Titel:
Arzthaftung wegen unzureichender Aufklärung vor Einlegen einer Magensonde
Normenketten:
BGB § 630h
ZPO § 141, § 448
Leitsätze:
1. Behandler können den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung dadurch führen können, dass sie glaubhaft bekunden, wie sie stets vorgehen (BGH NJW 1985, 1399 und NJW 2014, 1527).
2. Diese sog. "immer-so-Rechtsprechung" ist jedoch nicht auf das Behandlungsgeschehen übertragbar. Ein von Behandlerseite (oder auch von Patientenseite) behaupteter, von der Dokumentation abweichender Sachverhalt wird im Arzthaftungsprozess vielmehr nur dann zugrunde gelegt, wenn er mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit feststeht, welcher vernünftigen Zweifeln das Schweigen gebietet.
Im Kontext des Behandlungsgeschehens reichen Angaben der Beteiligten zu einem stets praktizierten Vorgehen nicht für eine entsprechende Überzeugungsbildung aus. Soweit nur Parteien als Auskunftspersonen zur Verfügung stehen, besteht bereits kein Anlass, diese hierzu zu vernehmen (§ 448 ZPO) oder anzuhören (§ 141 ZPO), sofern nicht der Sachverständige es im Einzelfall für hoch wahrscheinlich hält, dass sich ein Ablauf in der behaupteten Weise ereignet hat. (redaktioneller Leitsatz)
1. Behandler können den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung dadurch führen können, dass sie glaubhaft bekunden, wie sie stets vorgehen. (redaktioneller Leitsatz)
2. Diese sog. immer-so-Rechtsprechung ist jedoch nicht auf das Behandlungsgeschehen übertragbar. Ein von Behandlerseite (oder auch von Patientenseite) behaupteter, von der Dokumentation abweichender Sachverhalt wird im Arzthaftungsprozess vielmehr nur dann zugrunde gelegt, wenn er mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit feststeht, welcher vernünftigen Zweifeln das Schweigen gebietet. (bearbeitete Leitsätze des Gerichts) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Haftung, Gutachten, Sachverständiger, Einwendung, Einigung, Behandler, Aufklärung, immer-so-Rechtsprechung, Patient, Dokumentation, Arzthaftung, Schadensersatz, Schmerzensgeld, Koloskopie
Fundstellen:
LSK 2023, 43742
NJW-RR 2024, 641
BeckRS 2023, 43742
Tenor
I. Den Fragen und Einwendungen der Beklagten werden wir natürlich nachgehen, sollte es nicht zuvor zu einer Einigung kommen. Nach dem schriftlichen Gutachten des sehr erfahrenen Sachverständigen Dr. E zeichnet sich jedoch bereits deutlich eine Haftung der Beklagten ab.
1. Die Klägerin macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche geltend bzw. begehrt die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für sämtliche weiteren, nicht vorhersehbaren materiellen und immateriellen Schäden im Zusammenhang mit einer operativen Narbenkorrektur und Koloskopie am 17.07.2018.
Die am... 1943 geborene Klägerin befand sich vom 17.07.2018 bis zum 26.07.2018 wegen schmerzhafter Narben nach einer Thoraxmagen-Operation im Dezember 2016 und zur Vornahme einer Koloskopie in stationärer Behandlung bei der Beklagten.
Am 16.07.2018 erfolgte ein Vorgespräch mit Dr. S, der eine Magensonde empfahl, „um ihr das Trinken der Abführflüssigkeit zu ersparen“.
Im Zuge der operativen Narbenkorrektur legte der behandelnde Anästhesist am 17.07.2018 bei der Klägerin eine Magensonde.
Noch am selben Tag erfolgten die Vorbereitungen für die Koloskopie.
Die Klägerin behauptet, über das Einlegen einer Magensonde am 16.07.2018 nur unzureichend aufgeklärt worden zu sein. Der als Magensonde verwendete Schlauch sei zu kurz gewählt worden und „gar nicht in den Magen gelangt“. In der Folge habe die Klägerin eine Aspirationspneumonie erlitten, die eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich gemacht habe; es habe eine akute Lebensgefahr bestanden; die Klägerin habe zu ersticken gedroht und Todesangst erlitten. Der Allgemeinzustand habe sich in der Folge stetig verschlechtert. Es seien eine Antibiose, ein verlängerter Krankenhausaufenthalt, eine intensivierte Atemtherapie und Atemgymnastik und eine Inhalationstherapie erforderlich gewesen. Zudem habe sie an erheblichen Schmerzen gelitten. Die Klägerin leide noch heute an den gesundheitlichen Folgen des Behandlungsfehlers.
