Inhalt

OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss v. 15.12.2023 – 8 U 1646/23
Titel:

Berufsunfähigkeitsversicherung: Verweisung im Nachprüfungsverfahren – Anknüpfungspunkt für zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit bei Erbringung von Pflegeleistungen

Normenketten:
VVG § 174
BB-BUZ § 2, § 5, § 7
SGB XI § 19 S. 1
SGB VI § 1 S. 1 Nr. 1, § 3 S. 1 Nr. 1a
Leitsätze:
1. Im Rahmen einer Änderungsmitteilung iSv § 7 Nr. 4 BB-BUZ, die darauf gestützt wird, es habe sich eine neue Verweisungsmöglichkeit ergeben, bedarf es einer berufsbezogenen Vergleichsbetrachtung und es müssen die hieraus abgeleiteten Folgerungen aufgezeigt werden. Dabei sind die frühere, bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübte und die jetzt ins Auge gefasste Tätigkeit unter Darlegung der jeweiligen Anforderungen und erforderlichen Fähigkeiten sowie der finanziellen und sozialen Wertschätzung gegenüberzustellen. Die Anforderungen an die Vergleichsbetrachtung sind dabei jedoch geringer, wenn bei einer konkreten Verweisung der Versicherte den neuen Beruf bereits ausübt, ihn also kennt und zu einer entsprechenden Beurteilung in der Lage ist (Anschluss an BGH BeckRS 1999, 30080108; OLG Saarbrücken BeckRS 2009, 6510). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Beurteilung der Frage der Verweisbarkeit des Versicherten auf eine neue Tätigkeit ist hinsichtlich der Ausbildung und Erfahrung auf den zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf abzustellen und danach zu fragen, welche Qualifikation die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung dieser Tätigkeit voraussetzt. Dabei geht es sowohl um die formale Qualifikation ("Ausbildung") als auch um die im praktischen Berufsleben erworbenen Fähigkeiten ("Erfahrung"). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Hinsichtlich der Frage des zuletzt ausgeübten Berufs haben neben einer Teilzeittätigkeit vom Versicherten nicht erwerbsmäßig für einen Angehörigen erbrachte Pflegeleistungen iSv § 19 S. 1 SGB XI außer Betracht zu bleiben. Auch der Umstand, dass die Verpflichtung zur Pflege in einem bäuerlichen Hofübergabevertrag geregelt wurde, macht die Pflegetätigkeit des Angehörigen noch nicht zu einer "erwerbsmäßigen" Pflege (vgl. BSG BeckRS 2014, 73596). (Rn. 23 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zur Möglichkeit der Verweisung einer Reinigungskraft in einem Kindergarten und Kurierfahrerin auf eine Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin "ohne jede zusätzliche Qualifikation". (Rn. 26 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Berufsunfähigkeitsversicherung, konkrete Verweisung, Nachprüfungsverfahren, Einstellungsmitteilung, Änderungsmitteilung, Pflegeleistungen
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 11.07.2023 – 20 O 6997/22
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Beschluss vom 31.01.2024 – 8 U 1646/23
Fundstellen:
BeckRS 2023, 43714
FDVersR 2024, 943714

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 11.07.2023, Az. 20 O 6997/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten über Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung, die die Klägerin seit dem Jahre 2003 gemeinsam mit einer Kapitallebensversicherung bei der Beklagten unterhält (Anlagenkonvolut K 1, Seiten 5 ff.).
2
Die Zusatzversicherung läuft bis zum 01.10.2024. Ihr liegen die Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BB-BUZ; Anlagenkonvolut K 1, Seiten 27 ff.) zugrunde. Abweichend von § 2 Nr. 1 BB-BUZ haben die Parteien Folgendes vereinbart:
„Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen mindestens zu 50% außerstande ist, ihren Beruf auszuüben. Dies gilt nicht, wenn die versicherte Person eine andere, ihrer Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausübt.
