unstreitig vorliegenden Abschalteinrichtungen seien auch aus Gründen des Motorschutzes nicht ausnahmsweise zulässig.
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Zuletzt beantragte die Klägerin,
- 1.
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Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerschaft 28.069,71 € (Kaufpreis abzüglich der Nutzungsentschädigung mit Kilometerstand zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung erster Instanz) abzüglich einer weiter zu berechnenden vom Gericht auf Basis einer Gesamtlaufleistung von zumindest 300.000 km zu schätzenden Nutzungsentschädigung für die Nutzung des streitgegenständlichen Fahrzeugs unter Zugrundelegung des Kilometerstandes zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zweiter Instanz zzgl. Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Volkswagen Multivan mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer ….
- 2.
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Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Entgegennahme des im Klageantrag zu 1. genannten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
- 3.
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Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerschaft von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.501,19 € freizustellen.
hilfsweise für den Fall, dass das Gericht davon ausgeht, dass der Klägerpartei lediglich ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zusteht:
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerpartei einen Betrag bezüglich des streitgegenständlichen Fahrzeugs dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens € 5.467,50 betragen muss, zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Im Hinblick auf das sog. Thermofenster trägt die Beklagte vor, dass erst unterhalb einer Umgebungstemperatur von ca. + 12 °C eine graduelle Reduzierung der Abgasrückführung erfolge. Dies sei aus Gründen des Motorschutzes und des sicheren Fahrzeugbetriebes erforderlich.
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Die Fahrkurvenerkennung, die bewirke, dass während einer Prüfstandsfahrt nach Erreichen der erforderlichen Betriebstemperatur des SCR-Katalysators von mindestens 200 °C an einem Betriebsmodus mit erhöhter Abgasrückführungsrate (sog. NOx-LowBetriebsart) festgehalten werde, während außerhalb des Prüfstands zu diesem Zeitpunkt in einen Betriebsmodus mit verringerter Abgasrückführungsrate (sog. NOx-HighBetriebsart) gewechselt werde, stelle keine unzulässige Abschalteinrichtung dar, da es an der Grenzwertrelevanz fehle. Die Beklagte habe das KBA im Oktober 2015 über diese nicht prüfstandsbezogene Funktion informiert. Das KBA habe nach intensiven Untersuchungen bescheinigt, dass selbst bei deren Deaktivierung der gesetzliche NOxEmissionsgrenzwert eingehalten werde.
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Die Fahrkurve sei im Rahmen einer freiwilligen Serviceaktion am 26.04.2017 auch im streitgegenständlichen Fahrzeug entfernt worden.
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II. Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
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Die zulässige Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg. Ihr steht, bezogen auf den Hilfsantrag, ein Anspruch in Höhe von 240,58 € gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu. Im Übrigen ist die Berufung zu einem ganz überwiegenden Teil unbegründet.
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I. Der mit dem Hauptantrag geltend gemachte Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs (sog. großer Schadenersatz) ist, wie das Landgericht zutreffend geurteilt hat, unbegründet.
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1. Die Beklagte haftet dem Kläger nicht aus §§ 826,31 BGB auf den sog. großen Schadensersatz, da ihr kein sittenwidriges Verhalten anzulasten ist.
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a) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, juris Rdnr. 15; BGH, Urteil vom 28.06.2016, VI ZR 536/15, NJW, 2017, 250; juris Rdnr. 16). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, juris Rdnr. 15; BGH, Urteil vom 07.05.2019, VI ZR 512/17, NJW 2019, 2164, juris Rdnr. 8).
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Dabei ist die Prüfstandsbezogenheit einer Motorsteuerungssoftware grundsätzlich ein geeignetes Kriterium, um zwischen nur unzulässigen Abschalteinrichtungen und solchen, deren Implementierung die Kriterien einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung erfüllen können, zu unterscheiden. Die Tatsache, dass eine Manipulationssoftware ausschließlich im Prüfstand die Abgasreinigung verstärkt aktiviert, indiziert eine arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde. Eine Software, die bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, zielt unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab. Das Inverkehrbringen solcher Fahrzeuge durch den Fahrzeughersteller ist sittenwidrig und steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber gleich (BGH, Beschluss vom 10.01.2023, VIII ZR 9/21, ZIP 2023, 989, juris Rdnr. 28; BGH, Urteil vom 27.07.2021, VI ZR 151/20, VersR 2021, 1511, juris Rdnr. 12; BGH, Beschluss vom 04.05.2022, VII ZR 733/21, juris Rdnr. 18).
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b) In Bezug auf das Thermofenster kann, ungeachtet der Frage, ob ein solches vorliegt, wie es bedatet ist und ob es als unzulässige Abschalteinrichtung einzuordnen wäre, nicht von einem sittenwidrigen Verhalten der Beklagten ausgegangen werden.
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Allein der Umstand, dass die Abgasrückführung durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei bestimmten Außentemperaturen reduziert (und möglicherweise ganz abgeschaltet) wird, reicht nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben. Selbst wenn man zugunsten der Klägerin in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt, dass ein derartiges Thermofenster objektiv als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren wäre, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedarf es vielmehr weiterer Umstände. Dies gilt auch dann, wenn die Beklagte mit der Entwicklung und dem Einsatz des Thermofensters eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinnen erstrebt hat. Bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die für die Beklagte handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters das Bewusstsein hatten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 12; BGH, Beschluss vom 19.01.2021, VI ZR 433/19, NJW 2021, 921, juris Rdnr. 13 ff.; BGH, Urteil vom 16.09.2021, VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721, juris Rdnr. 16). An dieser Rechtsprechung hält der Bundesgerichtshof auch nach dem Urteil des EuGH vom 21.03.2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) ausdrücklich fest (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 48).
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Daran fehlt es hier. Die Verwendung einer Prüfstandserkennungssoftware ist mit der Applikation einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems nicht verbunden.
26
c) Auch in Bezug auf die Fahrkurvenerkennung und die im Zusammenhang damit von der Klägerin behaupteten Manipulation des SCR-Katalysators und der Modifikation der AdBlue-Zufuhr sind die Voraussetzungen für ein sittenwidriges Handeln der Beklagten nicht erfüllt.
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Anhaltspunkte für das die Sittenwidrigkeit ausfüllende Vorstellungsbild der für die Beklagten handelnden Personen hat die Klägerin nicht aufgezeigt. Die Fahrkurvenerkennung im Motortyp EA 288 war dem Kraftfahrtbundesamt seit 2015 bekannt und wurde von diesem nicht als unzulässig gewertet. Dies lassen die zahlreichen, von der Beklagten vorgelegten Auskünfte des Kraftfahrtbundesamts in Parallelverfahren erkennen. Die gerichtlichen Anfragen sind zwar zu anderen Fahrzeugen ergangen. Jedoch hat sich das KBA in seinen Aussagen übereinstimmend sehr allgemein gehalten. So hat es unter anderem mitgeteilt, umfassende Untersuchungen an Fahrzeugen mit Motoren der Reihe des EA 288 durchgeführt zu haben, z. B. im Rahmen der „Untersuchungskommission Volkswagen“, der freizugebenden Software-Updates für das Nationale Forum Diesel sowie im Rahmen spezifischer Feldüberwachungstätigkeiten.
28
Prüfungen hätten gezeigt, dass auch bei Deaktivierung der Prüfstandserkennung die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten worden seien. Bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufgewiesen und durch das KBA untersucht worden sei, sei eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden. Es seien daher weder Nebenbestimmungen angeordnet worden noch bestehe ein behördlich angeordneter Rückruf aufgrund als unzulässig eingestufter Abschalteinrichtungen (z.B. KBA Auskunftsschreiben vom 25.01.2021 betreffend einen VW Tiguan 2,0 TDI SCR an das Oberlandesgericht München, Anlage B28).
29
Konkret bezogen auf die Kombination von Fahrkurvenerkennung und SCR-Katalysator hat das Kraftfahrtbundesamt – ebenfalls verallgemeinernd – ausgeführt, im Falle der Fahrzeuge mit nachgeschalteter Abgasnachbehandlung mittels SCR-Katalysators werde die Fahrkurvenerkennung zur Umschaltung der Betriebsmodi der Abgasrückführung im Rahmen der Typprüfung genutzt, wobei eine Verringerung der Raten der Abgasrückführung durch die Abgasnachbehandlung kompensiert werden könne. Im Prinzip werde die NOxmindernde Wirksamkeit des AGR-Systems zurückgefahren, sobald das SCR-System seine NOxmindernde Wirkung entfalten könne. Bei einer Betrachtung des gesamten Emissionskontrollsystems blieben somit die Schadstoffemissionen unterhalb der Grenzwerte. Dies erfolge nicht nur über die Fahrkurve im Testzyklus, sondern auch unter realen Betriebsbedingungen auf der Straße. Die Umschaltung der Betriebsmodi erfolge dabei über physikalische Motorparameter wie z. B. die Temperatur des SCR-Katalysators. Prüfungen im KBA hätten gezeigt, dass auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenfunktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten würden, sodass die Fahrkurvenerkennung bei Fahrzeugen mit Motor EA 288 nicht als unzulässige Abschalteinrichtung bewertet werde (Anlage B 28).