Die Beklagte bringt vor, die Klägerin sei von den Ärztinnen Dr. H und S in üblicher Weise aufgeklärt worden. Dabei sei auch das Risiko einer Aspiration besprochen worden. Vorsorglich erhebt die Beklagte den Einwand der hypothetischen Einwilligung. Die Länge der Magensonde habe der ungekürzten Standardlänge entsprochen. Die Lage der Sonde sei ordnungsgemäß gewesen und im Aufwachraum durch Dr. F kontrolliert worden. Auch vor Bestückung der Sonde habe die Pflegekraft L die Lage der Sonde nochmals überprüft. Die behaupteten Schäden seien behandlungstypische und -immanente Risiken. Die stattgehabte pulmonale Aspiration trotz korrekter Anlage der Magensonde und Beachtung der gebotenen Sorgfalt sei nicht sicher auszuschließen und daher als schicksalshafte Komplikation zu begreifen.
2. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass die erforderliche Kontrolle der Lage der Magensonde vor ihrer Verwendung nicht dokumentiert sei; dies stelle einen groben Behandlungsfehler dar, zudem sind die Voraussetzungen des § 630h Abs. 5 S. 2 BGB gegeben und zuletzt besteht an der Kausalität des Fehlers für den eingetretenen Schaden auch überhaupt kein Zweifel. Soweit die Beklagte auf S. 2 des Schriftsatzes vom 30.11.2023 die Frage aufwirft, weshalb die Überprüfung wahrscheinlich einen reaktionspflichtigen Hinweis auf die Sondenfehllage ergeben hätte, kann der Sachverständige hierzu natürlich noch explizit befragt werden. Indes liegt die Antwort auf der Hand: Angesichts des Verlaufs (abrupter Sättigungsabfall, Aspirationspneumonie) spricht alles für eine Fehllage der Sonde. Im Hinblick auf die Zeitdauer zwischen Anlage der Sonde und ihrer Bestückung, den Ortswechsel vom operativ-anästhesiologischen Überwachungsbereich auf die Station mit der Folge einer möglichen Sondendislokation allein schon im Zuge von Umlagerungsmaßnahmen sowie die anatomischen Besonderheiten bei der Klägerin nach stattgehabter Magenteilresektion (S. 10/11 des Gutachtens) ist auch die Bewertung des Behandlungsfehlers als fundemantal ohne Weiteres nachvollziehbar.
3. Entscheidend ist damit, ob tatsächlich die Zeugin L die Lage der Magensonde vor deren Bestückung nochmals kontrolliert hat, wie es die Beklagte behauptet. Im Ergebnis wird nach aller Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein, dass eine derartige Kontrolle unterblieb, weil diese nicht dokumentiert ist.
a) Zwar trifft im Grundsatz die Klägerin die Beweislast für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, indes wird gem. § 630h Abs. 3 BGB vermutet, dass nicht dokumentierte Maßnahmen auch nicht erfolgt sind, soweit sie dokumentationspflichtig sind.
b) Dokumentationspflichtig sind für die Weiterbehandlung der Patientin erforderliche Maßnahmen und ihre Ergebnisse (§ 630f BGB). Der Sachverständige hat auf S. 5 seines Gutachtens schon mitgeteilt, dass die Lage der Sonde nach deren Anlage zu dokumentieren ist (was im vorliegenden Fall keine Relevanz entfaltet, denn angesichts der zunächst beobachteten Förderung von Magensekret war von einer initial korrekten Lage auszugehen – S. 10 des Gutachtens). Für eine Dokumentationspflichtigkeit der erneuten Lagekontrolle vor Bestückung der Sonde spricht der deutliche zeitlichen Abstand zwischen Anlage und Bestückung der Sonde, dass eine unbemerkte Dislokation ins Auge zu fassen ist sowie das bei der Klägerin erhöhte Risiko im Hinblick auf eine Voroperation am Magen (S. 10/11 des Gutachtens).
c) Ob der Beklagten der Nachweis ihrer unter Zeugnis der Pflegekraft L gestellten Behauptung gelingen wird, dass diese die Lage der Magensonde vor ihrer Bestückung kontrolliert habe, erscheint ausgesprochen fraglich.
aa) Dass sich die Zeugin noch heute zuverlässig an die 5 Jahre zurückliegenden und zunächst unspektulär verlaufenden Vorbereitungsmaßnahmen erinnern kann, ist offensichtlich unwahrscheinlich; in ähnlichen Fallgestaltungen vermochte sich die Kammer bislang auch bei lebensnaher Betrachtung jedenfalls regelmäßig nicht mit hinreichender Gewissheit (§ 286 ZPO) die Überzeugung zu bilden, dass derartige Behandlungsabläufe nach einem derartigen Zeitablauf noch verlässlich erinnert werden können.
bb) Im vorliegenden Fall gelten auch keine reduzierten Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung. Insbesondere ist die sog. „immer-so-Rechtsprechung“ nicht auf das Behandlungsgeschehen übertragbar. Ein von Behandlerseite (oder auch von Patientenseite) behaupteter, von der Dokumentation abweichender Sachverhalt wird vielmehr nur dann zugrunde gelegt, wenn er mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit feststeht, welcher vernünftigen Zweifeln das Schweigen gebietet.