Die in den Bedingungen für die …Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung enthaltenen Regelungen zur Verweisbarkeit auf eine nicht tatsächlich ausgeübte Tätigkeit finden keine Anwendung, insbesondere gelten § 2 Ziffer 2 und 4 der Bedingungen für die …-Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung nicht.
Bei der Nachprüfung der Berufsunfähigkeit (§ 7 Ziffer 1) werden neuerworbene Fähigkeiten in einem tatsächlich ausgeübten Beruf berücksichtigt.“
3
Für den Fall der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit sind die Zahlung einer jährlichen Berufsunfähigkeitsrente von 9.600,00 € sowie die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht für Haupt- und Zusatzversicherung vereinbart. Die Jahresprämie für die gesamte Versicherung betrug bei Vertragsbeginn 1.184,99 €.
4
Im Juli 2019 zeigte die Klägerin gegenüber der Beklagten eine eingetretene Berufsunfähigkeit an (Anlage B 1). Mit Schreiben vom 31.10.2019 erkannte die Beklagte eine seit dem 01.05.2018 bestehende Berufsunfähigkeit an (Anlage K 2) und erbrachte die vertraglichen Leistungen bis einschließlich März 2020. Unter dem 07.01.2020 teilte die Beklagte der Klägerin schriftlich mit, dass sie ihre Leistungen ab dem 01.04.2020 einstelle (Anlage K 3). Begründet wurde dies mit einer Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin bei der Fa. Ra…, die die Klägerin seit dem 01.10.2019 in Vollzeit ausübt.
5
Die Klägerin hält die Beklagte für weiterhin leistungspflichtig.
6
Das Landgericht hat die zuletzt auf Zahlung von rückständiger Berufsunfähigkeitsrente von 25.600,00 € (für April 2020 bis November 2022), Zahlung weiterer Rente von monatlich 800,00 €, Feststellung der Freistellung von der Beitragszahlungspflicht und Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.728,48 € gerichtete Klage ohne Beweisaufnahme vollständig abgewiesen. Es hat dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Klägerin in der Lage sei, eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden könne und ihrer bisherigen Lebensstellung entspreche. Die Klägerin müsse sich auf ihre aktuelle Tätigkeit verweisen lassen.
7
Hiergegen wendet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre zuletzt gestellten erstinstanzlichen Klageanträge weiterverfolgt.
II.
8
Der Senat ist gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die in erster Instanz festgestellten Tatsachen gebunden. Durchgreifende und entscheidungserhebliche Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit dieser Feststellungen ergeben sich nicht. Die maßgeblichen Tatsachen rechtfertigen keine von der des Landgerichts abweichende Entscheidung und dessen Entscheidung beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
9
Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht einen Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte aus § 1 Nr. 1 BB-BUZ verneint. Mit den hiergegen erhobenen Einwendungen kann die Berufung nicht durchdringen.
10
1. In rechtlicher Hinsicht ist zunächst folgende Klarstellung veranlasst:
11
Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils erwecken im Ausgangspunkt den Eindruck, als habe das Landgericht den Eintritt eines Versicherungsfalls geprüft und einen solchen verneint (LGU 7). Dabei hat die Vorinstanz § 172 Abs. 1 VVG in Bezug genommen, der jedoch auf den hier vorliegenden Altvertrag nicht anwendbar ist (Art. 4 Abs. 3 EGVVG). In der Sache hat das Landgericht dann aber überzeugend begründet, dass sich die Klägerin auf ihre aktuelle Tätigkeit verweisen lassen muss.