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Es ist zwar zutreffend, dass nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Grenzwertkausalität für die Frage, ob eine Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 vorliegt, keine Rolle spielt (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW, 2023, 2259, juris Rdnr. 51). Bei der umfassenden Würdigung der Umstände, die ein sittenwidriges Handeln ausmachen können, kommt es jedoch sehr wohl darauf an, ob die Verantwortlichen der Beklagten in dem Bewusstsein handelten, dass die gesetzlichen Abgaswerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden. Dies ist nach den vielfältigen Bescheinigungen des Kraftfahrtbundesamts bei der Fahrkurvenerkennung nicht der Fall.
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Auch wenn diese Rechtsauffassung bzw. Verwaltungspraxis des KBA keine Grundlage in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 hätte, schließt dies die Annahme eines vorsätzlichsittenwidrigen Verhaltens der Beklagten aus. Vertritt die zuständige Fachbehörde die Rechtsauffassung, die hier diskutierte Abschalteinrichtung sei zulässig, kann das darauf bezogene Verhalten der Beklagten nicht als besonders verwerflich eingestuft werden. Für die dazu erforderliche Annahme, die Beklagte habe die Abschalteinrichtung im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und unter billigender Inkaufnahme des Gesetzesverstoßes implementiert, bleibt kein Raum; ebenso scheidet ein Schädigungsvorsatz aus (BGH, Urteil vom 12.10.2023, VII ZR 412/21, juris Rdnr. 17; vgl. BGH, Beschluss vom 09.05.2022, VIa ZR 303/21). Gerade aufgrund der eindeutigen Positionierung des Kraftfahrtbundesamts zur Frage der Grenzwertrelevanz kann den für die Beklagte agierenden Personen nicht unterstellt werden, dass sie gezielt über eine Täuschung des KBAs sich eine Typenzulassung hätten erschleichen wollen.
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Der Verweis auf Berichte der D. Umwelthilfe oder auf andere Messungen ist ebenfalls kein entscheidungserheblicher Baustein für die Frage eines etwaigen sittenwidrigen Handelns der Beklagten. Der Umstand, dass das Fahrzeug im realen Betrieb die gesetzlichen Grenzwerte nicht einhält, ist rechtlich unbeachtlich. Die Abweichung der Messwerte im Realbetrieb von den Messwerten nach NEFZ ist schon als Indiz für eine Abschalteinrichtung angesichts der unstreitigen gravierenden Unterschiede der Bedingungen, unter denen die Messung erfolgt, ungeeignet (BGH, Beschluss vom 15.09.2021, VII ZR 2/21, juris Rdnr. 30; BGH, Urteil vom 13.07.2021, VI ZR 128/20, ZIP 2022, 276, juris Rdnr. 23). Erst recht gilt dies für die Frage einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung.
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Ferner bietet die „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinen & Freigabevorgaben EA 288“ der Beklagten vom 18.11.2015 (Anlage K9) keine greifbaren Anhaltspunkte für ein verwerfliches Vorgehen. Dabei handelt es sich um einen mit dem Kraftfahrtbundesamt vereinbarten Leitfaden, der auch eine Applikationsanweisung für „Fahrkurven EA288 SCR“ beinhaltet, gültig ab Kalenderwoche 47/2015. Für den Produktionsstart vor Kalenderwoche 22/2016 ist festgehalten: „Fahrkurven dürfen nicht zur Einhaltung der Emissions- und OBD-Grenzwerte genutzt werden. Diese müssen durch Ausbedatung oder Software-Änderung entfernt werden. Möglicherweise notwendige Umschaltungen zur Einhaltung der Emissions- und OBD-Grenzwerte müssen auf Basis physikalischer Randbedingungen erfolgen.“ Abgesehen davon, dass sich die Beklagte bezüglich der Entscheidungsvorlage mit dem KBA abgestimmt hatte, stellte sie die Fahrkurvenerkennung ausdrücklich unter den Vorbehalt gesetzmäßigen Handelns, was Auswirkungen auf das subjektive Vorstellungsbild der für die Beklagte handelnden Personen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 21.03.2022, VIa ZR 334/21, juris Rdnr. 20).
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Soweit die Klagepartei einwendet, die Beklagte habe die Prüfstandserkennungssoftware gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt auch im September/Oktober 2015 nicht offengelegt, sondern wahrheitswidrige Angaben gemacht, auf die das KBA vertraut habe, unterfüttert sie ihre Behauptungen nicht mit Umständen, aus denen sich manifeste Anhaltspunkte für ihre Schilderung ableiten ließen. Dies wäre angesichts der Auskünfte des Kraftfahrtbundesamts, das auf eine Vielzahl eigener, eingehender Prüfungen rekurriert, erforderlich gewesen.
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d) Weitergehende Aspekte, die die Tatbestandsvoraussetzungen des § 826 BGB ausfüllen könnten, hat die Klägerin nicht dargetan.
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2. Die Klägerin hat zudem keinen Anspruch auf den sog. großen Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV. Das Interesse, nicht zu einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liegt nicht im Aufgabenbereich dieser Bestimmungen. Sie bezwecken nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer (BGH, Beschluss vom 20.04.2022, VII ZR 720/21, juris Rdnr. 13; BGH, Beschluss vom 10.02.2022, III ZR 87/21, MDR 2022, 700, juris Rdnr. 14; BGH, Urteil vom 03.07.2020, VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798, juris Rdnr. 11).
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II. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m.§§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV in Höhe von 240,58 €, weil sie durch den Abschluss des Kaufvertrages über den VW Multivan T6 wegen eines Verstoßes der Beklagten als Fahrzeugherstellerin gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese erlitten hat. In dieser Höhe ist die Berufung im zulässigen Hilfsantrag begründet.
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1. Durch die Unbegründetheit des Hauptantrages ist die innerprozessuale Bedingung zur Prüfung des Hilfsantrages eingetreten. Der Hilfsantrag gerichtet auf den Differenzschaden stellt dabei keine objektive Klagehäufung dar, sondern erweist sich als auch in der 2. Instanz stets zulässige Klageänderung nach §§ 525 S. 1, 264 Nr. 2 ZPO, denn dem vom Kläger in erster Linie auf §§ 826, 31 BGB gestützten „großen Schadensersatz“ einerseits und einem Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV andererseits liegen lediglich unterschiedliche Methoden der Schadensberechnung zugrunde, die im Kern an die Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags anknüpfen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 45). Wechselt der Kläger nur die Art der Schadensberechnung, ohne seinen Antrag auf einen abgewandelten Lebenssachverhalt zu stützen, liegt keine Klageänderung i. S. d. § 263 ZPO vor (vgl. BGH, Urteil vom 23.06.2015, XI ZR 536/14, juris Rdnr. 33).
39
2. Die Bestimmungen der §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV sind Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (BGH, Urteil vom 25.09.2023, VIa ZR 1/23, WM 2023, 2064, juris Rdnr. 10).
40
Aufgrund der Vorgaben des EuGH auf Gewährung eines effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzes im Falle des enttäuschten Käufervertrauens (EuGH, Urteil vom 21.03.2023, C-100/21, NJW 2023, 1111, juris Rdnr. 90, 93) ist eine unionsrechtliche Lesart des § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV geboten, wie sie der Bundesgerichtshof umsetzt. Der Wortlaut dieser Normen steht einem unionsrechtlich fundierten Verständnis als Schutzgesetze, deren sachlicher Schutzbereich den Differenzschaden bei Abschluss des Kaufvertrags umfasst, nicht entgegen. Ein Schutzgesetz kann jede Norm des objektiven Rechts sein, sofern darin nur ein bestimmtes Gebot oder Verbot ausgesprochen wird (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 32, 43).
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3. Die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung kann die Beklagte dem Anspruch des Klägers auf Schadensersatz nicht entgegenhalten.
