Titel:
Rückwärtsfahren, Elektronisches Dokument, Vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, Sorgfaltspflicht, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Elektronischer Rechtsverkehr, Wiederbeschaffungswert, Streitwert, Wert des Beschwerdegegenstandes, Kostenentscheidung, Fließender Verkehr, Anderweitige Erledigung, Informatorische Anhörung, Grundstücksausfahrt, Nutzungsausfallentschädigung, Nebenkostenpauschale, Gegenstandswert, Parteivorbringen, Qualifizierte elektronische Signatur, Klageabweisung
Schlagworte:
Anscheinsbeweis, Verkehrsunfall, Rückwärtsfahren, Vorrang, Sorgfaltspflicht, Mithaftung, Schadensersatz
Fundstelle:
BeckRS 2023, 43724
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 1.391,32 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über restliche Schadensersatzansprüche aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 01.02.2020 gegen 12:30 Uhr auf der S.straße, Höhe Ausfahrt Nr. 50-52, in M.
2
Beteiligt waren der im Eigentum des Klägers stehende Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen … im Unfallzeitpunkt gefahren von dem Kläger selbst und der bei der Beklagten haftpflichtversicherte Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen …m Unfallzeitpunkt gefahren von dem Zeugen P.
3
Die Klagepartei behauptet, das klägerische Fahrzeug sei in der Ausfahrt gestanden, um dem von links kommenden Verkehr Vorfahrt zu gewähren. Das Beklagtenfahrzeug habe zunächst verkehrswidrig in zweiter Reihe rechts neben der Ausfahrt angehalten und sei sodann verkehrswidrig rückwärts, entgegen der zugelassenen Fahrtrichtung, gefahren und mit dem stehenden klägerischen Fahrzeug kollidiert.
4
Der Kläger macht folgenden Schaden geltend:
Wiederbeschaffungswert:
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3.500,00 €
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abzüglich Restwert:
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1.036,00 €
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Sachverständigenkosten:
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762,79 €
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Nebenkostenpauschale:
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30,00 €
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Nutzungsausfallentschädigung (16 Tage zu je 38,00 €):
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608,00 €
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Gesamtschaden:
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3.864,79 €
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Der Kläger erkennt eine Mithaftung in Höhe von 34 % an und macht 66 % des Schadens, also 2.550,76 € geltend. Hierauf hat die Beklagte vorgerichtlich 1.159,44 € (30 %) geleistet, der Restbetrag ist Gegenstand dieses Verfahrens. Daneben werden vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten aus einem Gegenstandswert von 1.772,62 € geltend gemacht.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.391,32 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 189,64 € nebst Zinsen jeweils hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 16.03.2022 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt:
8
Die Beklagte behauptet, dass sich der Zeuge … vergewissert habe, dass eine Rückwärtsfahrt möglich gewesen sei, ohne Dritte zu behindern oder zu gefährden und sodann sein Fahrzeug zurückgesetzt habe. Es sei der klägerische Fahrer gewesen, plötzlich, aus der Ausfahrt kommend, in den fließenden Verkehr eingefahren sei und so die Kollision verursacht habe. Der Nutzungsausfallschaden könne auf fiktiver Basis nicht ersetzt verlangt werden, die Reparaturdauer werden bestritten, die Unkosten seien allenfalls in Höhe von 20,00 € erstattungsfähig.
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Hinsichtlich des Parteivorbringens wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung des Zeugen P. Der Kläger wurde informatorisch angehört. Auf das Protokoll vom 20.09.2023 wird inhaltlich Bezug genommen. Auf den gesamten Akteninhalt wird verwiesen.
Entscheidungsgründe
10
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Beklagte haftet für die Schäden aus dem streitgegenständlichen Unfall nicht mehr als zu 30 %. Diese wurden von Bekalgtenseite bereits geleistet.
11
Der Kläger bestätigt in seiner informatorischen Anhörung im Wesentlichen den Unfallhergang in der Klageschrift, wobei er angibt, unmittelbar vor der Kollision zum Stillstand abgebremst zu haben, es sei ein einheitlicher Vorgang gewesen. Der Zeuge … gibt an, dass während er zurückgefahren sei, der Kläger vorwärts aus der Ausfahrt ausgefahren sei. Er sei sehr langsam mit 5 bis 10 km/h rückwärtsgefahren.
12
Gegen den klägerischen Fahrer spricht allein nach dem Vortrag in der Klage der Anscheinsbeweis der § 10 StVO.