12
Im Übrigen ist der Eintritt eines Versicherungsfalls unstreitig. Er ist seitens der Beklagten mit Schreiben vom 31.10.2019 unbefristet anerkannt worden (§ 173 Abs. 1 VVG, § 5 BB-BUZ; Anlage K 2). Folglich war die Beklagte an ihr Anerkenntnis gebunden und konnte sich nur nach den Regeln des Nachprüfungsverfahrens von ihrer Leistungspflicht lösen (§ 7 BB-BUZ; vgl. BGH, Urteil vom 17.02.1993 – IV ZR 206/91, r+s 1994, 72, 73 m.w.N.). Demgemäß sind die nach § 7 Nr. 4 BB-BUZ zum Wegfall der Leistungspflicht führenden Voraussetzungen einer Nachprüfungsentscheidung Gegenstand der gerichtlichen Prüfung im vorliegenden Rechtsstreit. Dabei ist es Sache des Versicherers, im Nachprüfungsverfahren zu beweisen, dass die Voraussetzungen seiner Leistungspflicht nicht mehr erfüllt sind (vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2016 – IV ZR 434/15, NJW 2017, 731 Rn. 18 m.w.N.). Das gilt namentlich für die Tatsachen, aus denen sich die Verweisbarkeit der Klägerin auf eine tatsächlich ausgeübte Tätigkeit ergeben soll (vgl. OLG Karlsruhe, NJW-RR 2012, 555).
13
2. Die Einstellungsmitteilung der Beklagten vom 07.01.2020 (Anlage K 3) genügte den formellen Anforderungen des § 7 Nr. 4 BB-BUZ. Danach ist die Leistungseinstellung dem Anspruchsberechtigten mitzuteilen. Dies hat gemäß § 14 Nr. 1 Satz 1 AVB schriftlich zu erfolgen.
14
Voraussetzung der Wirksamkeit einer solchen Mitteilung ist deren Nachvollziehbarkeit, also grundsätzlich eine Begründung, aus der für den Versicherten nachvollziehbar wird, warum nach Auffassung seines Vertragspartners die anerkannte Leistungspflicht enden soll (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 03.11.1999 – IV ZR 155/98, r+s 2000, 213, 215). Hat sich der Gesundheitszustand nicht geändert, aber eine neue Verweisungsmöglichkeit ergeben, ist eine berufsbezogene Vergleichsbetrachtung nötig und es müssen die hieraus abgeleiteten Folgerungen aufgezeigt werden. Dabei sind die frühere, bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit und die jetzt ins Auge gefasste Tätigkeit unter Darlegung der jeweiligen Anforderungen und erforderlichen Fähigkeiten sowie der finanziellen und sozialen Wertschätzung gegenüberzustellen (vgl. Prölss/ Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl., § 174 Rn. 25; Knechtel in: Ernst/Rogler, Berufsunfähigkeitsversicherung, § 9 BUV Rn. 111). Die Anforderungen an die Vergleichsbetrachtung sind jedoch geringer, wenn bei einer konkreten Verweisung der Versicherte den neuen Beruf – wie hier – bereits ausübt, ihn also kennt und zu einer entsprechenden Beurteilung in der Lage ist (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Saarbrücken, r+s 2010, 521).
15
Die Einstellungsmitteilung vom 07.01.2020 nennt die frühere, bis Mai 2018 ausgeübte Tätigkeit der Klägerin und die sich auf diesen Beruf auswirkenden orthopädischen und psychischen Beeinträchtigungen. Ferner wird die seit Dezember 2019 ausgeübte Tätigkeit genannt, verbunden mit der Einschätzung, dass diese ohne medizinische Beeinträchtigungen bewältigt werden könne, weil keine schweren körperlichen Arbeiten anfielen. Diese knappen Ausführungen erscheinen noch ausreichend, um dem Informationsbedürfnis der Klägerin zu entsprechen und sie in die Lage zu versetzen, ihr Prozessrisiko abschätzen zu können. Gleiches gilt für die im Schreiben vom 07.01.2020 enthaltenen Ausführungen zur Wahrung der Lebensstellung. Erkennbares Ziel der Beklagten war es, nach dem Wegfall der Berufsunfähigkeit die Leistungen zum nächstmöglichen Zeitpunkt einzustellen. Dies war hier der Beginn des nachfolgenden Versicherungsvierteljahres, mithin der 01.04.2020.