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Die Tatbestandswirkung eines Verwaltungsakts erstreckt sich ausschließlich auf den verfügenden Teil, nicht aber auf die Begründungselemente und nicht auf Feststellungen jenseits des Regelungsinhalts (BGH, Urteil vom 08.12.2021, VIII ZR 190/19, NJW 2022, 1238, juris Rdnr. 81). Art. 3 Nr. 5 der RL 2007/46/EG (die auch nach ihrem zeitlichen Anwendungsbereich weiter anzuwenden ist) beschreibt die „EGTypgenehmigung“ als das Verfahren, nach dem ein Mitgliedstaat bescheinigt, dass ein Typ eines Fahrzeugs, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbstständigen technischen Einheit den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen dieser Richtlinie und der in Anhang IV oder XI aufgeführten Rechtsakte entspricht. In Art. 9 Abs. 1 der RL 2007/46/EG ist festgehalten, dass die Mitgliedstaaten eine EG-Genehmigung für einen Fahrzeugtyp der entsprechenden Beschreibung unter den dort genannten Voraussetzungen erteilen, d. h. für Fahrzeuge einer bestimmten Fahrzeugklasse, die sich zumindest hinsichtlich der in Anhang II Teil B aufgeführten wesentlichen Merkmale nicht unterscheiden (Art. 3 Nr. 17 der RL 2007/46/EG). Die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung reicht daher nicht über eine seitens der befassten Genehmigungsbehörde getroffene Feststellung der Rechtmäßigkeit des zur Beurteilung unterbreiteten Fahrzeugtyps hinaus und umfasst nicht ein konkretes Fahrzeug oder eine Gruppe konkreter Fahrzeuge einer bestimmten Baureihe. Sie kann über die Angaben in der Beschreibungsmappe zum Fahrzeugtyp nicht hinausreichen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 12 f.).
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4. Die Beklagte hat eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung sowohl in Bezug auf die Fahrkurvenerkennung und die damit in Verbindung stehenden Einwirkungen auf das Emissionskontrollsystem als auch in Bezug auf das Thermofenster erteilt.
44
a) Unzutreffend ist eine Übereinstimmungsbescheinigung, wenn das betreffende Kraftfahrzeug mit einer gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüstet ist, weil die Bescheinigung dann eine tatsächlich nicht gegebene Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 ausweist. Auf den Inhalt der zugrundeliegenden EG-Typgenehmigung kommt es dabei nicht an, weil sich die Tatbestandswirkung deren verfügenden Teils nicht über eine seitens der befassten Genehmigungsbehörde getroffene Feststellung der Rechtmäßigkeit des zur Beurteilung unterbreiteten Fahrzeugtyps hinaus erstrecken kann. Die Übereinstimmungsbescheinigung weist hingegen gemäß der verbindlichen Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH (Urteil vom 21.03.2023, C-100/21) nicht nur die Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit dem genehmigten Typ aus, sondern auch die Übereinstimmung des konkreten Kraftfahrzeugs mit allen Rechtsakten, also auch mit Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007. Die Übereinstimmungsbescheinigung verweist nach ihrem gesetzlichen Inhalt auch auf materielle Voraussetzungen, die im Falle einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht vorliegen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 34; BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 26 f.).
45
b) In dem streitgegenständlichen Fahrzeug ist eine Fahrkurvenerkennung hinterlegt, die aufgrund ihrer Auswirkungen auf die Abgasrückführungsrate als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist.
46
aa) Gemäß Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 bezeichnet der Ausdruck „Abschalteinrichtung“ ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird.
47
Nach Art. 5 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 715/2007 rüstet der Hersteller das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.
48
Die VO (EG) Nr. 715/2007 definiert den Begriff „normaler Fahrzeugbetrieb“ selbst nicht und verweist für die Festlegung seiner Bedeutung und Tragweite auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. Es handelt sich hierbei um unionsrechtliche Begriffe, die in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen sind, wobei nicht nur der Wortlaut der Bestimmungen, in denen sie vorkommen, sondern auch der Kontext dieser Bestimmungen und das mit ihnen verfolgte Ziel zu berücksichtigen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 26.01.2021, C-422/19, NJW 2021, 1081, juris Rdnr. 45; EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 38 f.). Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 ergibt, bezieht sich der Begriff „normaler Fahrzeugbetrieb“ auf die Nutzung des Fahrzeugs unter normalen Fahrbedingungen, also nicht nur auf die Verwendung eines Fahrzeugs unter den Bedingungen des NEFZ, der im Labor durchgeführt wird, lediglich einen Ausschnitt aus einem durchschnittlichen Fahrverhalten nachbildet und nicht auf realen Betriebsbedingungen beruht. Der Begriff „normaler Fahrbetrieb“ verweist somit auf die Verwendung eines Fahrzeugs unter tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Unionsgebiet üblich sind (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 40 zum früheren Zulassungstest NEDC).
49
bb) Die Existenz der Fahrkurvenerkennung in der Motorsteuerungssoftware des streitgegenständlichen Fahrzeugs ist unstreitig. Sie hat nach den eigenen Ausführungen der Beklagten auch Auswirkungen auf das Emissionskontrollsystem. Die Beklagte hat hierzu erläutert, in EA 288-Fahrzeugen, die über eine aktive Fahrkurvenerkennung verfügten, werde während einer Prüfstandsfahrt nach Erreichen der erforderlichen Betriebstemperatur des SCR-Katalysators von mindestens 200 °C an einem Betriebsmodus mit erhöhter AGR-Rate (sog. NOx-Low-Betriebsart) festgehalten, während außerhalb des Prüfstands zu diesem Zeitpunkt in einen Betriebsmodus mit verringerter AGR-Rate (sog. NOx-High-Betriebsart) gewechselt werde. Dies entspricht der Anwendungsbeschreibung aus der „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinen & Freigabevorgaben EA 288“ der Beklagten vom 18.11.2015 (Bedatung, Aktivierung und Nutzung der Erkennung des Precon und NEFZ, um die Umschaltung der Rohemissionsbedatung (AGR-High/Low) streckengesteuert auszulösen bis Erreichung SCR-Arbeitstemperatur und OBD-Schwellwerte; vgl. Anlage K5). Die Tatsache, dass damit grundsätzlich im Vergleich zum Normalbetrieb verbesserte Emissionswerte im NEFZ erzielt werden können, hat die Beklagte nicht bestritten. Sie hat vielmehr betont, dass etwaige Abweichungen jedenfalls keine Grenzwertrelevanz haben.
50
Damit sind die Tatbestandsvoraussetzungen einer Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der VO (EG) Nr. 715/2007 erfüllt. Ausgehend von der Betriebstemperatur des SCR-Katalysators wird Einfluss auf die Abgasrückführungsrate genommen. Im Prüfbetrieb wird die Abgasrückführung hochgehalten, im Realbetrieb zurückgefahren. Wie bereits ausgeführt, kommt es für die rechtliche Einordnung als Abschalteinrichtung nicht auf die Grenzwertkausalität an (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW, 2023, 2259, juris Rdnr. 51).
51
cc) Ob, wie die Klägerin behauptet und was von der Beklagten bestritten wird, im Zusammenhang mit der Fahrkurvenerkennung neben der geringeren Abgasrückführungsrate dem SCR-Katalysator auch noch weniger AdBlue zugeführt wird, kann dahingestellt bleiben, da bereits die Fahrkurve, soweit sie unbestritten ist, eine unzulässige Abschalteinrichtung darstellt.
52
dd) Ein Ausnahmetatbestand zu Art. 5 Abs. 2 S. 1 der VO (EG) Nr. 715/2007, ist nicht erfüllt.
53
Eine Ausnahme ist in Art. 5 Abs. 2 S. 2 Ziff. a) der VO (EG) Nr. 715/2007 dann vorgesehen, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Diese Bestimmung ist als Ausnahme vom Verbot der Verwendung emissionsbeeinträchtigender Abschalteinrichtungen eng auszulegen (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 50).
54
Dabei genügt ein Fahrzeughersteller seiner Darlegungs- und Beweislast nicht, wenn er pauschal vorbringt, in dem Fahrzeug sei keine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 54). Eine Begründung des Fahrzeugherstellers für die Abschalteinrichtung muss – als Pendant zur Behauptung des Vorliegens einer solchen – so gestaltet sein, dass das Gericht in die Lage versetzt wird zu entscheiden, ob die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift vorliegen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob es die Abschalteinrichtung ermöglicht, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, da eine bloße Verschmutzung oder der Verschleiß des Motors als im Prinzip vorhersehbar und der normalen Funktionsweise des Fahrzeugs inhärent nicht unter die Begriffe „Beschädigung“ und „Unfall“ subsumiert werden können (EuGH, Urteil vom 17.12.2020, C-693/18, NJW 2021, 1216, juris Rdnr. 109 f.; EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 53 f.). Daher können nur die unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, die Verwendung einer Abschalteinrichtung rechtfertigen (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 56). Hinzu kommt, dass die Abschalteinrichtung zum Motorschutz und zur Gewährleistung des sicheren Betriebs nicht nur geeignet, sondern auch erforderlich sein muss. Eine Abschalteinrichtung ist nur dann „notwendig“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 S. 2 Ziff. a) der VO (EG) Nr. 715/2007, wenn zum Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung keine andere technische Lösung die vorgenannten unmittelbaren Risiken abwenden kann (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128/20, NJW 2022, 2605, juris Rdnr. 69).