13
Das Gericht teilt die Rechtsauffassung, wonach, im Verhältnis zwischen einem Fahrzeug, welches auf der Straße rückwärts fährt und demjenigen, der aus einem Grundstück oder vom Fahrbahnrand auf die Straße fährt, gilt der Anscheinsbeweis aus § 10 StVO gegen den einfahrenden, nicht aber der Anscheinsbeweis aus § 9 Abs. 5 StVO gegen den Rückwärtsfahrer.
14
Das KG Berlin (Urteil vom 21.10.1993, 12 U 1069/92) hat hierzu zutreffend ausgeführt: „Nach § 10 StVO hat der fließende Verkehr Vorrang gegenüber demjenigen, der aus einem Grundstück auf eine öffentliche Straße fährt. Der fließende Verkehr darf in der Regel darauf vertrauen, dass sein Vorrang beachtet wird […]. Von dem Ausfahrenden wird die äußerste Sorgfaltspflicht gefordert, er ist gegenüber dem fließenden Verkehr nahezu allein verantwortlich. Er hat daher regelmäßig den gesamten bei einem Unfall entstehenden Schaden zu tragen“. Die besonderen Sorgfaltspflichten aus § 10 StVO bestünden auch gegenüber einem rückwärtsfahrenden Fahrzeug. „Der Schutz der Vorschrift des § 10 StVO dient allein dem fließenden Verkehr […], auch soweit der fließende Verkehr etwa überholt, abbiegt, in dieselbe Grundstückseinfahrt hineinfahren will, aus welcher der Unfallgegner herausfährt […] oder – wie hier – rückwärts fährt. [Insoweit] gehört damit zum fließenden Verkehr auf der Straße, auf den sich der Schutzbereich des § 10 StVO erstreckt, auch der Rückwärtsfahrende.“ Dagegen gilt nicht der Anscheinsbeweis auf § 9 Abs. 5 StVO gegen den Rückwärtsfahrenden. „Nach dieser Vorschrift muss ein Fahrzeugführer, der in ein Grundstück abbiegen, wenden oder rückwärts fahren will, sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. § 9 Abs. 5 StVO dient – wie auch die Vorschrift des § 10 StVO – dem Schutz des fließenden Verkehrs […]. Die Regelung in § 9 Abs. 5 StVO ist erkennbar von der Überlegung des Gesetzgebers beherrscht, dass die dort genannten Vorgänge (Abbiegen in ein Grundstück, Wenden und Rückwärtsfahren) für den fließenden Verkehr besonders gefährlich sind, u.a. weil die Teilnehmer des fließenden Verkehrs oft nicht mit derartigen Fahrmanövern rechnen […]. Dagegen obliegen die besonderen Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO dem in ein Grundstück Abbiegenden, dem Wendenden oder dem Rückwärtsfahrenden nicht gegenüber solchen Fahrzeugführern, die selbst nicht Teilnehmer am fließenden Straßenverkehr sind […]. Kein Teilnehmer des fließenden Verkehrs ist jedoch […] der aus einem Grundstück auf eine öffentliche Straße Ausfahrende. Dieser will selbst erst in den fließenden Verkehr fahren, weswegen er seinerseits der gesteigerten Sorgfaltspflicht des § 10 StVO unterliegt. Hiernach war der [der Rückwärtsfahrer] beim Rückwärtsfahren nicht nach § 9 Abs. 5 StVO gehalten, mit gesteigerter Sorgfalt darauf zu achten, ob andere Verkehrsteilnehmer […] beabsichtigten, aus einer Grundstücksausfahrt in die Fahrbahn einzufahren.“ (KG Berlin (Urteil vom 21.10.1993, 12 U 1069/92).
15
Der Kläger gibt selbst an, den Verkehrsraum rechts nicht geprüft zu haben, weil er mit einem Fahrzeug in Annäherung von rechts nicht gerechnet hat. Der Zeuge … ab an, dass normalerweise vorwärts aus Fahrtrichtung in die Ein- und Ausfahrt eingefahren wird. Dennoch war der Zeuge … gegenüber dem Kläger als Teil des fließenden Verkehrs bevorrechtigt, sodass sich jedenfalls eine höhere Mithaftung der Beklagtenseite als 30 % nicht ergibt. 30 % des geltend gemachten Schadens wurden von der Beklagten bereits geleistet, sodass ein darüber hinausgehender Anspruch nicht besteht. Die Klage war als unbegründet abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.