16
3. Im Zeitpunkt der Mitteilung vom 07.01.2020 waren auch die tatsächlichen Voraussetzungen für einen Wegfall der Leistungspflicht der Beklagten gegeben.
17
a) Für die Nachprüfungsentscheidung kommt es in materieller Hinsicht darauf an, dass eine Berufsunfähigkeit im Sinne der Bedingungen nicht mehr vorliegt. Berufsunfähigkeit ist hier durch besondere vertragliche Vereinbarung abweichend von § 2 Nr. 1 BB-BUZ in der Weise definiert, dass die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen mindestens zu 50% außerstande ist, ihren Beruf auszuüben. Dies gilt nicht, wenn die versicherte Person eine andere, ihrer Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung entsprechende Tätigkeit tatsächlich ausübt. Im Rahmen der Nachprüfung dürfen hierbei auch neu erworbene Fähigkeiten berücksichtigt werden.
18
b) Unstreitig ist die Klägerin seit dem 01.10.2019 bei der Fa. Ra… als Produktionsmitarbeiterin in der Abteilung Scan- und Dokumentenservice beschäftigt. Die Möglichkeit einer konkreten Verweisung war daher grundsätzlich eröffnet. Es steht auch nicht in Streit, dass die Klägerin im Zeitpunkt der Mitteilung vom 07.01.2020 gesundheitlich imstande war, den Verweisungsberuf in einem die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließenden Grad auszuüben. Die Klägerin hat selbst vorgetragen, dass die Tätigkeit im Verweisungsberuf weder eine besondere Beweglichkeit noch einen besonderen Kraftaufwand erfordere. Weite Laufwege müssten nicht zurückgelegt werden (Klageschrift, Seiten 7/8).
19
c) Die Verweisungstätigkeit muss sodann der Ausbildung, Erfahrung und bisherigen Lebensstellung der versicherten Person entsprechen. Es handelt sich hierbei um zwei getrennt voneinander zu beurteilende Tatbestandsmerkmale (vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Aufl., Kap. 8 Rn. 37), d.h. Ausbildung und Erfahrung einerseits und bisherige Lebensstellung andererseits.
20
aa) Hinsichtlich der Ausbildung und Erfahrung ist auf den zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Beruf abzustellen und danach zu fragen, welche Qualifikation die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung dieser Tätigkeit voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 21.04.2010 – IV ZR 8/08, NJW-RR 2010, 906 Rn. 11). Dabei geht es sowohl um die formale Qualifikation („Ausbildung“) als auch um die im praktischen Berufsleben erworbenen Fähigkeiten („Erfahrung“; vgl. Rogler in: Ernst/Rogler, Berufsunfähigkeitsversicherung, § 2 BUV Rn. 431).
21
Nach dem Vortrag der Klägerin war diese vor Eintritt des Versicherungsfalls bis April 2018 hauptsächlich mit der häuslichen Pflege ihrer Schwiegermutter, die im Jahre 2000 einen Schlaganfall erlitten hatte, beschäftigt. Die häusliche Pflege der Schwiegermutter umfasste nach Angaben der Klägerin insbesondere Kochen, Waschen, Putzen und Hilfe bei der Körperhygiene. Daneben übte die Klägerin bis Januar 2018 an zwei Tagen pro Woche eine Nebentätigkeit als Reinigungskraft in einem Kindergarten aus. Zudem war die Klägerin „seit etwa 2008“ auf 450-€-Basis als Kurierfahrerin für die Raiffeisenbank V… tätig.
22
bb) Den Schutz der Berufsunfähigkeitsversicherung genießen alle Tätigkeiten, die grundsätzlich der Erzielung von Einkommen dienen und geeignet sind, zum Lebensunterhalt des Versicherten beizutragen (vgl. OLG Saarbrücken, BeckRS 2005, 399; HK-VVG/Mertens, 4. Aufl., § 172 Rn. 23). Der Beruf beschränkt sich dabei nicht notwendigerweise auf eine einzelne Berufstätigkeit, sondern kann auch mehrere nebeneinander ausgeübte Tätigkeiten erfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 16.01.2019 – IV ZR 182/17, NJW-RR 2019, 664 Rn. 19).