55
Eine Zulässigkeit der Fahrkurvenerkennung und ihrer Folgen nach diesen Maßgaben lässt sich aus dem Vortrag der Beklagten zur Wirkungsweise und zu der Notwendigkeit eines Motorschutzes nicht folgern. Die Wechselwirkung der Abgasrückführung und des SCR-Katalysators hat sie nur pauschal beschrieben und auf eine wechselseitige Ergänzung der motorinternen Abgasrückführung einerseits und der Abgasnachbehandlung durch den SCR andererseits abgestellt. Zugleich hat die Beklagte aber eingeräumt, dass die bis zum Modelljahreswechsel in der Kalenderwoche 22/2016 enthaltene Fahrkurve dazu geführt habe, dass die AGR-Rate auch nach Erreichen einer Betriebstemperatur des Katalysators von ca. 200 °C nicht reduziert worden, sondern parallel bestehen geblieben sei. Ihre Argumentation stützt sie darauf, dass dies im Ergebnis keinerlei Auswirkungen für die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen NOx-Grenzwerts gehabt habe. Darauf kommt es – auf oben wird verwiesen – allerdings nicht an.
56
c) Desweiteren handelt es sich bei dem im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Thermofenster – die von der Beklagten vorgebrachte Bedatung zugrunde gelegt – um eine unzulässige Abschalteinrichtung.
57
aa) Zwar trägt grundsätzlich die Klagepartei für die Existenz der behaupteten Abschalteinrichtung die Darlegungs- und Beweislast. Soweit jedoch, wie hier, die Existenz der Abschalteinrichtung in Form des Thermofensters an sich unstreitig ist, hat die Beklagte vorzutragen und zu beweisen, dass diese ausnahmsweise zulässig ist (BGH Urt. v. 26.6.2023 – VIa ZR 335/21, BeckRS 2023, 15117 Rn. 53 f, beck-online). Vor diesem Hintergrund obliegt es der Beklagten, konkret zur Ausgestaltung des sog. Thermofensters vorzutragen (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21 –, Rn. 54, juris).
58
Die Beklagte ist ihrer Darlegungslast nachgekommen und trägt vor, dass erst unterhalb einer Umgebungstemperatur von ca. + 12 °C eine graduelle Reduzierung der Abgasrückführung erfolge.
59
bb) Bei dem von der Beklagten konkret behaupteten Thermofenster handelt es sich um eine Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 EG-VO Nr.715/2007.
60
In dem streitgegenständlichen Fahrzeug ist unstreitig ein sogenanntes Thermofenster appliziert, das jedenfalls dazu führt, dass in Abhängigkeit der Umgebungstemperatur die AGR-Rate moduliert und damit im Wirksamkeitsbereich des Thermofensters die Abgasreinigung reduziert wird.
61
Ob es sich bei dem streitgegenständlichen Thermofenster um eine Abschalteinrichtung handelt, bestimmt sich nach Art. 3 Nr.10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
62
Bei diesem Thermofenster handelt es sich zweifelsfrei um ein Konstruktionsteil, das in Abhängigkeit zur Außentemperatur das Emissionskontrollsystem in Form der AGR-Rate verändert. Zudem wird durch das Thermofenster in der streitgegenständlichen Ausgestaltung die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert.
63
Die Verordnung Nr. 715/2007 definiert den Begriff „normaler Fahrzeugbetrieb“ nicht und verweist für die Festlegung seiner Bedeutung und Tragweite nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. Es handelt sich hierbei um einen unionsrechtlichen Begriff, der in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen ist, wobei nicht nur der Wortlaut der Bestimmungen, in denen er vorkommt, sondern auch der Kontext dieser Bestimmungen und das mit ihnen verfolgte Ziel zu berücksichtigen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk, C-422/19 und C-423/19, NJW 2021, 1081, 1083 Rn. 45).
64
Nach dem Wortlaut bezieht sich „normaler Fahrzeugbetrieb“ auf die Nutzung des Fahrzeugs unter normalen Fahrbedingungen (EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022 – C128/20 –, Rn. 38 – 40, juris). Eine Abschalteinrichtung liegt dementsprechend dann vor, wenn es sich bei den Temperaturen, für welche die Abgasrückführungsrate modifiziert ist, um Bedingungen handelt, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise nicht zu erwarten sind, es sich also nicht um extreme Ausnahmefahrsituationen handelt. Dies ist hier der Fall. Außentemperaturen unter 12 °C sind im Unionsgebiet Fahrbedingungen, die zumindest in den Wintermonaten auch in Mitteleuropa regelmäßig auftreten. So liegen beispielsweise im Januar die durchschnittlichen Höchsttemperaturen in den Städten Luxemburg, Berlin, Brüssel, Frankfurt, Straßburg und Prag (vgl. https://klima.org/) jeweils unter +5°C. Es handelt sich dabei nicht um Extrembedingungen. Die Jahresdurchschnittstemperatur im gesamten Unionsgebiet ist dagegen kein geeigneter Maßstab für die Frage, ob es sich bei dem Temperaturbereich außerhalb des Thermofensters um vernünftigerweise zu erwartende Bedingungen für den normalen Fahrzeugbetrieb handelt. Die normalen Fahrbedingungen lassen sich nicht abbilden im Wege einer Mittelung der Temperaturen zwischen Nord- und Südeuropa.
65
Nicht maßgeblich ist dagegen, ob im überwiegenden Teil des Jahres die Temperaturen in Europa innerhalb eines Bereichs liegen, in welchem die Abgasrückführung voll aktiv ist. Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 14.07.2022, C-123/20, NJW 2022, 2605 Rn. 65, im Zusammenhang mit einer Ausnahme vom Verbot die Kontrollüberlegung angestellt, dass eine Abschalteinrichtung aus Gründen des Motorschutzes, welche unter normalen Betriebsbedingungen den überwiegenden Teil des Jahres funktionieren müsste, offensichtlich dem mit der Verordnung Nr. 715/2007 verfolgten Ziel zuwiderlaufen würde. Begrifflich setzt diese Überlegung zunächst eine Abschalteinrichtung voraus. Der Umkehrschluss, eine Abschalteinrichtung, welche den überwiegenden Teil des Jahres nicht wirksam werde, sei stets zulässig, kann daraus nicht gezogen werden.
66
cc) Weder die pauschalen Hinweise der Beklagten darauf, dass der Kompensationseffekt des SCR-Katalysators in Fahrzeugen mit aktiver Abgasnachbehandlung zu beachten sei, noch der Vortrag dazu, dass bei niedrigen Umgebungslufttemperaturen aus physikalischen Gründen grundsätzlich weniger NOx-Emissionen entstehen (Zeldovich Mechanismus), vermögen eine ausnahmsweise Zulässigkeit des hier konkret bedateten Thermofensters zu rechtfertigen. Konkrete Ausführungen dazu, dass in dem Maße, in dem die Abgasrückführung temperaturbasiert zurückgefahren wird, der Verlust durch einen verstärkten Einsatz des SCR-Katalysators vollständig ausgeglichen werde, fehlen.
67
dd) Das Thermofenster ist nicht ausnahmsweise nach Art. 5 Abs. 2 EG-VO Nr. 715/2007 zulässig.
68
Die Beklagte trägt vor, das im streitgegenständlichen Fahrzeug verbaute Thermofenster sei erforderlich, um den Motor vor plötzlichen und unvorhersehbaren Schäden zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.
69
Die Ausnahmen gemäß Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 sind grundsätzlich eng auszulegen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21. Rn. 60 – beck-online; EuGH, Urteil vom 14.7.2022 – C-128/20, NJW 2022, 2605, Rn. 50), also auch der Rechtfertigungsgrund des Motorschutzes. Allein auf die Schonung von Anbauteilen kann sich die Beklagte dabei nicht berufen (EuGH, a.a.O., Rn. 70). Die Abschalteinrichtung muss zum Motorschutz und zur Gewährleistung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs nicht nur geeignet, sondern auch unbedingt erforderlich sein. Eine Abschalteinrichtung ist nur dann „notwendig“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn zum Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall abwenden kann (EuGH, Urteil vom 14.07.2022, C-128-20, Rn. 69, beck-online). Die „ausschließliche Notwendigkeit“ geht dabei über den Maßstab einer dem Stand der Technik entsprechenden Abschalteinrichtung hinaus. Auch die Leitlinien der EU-Kommission für die Bewertung zusätzlicher Emissionsstrategien und des Vorhandenseins von Abschalteinrichtungen im Hinblick auf die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6), Bekanntmachung der Kommission vom 26.01.2017, vertreten diese Position. Danach sei, soweit technisch möglich, eine auf dem Markt verfügbare Technologie oder Konstruktion, die eine verbesserte Emissionsminderung ermöglicht, zu verwenden. Auf Kostenargumente könne sich der Hersteller in Anbetracht des mit der VO Nr. 715/2007 verfolgten Ziels der Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus nicht berufen. (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 67, 68).