(1) Zwar ist anerkannt, dass Behandler den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung dadurch führen können, dass sie glaubhaft bekunden, wie sie stets vorgehen (BGH NJW 1985, 1399 und NJW 2014, 1527). Indes „wird hier das strenge Beweismaß der vollen richterlichen Überzeugung praxisnah abgeschliffen, um“ spezifisch „die Schärfe der Beweislastumkehr im Kontext von Einwilligung und Aufklärung (§ 630 h Abs. 2 S. 1 BGB) ein wenig abzumildern“ (Spickhoff NJW 2015, 1728 (1733)); daher beschränkt sich diese Reduktion der von der Behandlerseite verlangten Beweisführung auf die Aufklärungsthematik.
(2) Im Kontext des Behandlungsgeschehens reichen Angaben der Beteiligten zu einem stets praktizierten Vorgehen hingegen nicht für eine entsprechende Überzeugungsbildung aus. Soweit nur Parteien als Auskunftspersonen zur Verfügung stehen, besteht nach der ständigen Handhabung der Kammer bereits kein Anlass, diese hierzu zu vernehmen (§ 448 ZPO) oder anzuhören (§ 141 ZPO), sofern nicht der Sachverständige – wie hier nicht (der eingetretene Schaden spricht vielmehr dagegen!) – es im Einzelfall für hoch wahrscheinlich hält, dass sich ein Ablauf in der behaupteten Weise ereignet hat; auch wenn einer Partei Zeugen zur Verfügung stehen, übt die Kammer regelmäßig äußerte Zurückhaltung, wenn es um die Frage geht, diesen Auskunftspersonen in Bezug auf ein vom dokumentierten Sachverhalt abweichendes, behauptetes Behandlungsgeschehen Glauben zu schenken. Denn auch bei Routinehandlungen kommt es nach den allgemeinen Erkenntnissen der Beweislehre immer wieder zu Fällen des Versagens (Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellungen vor Gericht, 3. Aufl. Rn. 149 und 154; im Übrigen ist auch die Erinnerung der Patientenseite oft infolge von starken Emotionen keine verlässliche Erkenntnisquelle – vgl. zur erinnerungsverzerrenden Wirkung von Emotionen aaO. Rn. 99 und 120 ff.).
4. Eingetreten ist konkret eine Episode der Atemnot und eine nachfolgende Aspirationspneumonie mit Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung. Die Klägerin litt unter einem eklatanten Abfall der arteriellen Sauerstoffsättigung, welcher eine – nicht invasive – Beatmung erforderlich gemacht hat. Es bestand eine akute Lebensgefahr, das Gefühl des Beinahe-Erstickens sowie Todesangst. Die Klägerin befand sich von 17.07.2018-19.07.2018 in intensivmedizinischer Behandlung, am 22.07.2018 wegen Fiebers auf Überwachungsstation und wurde am 26.07.2018 entlassen. Bis dahin waren tägliche Röntgenaufnahmen des Thorax und eine Antibiose erforderlich. Hinzu kommt, dass die notwendige Koloskopie nicht durchgeführt werden konnte. Zukunftsschäden sind hingegen nicht aufgetreten und auch nicht mehr zu erwarten. Für eine sehr kurze aber ganz massive Episode der Erstickungsangst hat die Kammer ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 € für angemessen erachtet (LG München II Endurteil v. 4.5.2021 – 1 O 2667/19 Hei, BeckRS 2021, 16837; hier war die arterielle Sauerstoffsättigung auf einen Wert von 86% abgefallen). Im vorliegenden Fall befand sich die Klägerin in einer offensichtlich wesentlich längeren Phase der Atemnot. So wurde die Spülung der Magensonde um 16.15 Uhr begonnen und vor Alarmierung des Dienstarztes um 16.50 Uhr war die Sauerstoffsättigung bereits auf 57% abgefallen. Die Kammer schließt nicht aus, dass im Falle einer streitigen Entscheidung ein Schmerzensgeld zuerkannt wird, welches über den beantragten Mindestschmerzensgeldbetrag hinaus geht.
Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte schlagen wir Ihnen den Abschluss folgenden Vergleiches vor:
1. Die Beklagte verpflichtet sich, an die Klägerin 14.000,00 € zu bezahlen.
2. Damit sind sämtliche Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte und mitbehandelnde Personen aus der streitgegenständlichen Behandlung abgegolten und erledigt, seien sie bekannt oder nicht bekannt, vorhersehbar oder nicht vorhersehbar, materiell oder immateriell, aus Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, in den Rechtsstreit einbezogen oder nicht, soweit sie nicht kraft Gesetzes auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits einschließlich des Vergleiches haben die Klägerin 1/4 und die Beklagte 3/4 zu tragen.
Bitte teilen Sie binnen 6 Wochen mit, ob Sie den vorgeschlagenen Vergleich annehmen.