23
Zutreffend und von der Berufung nicht angegriffen hat das Landgericht festgestellt, dass versicherter Beruf im Sinne der abweichend von § 2 Nr. 1 BB-BUZ getroffenen Vereinbarung hier die in Teilzeit ausgeübten Tätigkeiten als Reinigungskraft und Kurierfahrerin waren. Die häusliche Pflege der Schwiegermutter der Klägerin ist hingegen nicht maßgebend. (LGU 9/10). Es handelte sich insofern um eine Tätigkeit als Pflegeperson i.S.v. § 19 Satz 1 SGB XI. Die aufopfernde Pflege durch Angehörige stellt sich – auch bei Weiterleitung von Pflegegeld als Anerkennungsleistung – regelmäßig als nicht erwerbsmäßig, also als ehrenamtlich dar (vgl. BSG, NZS 2003, 213, 215). Dass hierfür eine gesonderte, über das Pflegegeld hinausgehende Vergütung gezahlt worden ist, hat die Klägerin nicht vorgetragen. Dies lässt den Schluss zu, dass die Pflege ausschließlich aus persönlichen Gründen und nicht zur Erwirtschaftung eines dauerhaften Lebensunterhaltes geleistet wurde. Auch der Umstand, dass die Verpflichtung zur Pflege in einem bäuerlichen Hofübergabevertrag geregelt wurde, macht die Pflegetätigkeit des Angehörigen noch nicht zu einer „erwerbsmäßigen“ Pflege (vgl. BSG, BeckRS 2014, 73596).
24
Eine andere Würdigung ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass die Pflegekasse Rentenversicherungsbeiträge für die Klägerin entrichtet hat (Anlage K 4). Denn die Klägerin war in diesem Zusammenhang nicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI als Beschäftigte, sondern nach § 3 Satz 1 Nr. 1a SGB VI als nicht erwerbsmäßig tätige Pflegeperson rentenversicherungspflichtig (vgl. insoweit auch K 11: „Bei einer nicht erwerbsmäßigen Pflege wird als Entgelt ein fiktiver Verdienst angesetzt“).
25
Dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer erschließt sich, dass ehrenamtliche Tätigkeiten im privaten Bereich in Ermangelung einer gesonderten Vereinbarung nicht als versicherter „Beruf“ im Sinne der abgeschlossenen Berufsunfähigkeitsversicherung gelten. Er wird erkennen, dass es für die Einordnung nicht auf individuelles Empfinden und persönliches Engagement, sondern auf die rechtliche Anerkennung als Erwerbstätigkeit ankommt.
26
cc) Die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit als Reinigungskraft in einem Kindergarten erforderte nach Ansicht des Senats keine formale Qualifikation. Das Ausleeren von Papierkörben und Mülleimern sowie das Säubern von Innenräumen kann nach kurzer Instruktion auch durch ungelernte Arbeitskräfte ausgeführt werden und bedarf keiner gesteigerten Erfahrung. Für die Tätigkeit als Kurierfahrerin einer Bank sind die Befähigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs und eine allgemeine Zuverlässigkeit erforderlich. Zwar macht die Berufung geltend, dass die Tätigkeiten als Reinigungskraft und Kurierfahrerin Teil der Berufungsausbildung der Klägerin gewesen seien (Berufungsbegründung, Seite 3). Die Notwendigkeit einer besonderen Qualifikation vermag der Senat jedoch nicht zu erkennen und sie wird klägerseits auch nicht dargelegt. Es handelte sich jeweils um bloße Anlerntätigkeiten.