70
Auf fehlende technische Alternativen zur Sicherstellung des gefahrlosen Betriebes im maßgeblichen Zeitpunkt des EG-Typzulassungsverfahrens lässt sich aus dem Vortrag der Beklagten zur Notwendigkeit des Thermofensters nicht schließen. So ist die Kurzstudie der Professoren B., K. und R. aus dem Juni 2020 (Anlage BE 6) nicht geeignet, die Notwendigkeit des Thermofensters in seiner konkreten Ausgestaltung zu begründen. Die Studie kommt zwar zu dem Ergebnis, dass generell eine temperaturabhängige Regelung der Emissionsminderungsstellgrößen, insbesondere eine kühlwasser- oder außentemperaturabhängige Regelung des Abgasrückführventils, technisch notwendig sei, um nutzungs- und emissionsrelevante Schäden von Bauteilen mit Folgerisiken für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs abzuwenden. Es wird darin jedoch auch betont, dass ein einheitlich „richtiges“ Thermofenster für alle Dieselfahrzeuge nicht existiere, vielmehr dass die erforderlichen Temperaturschwellen bzw. temperaturabhängigen Parametrierungen der AGR-Raten von Fahrzeugtyp zu Fahrzeugtyp und auch zwischen den Abgasstufen und dem Entwicklungszeitpunkt des Aggregats variierten.
71
Gegen eine ausschließliche Notwendigkeit des streitgegenständlichen Thermofensters in seiner konkreten Bedatung spricht auch der – gerichtsbekannte – Umstand, dass es in den durch die Beklagte und deren Konzerngesellschaften zeitgleich auf den Markt gebrachten Motoren nach dem Sachvortrag des Herstellers durch technische Neuerungen, insbesondere dem kombinierten Einsatz einer Hoch- und NiederdruckAbgasrückführung, möglich war, die Bedatung des Thermofensters auf einen größeren Temperaturbereich (teilweise sogar von – 24 °C bis + 74 °C) aufzuweiten.
72
5. Die Beklagte hat bei der Inverkehrgabe der Übereinstimmungsbescheinigung zumindest fahrlässig und damit schuldhaft gehandelt. Die mit dem Schutzgesetzverstoß einhergehende Vermutung hat sie nicht widerlegt, einen unvermeidbaren Verbotsirrtum nicht dargelegt. Auf eine tatsächliche oder hypothetische Genehmigung kann sie sich nicht berufen.
73
a) Gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV genügt ein fahrlässiger Verstoß gegen die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung für die Haftung. Der subjektive Tatbestand des Schutzgesetzes ist auch für die Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB maßgebend. § 37 Abs. 1 EG-FGV sanktioniert sowohl den vorsätzlichen als auch den fahrlässigen Verstoß gegen § 27 Abs. 1 S. 1 EG-FGV (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, juris Rdnr. 38; BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 30).
74
Zwar trifft hinsichtlich des Verschuldens als anspruchsbegründender Voraussetzung gemäß § 823 Abs. 2 BGB gewöhnlich den Anspruchsteller die Darlegungs- und Beweislast. Jedoch wird das Verschulden des Fahrzeugherstellers innerhalb des § 823 Abs. 2 BGB im Fall des objektiven Verstoßes gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV vermutet. Dementsprechend muss der Fahrzeughersteller, wenn er eine Übereinstimmungsbescheinigung trotz der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegeben und dadurch § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt hat, im Fall der Inanspruchnahme nach § 823 Abs. 2 BGB Umstände darlegen und beweisen, die sein Verhalten zum maßgeblichen Zeitpunkt des Kaufs des Fahrzeugs durch den Kläger ausnahmsweise nicht als fahrlässig erscheinen lassen. Beruft sich der Fahrzeughersteller auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, muss er sowohl den Verbotsirrtum als solchen als auch die Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums darlegen und erforderlichenfalls beweisen (BGH, Urteil vom 25.09.2023, VIa ZR 1/23, WM 2023, 2064, juris Rdnr. 13; BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 59, 63).
75
Das setzt zunächst die Darlegung und erforderlichenfalls den Nachweis eines Rechtsirrtums seitens des Fahrzeugherstellers voraus. Der Fahrzeughersteller muss darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten. Beruft sich der Fahrzeughersteller weder auf eine tatsächliche oder hypothetische Genehmigung der zuständigen Behörde noch auf einen externen qualifizierten Rechtsrat, sondern auf selbst angestellte Erwägungen, ist ihm eine Entlastung verwehrt, wenn mit Rücksicht auf die konkret verwendete Abschalteinrichtung eine nicht im Sinne des Fahrzeugherstellers geklärte Rechtslage hinreichend Anlass zur Einholung eines Rechtsrats bot. Ebenso scheitert eine Entlastung, wenn sich der Hersteller mit Rücksicht auf eine nicht in seinem Sinn geklärte Rechtslage erkennbar in einem rechtlichen Grenzbereich bewegte, schon deshalb eine abweichende rechtliche Beurteilung seines Vorgehens in Betracht ziehen und von der eventuell rechtswidrigen Verwendung der Abschalteinrichtung absehen musste. Eine Entlastung ohne Rücksicht auf die aus den vorstehenden Erwägungen folgenden Sorgfaltspflichten, etwa mit Rücksicht auf den Umstand, dass der Verwendung von Thermofenstern ein allgemeiner Industriestandard zugrunde lag oder dass nach den Angaben des Kraftfahrtbundesamts rechtlich von ihm so bewertete unzulässige Abschalteinrichtungen auch nach umfangreichen Untersuchungen nicht festgestellt worden seien, kommt dagegen nach dem gesetzlichen Fahrlässigkeitsmaßstab nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 25.09.2023, VIa ZR 1/23, WM 2023, 2064, juris Rdnr. 14; BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 70).
76
b) Diesen Maßstäben wird das Vorbringen der Beklagten nicht gerecht. Sie hat schon nicht mitgeteilt, welche Überlegungen hinter der Etablierung der Fahrkurvenerkennung mit Modifikation der Abgasrückführungsrate bei Erreichen der Betriebstemperatur des SCR-Katalysators stecken. Ob und warum es sich um eine technische Notwendigkeit handelt, vermag der Senat daher nicht zu beurteilen.
77
Darüber hinaus fehlt eine Darstellung, ob und welche Prüfungen intern bei der Beklagten oder mithilfe externen Rats überhaupt zur Frage der Zulässigkeit der gegenständlichen Fahrkurvenerkennung und des hier konkret bedateten Thermofensters angestellt wurden. Dies wäre umso mehr erforderlich gewesen, als eine höchstrichterliche Entscheidung, ob eine Fahrkurvenerkennung wie vorliegend und ein entsprechend bedatetes Thermofenster unzulässige Abschalteinrichtung i. S. d. Art. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007 darstellen, im maßgeblichen Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages am 20.11.2015 noch gar nicht vorlag. Ebenso wenig hat die Beklagte dargetan, dass sich sämtliche ihrer Repräsentanten in einem Rechtsirrtum befunden haben und wie sie ihre innerbetrieblichen Abläufe etwa durch interne Weisungen, Meldeketten und Überwachungssowie Kontrollmechanismen so organisiert hat, dass bei regelgerechtem Ablauf nur zutreffende Übereinstimmungsbescheinigungen in Verkehr gelangen konnten. Dies erforderte insbesondere eine Weisungslage, nach welcher technisch kritische Punkte von den für die technische Entwicklung verantwortlichen Personen an die Rechtsabteilung zur Überprüfung weiterzuleiten waren und die Weiterentwicklung und der spätere Einsatz der Technik erst nach positiver rechtlicher Bewertung und Freigabe durch hierfür qualifizierte Personen erfolgen durfte. Zudem war das rechtliche Umfeld und die für die Zulässigkeit der eingesetzten Technik relevanten Entwicklungen weiter durch die Rechtsabteilung oder sonstiges juristisch qualifiziertes Personal zu beobachten, um erforderlichenfalls entsprechend reagieren und Abläufe stoppen zu können (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 28.09.2023, 24 U 2504/22, juris Rdnr. 41).
78
In diesem Zusammenhang reicht der bloße Verweis auf die Einschätzung des Kraftfahrtbundesamts, es sei keine unzulässige Abschalteinrichtung in den Fahrzeugen enthalten, nicht aus, um die Vermutung fahrlässigen Handelns zu entkräften.
79
c) Mit der tatsächlich erteilten EG-Typgenehmigung kann sich die Beklagte nicht entlasten. Dies wäre nur dann der Fall, wenn diese EG-Typgenehmigung die verwendete unzulässige Abschalteinrichtung in allen ihren nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten umfasst. Die EG-Typgenehmigung muss sich dann allerdings auf die Abschalteinrichtung in ihrer konkreten Ausführung und auch unter Berücksichtigung festgestellter Kombinationen von Abschalteinrichtungen erstrecken (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 20 23,2 1259, juris Rdnr. 65 ff.). Hierzu fehlt es an Vorbringen der Beklagten.
80
d) Die Beklagte hat sich im Wesentlichen auf eine hypothetische Genehmigung des Kraftfahrtbundesamts berufen. Damit dringt sie ebenfalls nicht durch.