27
Die Klägerin hat geltend gemacht, dass ihre nunmehr ausgeübte Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin ohne jede zusätzliche Qualifikation „letzten Endes von jedem“ ausgeführt werden könne. Sie hat diese Anforderungen wie folgt näher beschrieben (Klageschrift, Seite 4):
„Die Klägerin beschäftigt sich in Vollzeit damit, dass sie den ganzen Tag an einem Schreibtisch mit Tischscanner und Monitor auf einem ergonomischen und sehr gut einstellbaren Schreibtischstuhl sitzt. Sie entnimmt Ordnern Blätter, entfernt Büroklammern, Tackernadeln und Postits. Eselsohren müssen glattgestrichen, die Blätter in ca. 10 cm hohe Stapel geschichtet und mit zwei Gummis gebündelt werden. Nötigenfalls muss ein Blatt gesondert auf dem Tischscanner gescannt werden. Hierzu ist weder ein besonderer Kraftaufwand noch eine sonstige, besondere Fähigkeit erforderlich.
Die Tätigkeit wiederholt sich den ganzen Tag, ist eintönig, wenig abwechslungsreich und insbesondere auch nicht mit Kontakt mit anderen Menschen verbunden.“
28
Somit ist als Zwischenergebnis festzustellen, dass die bisherige Tätigkeit als Reinigungskraft und Kurierfahrerin in fachlicher Hinsicht keine höheren Anforderungen an Ausbildung und Erfahrung gestellt hat als die spätere Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin. Gemessen am versicherten Beruf wird die Klägerin nicht in einer ins Gewicht fallenden Weise über- oder unterfordert. Dies greift die Berufung ebenfalls nicht an.
29
dd) Die Verweisungstätigkeit entspricht auch der bisherigen Lebensstellung der Klägerin (LGU 9). Die Lebensstellung wird v.a. durch die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit geprägt. Sie ist stets im Rahmen einer Gesamtabwägung zu beurteilen. Die versicherte Person darf keinen unzumutbaren wirtschaftlichen oder sozialen Abstieg erleiden; ihr sozialer Status muss im Wesentlichen erhalten bleiben. Eine Vergleichstätigkeit ist dann gefunden, wenn die neue Erwerbstätigkeit in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Berufs absinkt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2016 – IV ZR 434/15, NJW 2017, 731 Rn. 15 m.w.N.). Dabei geht es nicht um die individuelle Wertschätzung, sondern um das Ansehen, dass der Beruf als solcher dem verleiht, der ihn ausübt (abstrakt-generelle Betrachtung; vgl. Neuhaus, Berufsunfähigkeitsversicherung, 4. Aufl., Kap. 8 Rn. 114). Die Verweisung auf eine Tätigkeit in einem Beruf, der keine Ausbildung voraussetzt, stellt nicht von vornherein einen Abstieg in der sozialen Wertschätzung des Versicherungsnehmers dar (vgl. BGH, Urteil vom 21.04.2010 – IV ZR 8/08, NJW-RR 2010, 906 Rn. 17).
30
Der bisherige Beruf und die Verweisungstätigkeit können über das Brutto- oder das Nettoeinkommen miteinander verglichen werden (vgl. BGH, Urteil vom 08.02.2012 − IV ZR 287/10, NJW-RR 2012, 811 Rn. 16). Vorzugswürdig erscheint der Nettovergleich, weil er die tatsächliche Lebensstellung besser widerspiegelt. Eine feste Grenze für eine nicht mehr hinnehmbare Einkommenseinbuße existiert nicht. Dies wird in der Regel aber erst ab einer Minderung von 20% in Betracht kommen (vgl. Senatsurteil vom 22.02.2021 – 8 U 2845/20, BeckRS 2021, 2223 Rn. 36). Derartiges ist hier nicht festzustellen. Entgegen der Ansicht der Klägerin (Berufungsbegründung, Seite 3) kommt es nicht entscheidend auf den Stundenlohn an. Bei der konkreten Verweisung ist für den Einkommensvergleich nicht auf die erzielbaren, sondern auf die tatsächlich erzielten Einkünfte abzustellen, denn diese prägen die konkrete Lebensstellung in besonderer Weise. Wird eine lediglich in Teilzeit ausgeübte Tätigkeit in die Vergleichsbetrachtung einbezogen, kann daher nicht auf eine fiktive Vollzeitvergütung abgestellt werden (vgl. auch BGH, Urteil vom 07.12.2016 – IV ZR 434/15, NJW 2017, 731 Rn. 21). Folglich ist auch nicht relevant, welchen Stundenlohn die Klägerin in ihrem einstmals erlernten Beruf als Hauswirtschafterin (fiktiv) erzielen könnte. Dies ist nicht der versicherte Beruf, d.h. er spiegelt nicht die bis zur Geltendmachung der Berufsunfähigkeit erreichte Stellung wider. Die Berufsunfähigkeitsversicherung sichert nicht eine künftige Verbesserung dieser Lebensumstände, die durch Beibehaltung des Ausbildungsberufs hätte erreicht werden können (vgl. BGH, Urteil vom 26.06.2019 – IV ZR 19/18, r+s 2019, 472 Rn. 29).
31
Fehlt es an einem Einkommensnachteil oder verdient die versicherte Person im neuen Beruf gar mehr als im bisherigen, ist damit in aller Regel nicht nur ihr wirtschaftlicher, sondern auch ihr sozialer Status gewahrt (vgl. Senatsurteil vom 01.02.2022 – 8 U 2196/21, r+s 2023, 504 Rn. 40). Im Streitfall gilt nichts anderes. Es ist nicht zu einem spürbaren sozialen Abstieg der Klägerin im Berufsleben und in der Gesellschaft gekommen. Ihr sozialer Status ist im Wesentlichen erhalten geblieben. Die Klägerin bekleidet nunmehr eine Vollzeitstelle mit 39 Wochenstunden. Zuvor übte sie zwei geringfügige Beschäftigungen im Umfang von zwei Stunden (Kurierfahrerin) bzw. acht Stunden (Reinigungskraft) pro Woche aus. Bei der gebotenen abstrakt-generellen Betrachtung genießt die mit dem Ordnen und Scannen von Dokumenten verbundene Tätigkeit als Produktionsmitarbeiterin keine nennenswert geringere Wertschätzung als der Beruf einer Reinigungskraft bzw. Kurierfahrerin. Die beiden letztgenannten Tätigkeiten werden aus Sicht der Allgemeinheit auch nicht durch einen gehäuften Kontakt zu anderen Menschen und soziale Interaktion geprägt. Regelmäßig auftretende besondere Herausforderungen, die von der gewohnten Arbeitsroutine abweichen, sind bei lebensnaher Betrachtung für keine der miteinander zu vergleichenden Tätigkeiten kennzeichnend. Ebenso wenig sind nennenswerte Unterschiede in der Gestaltungsfreiheit und dem Ausmaß an Selbständigkeit festzustellen. Zwar dürfte die Tätigkeit als Kurierfahrerin einer Bank eine gewisse Vertrauenswürdigkeit voraussetzen. Allerdings handelt es sich hier nur um eine Nebentätigkeit im Umfang von zwei Wochenstunden (Anlage B 1), so dass die berufliche Veränderung der Klägerin in den Augen der Öffentlichkeit nicht als sozialer Abstieg wahrgenommen wird. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Klägerin im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung als Kurierfahrerin besondere Fähigkeiten angeeignet hat, die sie nunmehr nicht mehr nutzen kann.
32
4. Da die Beklagte bis einschließlich 31.03.2020 alle vertraglich geschuldeten Leistungen erbracht hat und für die Folgezeit keine Leistungen schuldet, bleiben alle Klageanträge erfolglos. Mangels Hauptforderung ist die Beklagte auch nicht zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten verpflichtet.
III.
33
Vor diesem Hintergrund empfiehlt der Senat, die Berufung zurückzunehmen. Hierdurch würden sich die Gerichtskosten von 4,0 auf 2,0 Gebühren reduzieren (Nr. 1222 KV GKG).