81
Zwar kann der Fahrzeughersteller zu seiner Entlastung darlegen und erforderlichenfalls nachweisen, seine Rechtsauffassung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 wäre bei entsprechender Nachfrage von der für die EG-Typgenehmigung oder für anschließende Maßnahmen zuständigen Behörde bestätigt worden (hypothetische Genehmigung). Steht fest, dass eine ausreichende Erkundigung des einem Verbotsirrtum unterliegenden Schädigers dessen Fehlvorstellung bestätigt hätte, scheidet eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch dann aus, wenn der Schädiger eine entsprechende Erkundigung nicht eingeholt hat. Eine Entlastung auf dieser Grundlage setzt allerdings voraus, dass der Fahrzeughersteller nicht nur allgemein darlegt, dass die Behörde Abschalteinrichtungen der verwendeten Art genehmigt hätte, sondern dass ihm dies auch unter Berücksichtigung der konkret verwendeten Abschalteinrichtung in allen für die Beurteilung nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 maßgebenden Einzelheiten gelingt. Haben mehrere Abschalteinrichtungen Verwendung gefunden, muss der Tatrichter die Einzelheiten der konkret verwendeten Kombination für die Frage einer hypothetischen Genehmigung in den Blick nehmen. Auf das Bestehen einer entsprechenden Verwaltungspraxis kommt es dabei nicht maßgeblich an. Die Grundsätze der hypothetischen Genehmigung gelten mit Rücksicht auf ihren Sinn und Zweck auch, wenn der Fahrzeughersteller eine hypothetische Genehmigung bezogen auf den konkreten Motor einer bestimmten Baureihe nachweist. Neben anderen Indizien kann allerdings aufgrund einer bestimmten, hinreichend konkreten Verwaltungspraxis gemäß § 286 Abs. 1 ZPO auf eine hypothetische Genehmigung geschlossen werden (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 20 23,2 1259, juris Rdnr. 65 ff.). Die Beklagte hat eine Vielzahl von Bestätigungen des Kraftfahrtbundesamts zum Motor EA 288 vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass das KBA in der Fahrkurvenerkennung keine Abschalteinrichtung sieht, weil auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenfunktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten würden. Auch im Übrigen seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt worden. Es fehlt jedoch schon an Ausführungen der Details, auf deren Grundlage die Genehmigungsbehörde zu dieser Einschätzung gelangt ist. Die Beklagte bringt nichts dazu vor, welche Informationen sie dem KBA zur Verfügung gestellt hat. Es ist des Weiteren nicht ersichtlich, welche Kenntnis sich das KBA durch die eigenen Untersuchungen verschafft hat, insbesondere welche Auswirkungen die aus der Fahrkurvenerkennung resultierende Umschaltung der Betriebsmodi für die Emissionswerte in konkreten Zahlen besitzt und welche Temperaturbedatung des Thermofensters zugrunde gelegt wurde. Dies gilt umso mehr, als die Temperaturbedatung im hier streitgegenständlichen Fahrzeug Multivan T6 von der Bedatung anderer Fahrzeuge mit dem Motor EA 288 deutlich abweicht. Allein der Hinweis auf die zwischen dem KBA und der Beklagten im Herbst 2015 durchgeführten Gespräche und Workshops im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Dieselthematik um die Fahrzeuge mit Motoren der Baureihe EA 189, reicht insoweit nicht. Insgesamt lässt sich die Frage der hypothetischen Genehmigung, ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nicht zugunsten der Beklagten beantworten.
82
e) Das Verschulden entfällt auch nicht aufgrund einer Verhaltensänderung vor der Kaufentscheidung der Klägerin.
83
Da der Deliktstatbestand gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV erst mit dem Erwerb des Fahrzeugs vollendet ist, muss der Vorwurf einer zumindest fahrlässigen Inverkehrgabe einer unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung für diesen Zeitpunkt widerlegt werden. Hat der Fahrzeughersteller die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Art und Weise bekanntgegeben, die eine allgemeine Kenntnisnahme erwarten lässt, und hat er eine Beseitigung der betreffenden Abschalteinrichtung allgemein, d.h. insbesondere nicht nur für neue, sondern auch für gebrauchte Kraftfahrzeuge veranlasst, kann ihm unter Umständen der Vorwurf einer fahrlässigen Schädigung solcher Käufer nicht mehr gemacht werden, die ein Fahrzeug nach der Verhaltensänderung des Herstellers gekauft haben (NJW, Urteil vom 26.06.2023, Via ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 61).
84
Die Klägerin erwarb hier das streitgegenständliche Fahrzeug bereits im November 2015, also noch deutlich, bevor die Beklagte mit etwaigen Software-Updates zur Entfernung der Fahrkurve aus den Steuerungsgeräten der EA288 Motoren an die Halter herangetreten ist.
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6. Zur Überzeugung des Senats hätte die Klägerin das Fahrzeug nicht erworben, hätte er von der unzutreffenden Übereinstimmungsbescheinigung Kenntnis gehabt.
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Es streitet bereits der Erfahrungssatz für die Klägerin, nach dem auszuschließen ist, dass ein Käufer ein Fahrzeug, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann, zu dem vereinbarten Kaufpreis erwirbt (BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, juris Rdnr. 49, zum sog. großen Schadensersatz; BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, NJW 2021, 3041, juris Rdnr. 21, zum sog. kleinen Schadensersatz; BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 55, zum Differenzschadensersatz).
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Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob dem Käufer beim Erwerb des Kraftfahrzeugs die vom Fahrzeughersteller ausgegebene unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung vorgelegen und ob er von deren Inhalt Kenntnis genommen hat. Denn erwirbt ein Käufer ein zugelassenes oder zulassungsfähiges Fahrzeug auch zur Nutzung im Straßenverkehr, wird er regelmäßig darauf vertrauen, dass die Zulassungsvoraussetzungen, zu denen nach § 6 Abs. 3 S. 1 FZV die Übereinstimmungsbescheinigung gehört, vorliegen und dass außerdem keine ihn einschränkenden Maßnahmen nach § 5 Abs. 1 FZV mit Rücksicht auf unzulässige Abschalteinrichtungen erfolgen können. Auch ohne Kenntnisnahme der vom Fahrzeughersteller ausgegebenen Übereinstimmungsbescheinigung geht der Käufer typischerweise davon aus, dass der Hersteller für das erworbene Fahrzeug eine Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat und dass diese die gesetzlich vorgesehene Übereinstimmung mit allen maßgebenden Rechtsakten richtig ausweist (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 56).
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7. Der Klägerin ist ein Vermögensschaden entstanden, der auf der Verringerung des objektiven Werts des von ihr erworbenen Fahrzeugs infolge der Ausrüstung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung beruht und hier mit 10% des Bruttokaufpreises in Ansatz zu bringen ist.
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aa) Das Bestehen eines Schadens ist nach Maßgabe der Differenzhypothese zu ermitteln, also nach Maßgabe eines Vergleichs der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit der Vermögenslage, die ohne jenes Ereignis eingetreten wäre. Ein Vermögensschaden des Käufers im Sinne der Differenzhypothese liegt vor, wenn der Vergleich der infolge des haftungsbegründenden Ereignisses eingetretenen Vermögenslage mit der Vermögenslage ohne das haftungsbegründende Ereignis ein rechnerisches Minus ergibt bzw. der objektive Wert des erworbenen Fahrzeugs hinter dem Kaufpreis zurückbleibt. Der Geschädigte wird durch Gewährung des Differenzschadens wegen der Enttäuschung des Käufervertrauens so behandelt, als wäre es ihm in Kenntnis der wahren Sachlage und der damit verbundenen Risiken gelungen, den Vertrag zu einem niedrigeren Preis abzuschließen. Sein Schaden liegt daher in dem Betrag, um den er den Kaufgegenstand mit Rücksicht auf die mit der unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Risiken zu teuer erworben hat. Insofern unterscheidet sich der Anspruch auf Ersatz eines Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV nicht von dem unter den Voraussetzungen der §§ 826, 31 BGB zu gewährenden „kleinen“ Schadensersatz (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 40).
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Festgemacht hat der Bundesgerichtshof diese Wertdifferenz daran, dass die zweckentsprechende Nutzung eines Fahrzeugs, das dem Gebrauch als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr diene, durch drohende Maßnahmen bis hin zu einer Betriebsbeschränkung oder infolge unzulässiger Abschalteinrichtungen in Frage stehe. Die damit einhergehende, zeitlich nicht absehbare Unsicherheit, das erworbene Kraftfahrzeug jederzeit seinem Zweck entsprechend nutzen zu dürfen, setze den objektiven Wert des Kaufgegenstands im maßgeblichen Zeitpunkt der Vertrauensinvestition des Käufers bei Abschluss des Kaufvertrags herab, weil schon in der Gebrauchsmöglichkeit als solcher ein geldwerter Vorteil liege (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 41; BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 31).
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Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt bei der gegebenen Konstellation ein wirtschaftlicher Nachteil des Klägers vor. In seinem Fahrzeug war eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut, die die Gefahr einer nachträglichen Anordnung von Nebenbestimmungen oder gar einer Stilllegung durch das KBA beinhaltet. Gemäß § 25 Abs. 3 EG-FGV kann das Kraftfahrtbundesamt die Typgenehmigung unter anderem ganz oder teilweise widerrufen oder zurücknehmen, wenn festgestellt wird, dass Fahrzeuge mit einer Übereinstimmungsbescheinigung oder selbstständige technische Einheiten oder Bauteile mit einer vorgeschriebenen Kennzeichnung nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmen (Nr. 1) oder dass von Fahrzeugen, selbstständigen technischen Einheiten oder Bauteilen ein erhebliches Risiko für die Verkehrssicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die Umwelt ausgeht (Nr. 2). Diese Gefahr war bereits im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses angelegt, der für die Schadensentstehung maßgeblich ist (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 42).
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Da sich der Schaden nach der uneingeschränkten Nutzbarkeit des Fahrzeugs im Straßenverkehr für den Käufer wie auch für Dritte definiert, welcher Geldwert zukommt, reicht die Implementierung einer unzulässigen Abschalteinrichtung i. S. v. Art. 5 Abs. 2 S. 1 der VO (EG) Nr. 715/2007, Ziffern 2.16, 5.1.2.1 der UNECE-Regelung Nr. 83 aus, um den objektiven Wert des betroffenen Fahrzeugs im Vergleich zu einem Fahrzeug der gleichen Baureihe und Motorisierung ohne unzulässige Abschalteinrichtung zu mindern.
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bb) Bezüglich der Schätzung des Differenzschadens in den Fällen des Vertrauens eines Käufers auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung bei Erwerb eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs hat der Bundesgerichtshof Vorgaben des Unionsrechts (EuGH, Urteil vom 21.03.2023, C-100/21) für die Anwendung des nationalen Rechts sowohl in Bezug auf die Untergrenze als auch auf die Obergrenze des nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zu gewährenden Schadensersatzes gesehen, die das Schätzungsermessen innerhalb einer Bandbreite zwischen 5% und 15% des gezahlten Kaufpreises rechtlich begrenzen. Maßgebliche Faktoren für die Bestimmung des objektiven Werts des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses sind unter anderem die mit der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen, der Umfang in Betracht kommender Betriebsbeschränkungen und die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Beschränkungen mit Rücksicht auf die Einzelfallumstände, das Gewicht des der Haftung zugrundeliegenden konkreten Rechtsverstoßes für das unionsrechtliche Ziel der Einhaltung gewisser Emissionsgrenzwerte sowie der Grad des Verschuldens nach Maßgabe der Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, juris Rdnr. 73 ff.; BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 34).
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Der Differenzschaden unterliegt dem Schätzermessen nach § 287 ZPO. Nach § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO entscheidet das Gericht unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung, wenn unter den Parteien streitig ist, ob ein Schaden entstanden sei und wie hoch sich der Schaden oder ein zu ersetzendes Interesse belaufe. Im vorliegenden Fall ist über die Frage des „Ob“ gar nicht auf Grundlage dieser Vorschrift zu befinden. Da bereits in der jederzeitigen Gebrauchsmöglichkeit eines Fahrzeugs ein geldwerter Vorteil liegt, und diese permanente Verfügbarkeit aufgrund der Ausrüstung des Motors mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung mit Unsicherheiten behaftet ist, ist allein dadurch der Schaden bereits eingetreten. § 287 Abs. 1 ZPO kommt daher in Fällen wie vorliegend nur noch für die Frage der Höhe zur Anwendung. Dabei bleibt es den Parteien unbenommen, Anknüpfungstatsachen für die Bemessung vorzubringen, so dass ihr rechtliches Gehör gewahrt ist. Mit dem Korridor von 5% bis 15% hat der Bundesgerichtshof die Grundsätze der Effektivität auf der einen und der Verhältnismäßigkeit auf der anderen Seite berücksichtigt, die ihm aus Rechtsgründen auferlegt waren (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, juris Rdnr. 79).
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cc) Der Senat legt seiner Entscheidung einen Differenzschaden in Höhe von 10% des Kaufpreises zugrunde. In dem für die Schadensentstehung allein maßgeblichen Zeitpunkt des Vertragsschlusses (vgl. BGH, Urteil vom 20.07.2023, III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903, juris Rdnr. 33) beinhalteten die Motorsteuerungssoftware eine Fahrkurvenerkennung und ein zu enges Thermofenster als unzulässige Abschalteinrichtungen. Vor dem Hintergrund, dass Ausnahmen von der grundsätzlichen Unzulässigkeit von Abschalteinrichtungen relativ eng zu ziehen sind, war das Risiko behördlicher Auflagen nicht ausgeschlossen, wenngleich eine unmittelbare Stilllegung durch das Kraftfahrtbundesamt nicht zu erwarten war. Vielmehr ist der Senat davon überzeugt, dass das Kraftfahrtbundesamt in jedem Falle der Beklagten zunächst die Möglichkeit eingeräumt hätte, die Manipulationen der Abgasbehandlung zu beseitigen. Des Weiteren bewegen sich sowohl der Pflichtenverstoß der Beklagten als auch der Grad ihrer Fahrlässigkeit allenfalls im durchschnittlichen Bereich. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung der Ziele, die mit der VO (EG) Nr. 715/2007 erreicht werden sollen, nämlich die Verbesserung der Luftqualität und die Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte (z. B. Grund 6 der VO (EG) Nr. 715/2007).
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An dieser Stelle findet auch die bisherige Sachbehandlung durch das KBA erneut ihren Niederschlag.
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8. Nutzungsvorteil und Restwert sind hier vorteilsausgleichend zu berücksichtigen, weil sie in der Summe den um den 10%-igen Differenzschaden verringerten Kaufpreis übersteigen.
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a) Der Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV unterliegt dem Vorteilsausgleich (BGH, Urteil vom 24.07.2023, VIa ZR 752/22, NJW 2023, 3010, juris Rdnr. 12). Es können daher nach den im Bereich des Schadensersatzrechts entwickelten, auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) beruhenden Grundsätzen der Vorteilsausgleichung dem Geschädigten diejenigen Vorteile anzurechnen sein, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zufließen. Es soll ein gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeigeführt werden. Der Geschädigte darf im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht bessergestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Allerdings sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, d. h. bei denen dem Geschädigten die Anrechnung zumutbar ist und die den Schädiger nicht unangemessen entlastet. Vor- und Nachteile müssen bei wertender Betrachtung gleichsam zu einer Rechnungseinheit verbunden sein (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033, juris Rdnr. 17 f.; BGH, Urteil vom 20.07.2021, VI ZR 575/20, MDR 2021, 1261, juris Rdnr. 28; BGH, Urteil vom 06.07.2021, VI ZR 40/20, NJW 2021, 3041, juris Rdnr. 23).
99
Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs sind jedoch erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen. Der Vorteilausgleich kann der Gewährung eines Schadensersatzes aus § 823 Abs. 2 BGB sogar gänzlich entgegenstehen, wenn der Differenzschaden vollständig ausgeglichen ist (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 80; BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033, juris Rdnr. 22).
100
Die Voraussetzungen für eine schadensmindernde Berücksichtigung später eintretender Umstände hat der Fahrzeughersteller darzulegen und zu beweisen (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, juris Rdnr. 80). Maßgeblich hierfür ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz (BGH, Urteil vom 20.07.2021, VI ZR 533/20, NJW 2021, 3594, juris Rdnr. 29; BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033, juris Rdnr. 23). Die Bemessung der Höhe der anzurechnenden Vorteile ist in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters (BGH, Urteil vom 24.07.2023, VIa ZR 752/22, juris NJW 2023, 3010, Rdnr. 12).
101
b) Der Nutzungsvorteil aus dem Gebrauch des Fahrzeugs beträgt 11.343,42 €.
102
aa) Der Senat schätzt den Nutzungsvorteil gemäß § 287 ZPO grundsätzlich unter Zugrundelegung der linearen Formel „Kaufpreis multipliziert mit der seit Erwerb gefahrenen Strecke geteilt durch die erwartete Restlaufleistung im Erwerbszeitpunkt“ (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020, VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796, juris Rdnr. 12; BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033, juris Rdnr. 24; BGH, Urteil vom 20.07.2021, VI ZR 575/20, MDR 2021, 1261, juris Rdnr. 33).
103
bb) Für das streitgegenständliche Fahrzeug geht der Senat unter Würdigung aller Umstände von einer Gesamtlaufleistung von 250.000 km aus, die solche Fahrzeuge mit hinreichender Wahrscheinlichkeit i. S. d. § 287 Abs. 1 S. 1 ZPO erreichen werden (vgl. zum Schätzungsermessen BGH, Urteil vom 23.03.2021, VI ZR 3/20, NJW-RR 2021, 1534, juris Rdnr. 11; BGH, Urteil vom 27.07.2021, VI ZR 480/19, VersR 2022, 115, juris Rdnr. 23 ff.; BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, NJW-RR 2022, 1033, juris Rdnr. 23).
104
Die Erholung eines Sachverständigengutachtens ist entbehrlich. Der Bundesgerichtshof hat Laufleistungen zwischen 200.000 km und 300.000 km für angemessen erachtet. Dass es vereinzelt Fahrzeuge gibt, die eine geringere oder höhere Laufleistung aufweisen, ändert daran nichts. Die Rechtsprechung stellt bei der Beurteilung der voraussichtlichen Gesamtlaufleistung nicht auf die minimal oder maximal von einzelnen Fahrzeugen des fraglichen Typs erreichte Laufleistung ab, sondern darauf, mit welcher Laufleistung in der Regel zu rechnen ist (vgl. auch BGH, Urteil vom 25.05.2020, VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962, juris Rdnr. 82; BGH, Urteil vom 27.04.2021, VI ZR 812/20, NJW-RR 2021, 1388, juris Rdnr. 15 ff.; BGH, Urteil vom 18.05.2021, VI ZR 720/20, NJW-RR 2021, 1386, juris Rdnr. 13; BGH, Beschluss vom 21.07.2021, VII ZR 56/21, juris Rdnr. 1). Der Senat bewegt sich mit seiner Bemessung innerhalb der Bandbreite der von anderen Gerichten jeweils vorgenommenen Schätzung der Gesamtlaufleistung, und zwar nicht am unteren Rand (vgl. Übersicht bei Reinking/Eggert, Der Autokauf, 14. Auflage 2020, Rdnr. 3574).
105
c) Als Restwert legt der Senat, entsprechend dem Hinweis in der mündlichen Verhandlung vom 06.11.2023, einen Betrag von 24.866,00 € zugrunde. Für die Restwertbemessung kann auf Angaben etwa der DAT zurückgegriffen werden, deren Gebrauchtwagen-Wertermittlung auf der Basis von Händler-Verkaufserlösmeldungen unter Berücksichtigung von Serien- und Sonderausstattungen sowie Ausstattungspaketen, gegebenenfalls sogar unter Berücksichtigung des Fahrzeugzustands/Reparaturaufwands, erfolgt. Dabei stellt der Senat regelmäßig nicht auf den Händler-Verkaufspreis, sondern auf den Händler-Einkaufspreis (hier brutto) ab, den die Klägerin bei Veräußerung des Fahrzeugs erzielen kann. Im Rahmen der hier vorliegenden Kurzzeit- bzw. Tageszulassung geht der Senat davon aus, dass durch diesen Umstand zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung keine relevante Werteinbuße feststellbar ist und damit die Wertangabe bei nur einem Halter im Zuge der DAT-Abfrage relevant ist.
106
d) Ein Software-Update kann im Rahmen des Vorteilsausgleichs nicht berücksichtigt werden. Zwar blieb unbestritten, dass die Fahrkurve nachträglich im Rahmen einer freiwilligen Servicemaßnahme entfernt wurde, eine Aufweitung der Bedatung des Thermofensters im streitgegenständlichen Fahrzeug wurde hingegen nicht vorgetragen, so dass trotz des Software-Updates eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Software der Motorsteuerung verblieben ist. Eine relevante, nachträgliche Wertverbesserung ist damit im Rahmen des Vorteilsausgleichs durch das aufgespielte Software-Update nicht in Ansatz zu bringen.
107
In der Summe übersteigen die Vorteile in Höhe von 36.209,42 € den um den Differenzschaden verringerten Kaufpreis um 3.404,42 €. Diesen Betrag muss sich die Klägerin auf ihren grundsätzlich bestehenden Schadensersatz in Höhe von 3.645,00 € anrechnen lassen, so dass ihr im Ergebnis nur noch ein Betrag von 240,58 € zusteht.
108
III. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erstattung bzw. Freistellung von den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
109
Allein auf der Grundlage des § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV kann neben dem Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens eine Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nicht verlangt werden. Dies käme nur in Betracht, wenn andere Anspruchsgrundlagen erfüllt wären, so §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB wegen des Verzugs der Beklagten mit dem Ersatz des Differenzschadens oder eine Haftung der Beklagten auch nach §§ 826, 31 BGB (BGH, Urteil vom 16.10.2023, VIa ZR 14/22, WM 2023, 2193, juris Rdnr. 13).
110
Die Voraussetzungen dieser Ansprüche liegen nicht vor. Die Klägervertreter haben die Beklagte mit Schreiben vom 08.06.2022 zur Zahlung des Kaufpreises abzüglich Nutzungsentschädigung Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs bis 22.06.2022 aufgefordert (Anlage K 7). Erst mit Zugang dieses Schreibens und Ablauf der genannten Frist wurde die Beklagte in Verzug gesetzt. Die Kosten der den Verzug begründenden Erstmahnung kann der Gläubiger allerdings nicht vom Schuldner ersetzt verlangen, weil ein Verzug des Schuldners noch nicht vorliegt (Münchener Kommentar zum BGB/Ernst, 9. Auflage 2022, § 286 Rdnr. 184). Einen Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 826, 31 BGB hat die Klägerin – wie oben ausgeführt – nicht.
111
IV. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 S. 2 BGB, § 261 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin macht Zinsen lediglich ab Rechtshängigkeit geltend. Rechtshängigkeit in diesem Sinne ist die Zustellung der ursprünglichen Klage. Es war nicht gemäß § 261 Abs. 2 ZPO auf den zeitlich späteren Eingang der hilfsweisen Geltendmachung des Differenzschadensersatzes abzustellen, weil es sich bei der Umstellung vom sog. großen bzw. kleinen Schadensersatz auf den Differenzschadensersatz nicht um einen neuen Anspruch und nicht um eine Klageänderung nach § 263 ZPO handelt, sondern um eine bloße Änderung der Schadensberechnung. Auf die Ausführungen zur Zulässigkeit des Hilfsantrages wird Bezug genommen.
112
I. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr.1 ZPO, für die Berufungsinstanz zusätzlich auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin unterliegt, da die Klageumstellung nur hilfsweise erfolgt ist, mit ihrem Hauptantrag, soweit dieser den Betrag von 240,58 € übersteigt. Die Klägerin obsiegt damit gemessen am Gesamtstreitwert mit einem Anteil von unter 1%, so dass es angemessen erscheint der Klägerin die gesamten Kosten beider Instanzen aufzuerlegen.
113
II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit regelt sich nach § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
114
III. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 47 Abs. 1 S. 1, 48 Abs. 1 S. 1 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung des Gebührenstreitwerts ist nach § 40 GKG der Zeitpunkt der Antragstellung, die den Rechtszug einleitet, in der Berufungsinstanz also die Einreichung der Berufungsanträge. Später eingetretene wertreduzierende Antragsänderungen (z. B. teilweise Berufungsrücknahme, teilweise Klagerücknahme, teilweise Erledigterklärung etc.) bleiben in Bezug auf den Gebührenstreitwert außer Betracht (OLG München, Beschluss vom 13.12.2016, 15 U 2407/16, NJW-RR 2017, 700, juris Rdnr. 16; Toussaint/Elzer, Kostenrecht, 53. Auflage 2023, § 40 Rdnr. 11).
115
Der Antrag auf Freistellung von den Kosten für die vorgerichtliche Rechtsverfolgung ist nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen (BGH, Beschluss vom 25. September 2007 – VI ZB 22/07 –, juris). Auch der zusätzlich gestellte Antrag auf Feststellung, dass sich die Beklagte in Annahmeverzug befindet, erhöht den Streitwert nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 06.07.2010 – XI ZB 40/09).
116
Gemäß § 45 Abs. 1 S. 2, 3 GKG ist der hilfsweise gestellte Zahlungsantrag auf den Differenzschaden nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen, da er denselben Gegenstand im kostenrechtlichen Sinne betrifft wie der Hauptantrag auf sog. großen Schadensersatz.
117
Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen. Der Senat weicht in der Frage der Unvermeidbarkeit des Verbotsirrtums von Entscheidungen eines anderen Spruchkörpers des Oberlandesgerichts München (Urteil vom 13.12.2023, 7 U 1434/22, juris Rdnr. 52 ff.; OLG München, Beschluss vom 9. November 2023 – 23 U 3188/22 –, juris; OLG München, Beschluss vom 4. September 2023 – 30 U 6629/22 –, juris) und anderer Oberlandesgerichte (OLG Karlsruhe, Urteil vom 12.12.2023, 14 U 268/22, juris Rdnr. 68 ff.; OLG Dresden, Urteil vom 16.11.2023, 8 U 970/22, juris Rdnr. 48 ff.; OLG Köln, Beschluss vom 02.08.2023, 12 U 48/22, juris Rdnr. 20 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 6. Oktober 2023 – 12 U 213/22 –, juris) ab.