Inhalt

FG München, Beschluss v. 24.11.2023 – 12 K 1843/23
Titel:

Prüfung der Erfolgsaussichten für PKH in Familienstreitsache

Normenketten:
FGO § 142
ZPO § 114
VO Nr. 883/2004 Art. 11 Abs. 2, Abs. 3 Buchst. a, Art. 68 Abs. 1, Abs. 2 S. 3
Leitsätze:
1. Nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO (EG) Nr. 883/2004 wird die Konkurrenz von Kindergeldansprüchen so aufgelöst, dass an erster Stelle die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche stehen.
2. Bezieht ein Kindergeldberechtigter im streitigen Zeitraum Krankengeld ist diese Bezugszeitraum über Art. 11 Abs. 2, Abs. 3 Buchst. a VO (EG) Nr. 883/2004 eine Beschäftigungszeit gleichgestellt.
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Erfolgsaussichten, Kindesmutter, Wohnsitznachweis, Polen, Bezugszeitraum, Beschäftigungszeit, Anspruchskumulierung, Kindergeld, Familienkasse
Fundstelle:
BeckRS 2023, 43650

Tenor

Dem Antragsteller wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe gewährt.

Gründe

1
Streitig ist im Hauptsacheverfahren, ob dem Antragsteller Kindergeld für den Zeitraum April 2023 bis September 2023 zusteht.
I.
2
Mit Bescheid vom 18. April 2023 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für das Kind [… NN] (geboren am […]... 2003) ab April 2023 auf und wies mit Einspruchsentscheidung vom 31. August 2023 den Einspruch des Antragstellers als unbegründet zurück.
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Mit seiner Anfechtungsklage wendet sich der Kläger gegen diese Aufhebung der Kindergeldfestsetzung. Der Kläger ist der Auffassung, dass ihm für den streitigen Zeitraum Kindergeld für NN zustehe.
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Der Antragsteller beantragt,
ihm für das vorliegende Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren.
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Die Familienkasse ist der Auffassung, dass die Klage keine Erfolgsaussichten habe. Nach Auffassung der Familienkasse sei im Streitfall der inländische Wohnsitz des Antragstellers hinreichend nachgewiesen. Auch das Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes für das Kind NN sei hinreichend nachgewiesen. Die Familienkasse hat jedoch Zweifel daran, dass der Kläger, die Kindesmutter sowie das Kind NN einen gemeinsamen Haushalt in Polen führen würden. Nach Auffassung der Familienkasse liege zwar eine polnische Meldebescheinigung vom 8. Oktober 2020 vor; diese habe für die Folgezeit jedoch allenfalls indiziellen Charakters.
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Außerdem ist die Familienkasse der Auffassung, dass ein überstaatlicher Sachverhalt vorliege und neben den nationalen Rechtsvorschriften die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 <Grundverordnung>) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 <Durchführungsverordnung>), einschlägig seien. Der Antragsteller sei seit dem 6. Februar 2023 bis mindestens 8. Oktober 2023 krankgeschrieben. Da der Antragsteller keine Erwerbstätigkeit Deutschland ausübe und die Kindesmutter ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, sei ein eventueller Anspruch auf Kindergeld nach Art. 68 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 durch den Wohnort des Kindes ausgelöst. Folglich sei Polen als Wohnsitzland des Kindes vorrangig für die Erbringung von Familienleistungen zuständig und Deutschland nur nachrangig. Wenn Deutschland nachrangig zuständig sei, sei zu prüfen ob ein Kindergeldunterschiedsbetrag zu zahlen sei. Im Streitfall sei ein Anspruch auf nachrangiges deutsches Kindergeld durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen. Denn für in Ausbildung stehende Kinder bestehe ein Anspruch auf polnische Familienleistungen bis zum 21. Lebensjahr. Unabhängig davon, ob nationale Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch erfüllt seien, sei damit ein Anspruch auf nachrangiges deutsches Kindergeld ausgeschlossen.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die ausgetauschten Schriftsätze und die vorgelegten Akten Bezug genommen. Der Antragsteller hat seine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse am 4. Oktober 2023 abgegeben.
II.
8
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe hat Erfolg.
9
1. Nach § 142 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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a) Eine beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers nach dessen Sachdarstellung und den vorhandenen Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält, in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist und deshalb bei summarischer Prüfung für den Eintritt des angestrebten Erfolgs eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (Bundesfinanzhof<BFH>-Beschluss vom 5. Januar 2021 XI S 20/20 (PKH), BFH/NV 2021, 665).
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b) Aus der vom Antragsteller eingereichten Erklärung ihrer persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ergibt sich, dass er nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (vgl. § 117 Abs. 2 ZPO).
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2. Im Streitfall geht der Senat nach summarischer Prüfung der Sach-, Rechts- und Beweislage von Erfolgsaussichten der Klage aus.
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a) Selbst die Familienkasse geht im Streitfall davon aus, dass der inländische Wohnsitz des Antragstellers und das Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes für das Kind NN hinreichend nachgewiesen ist.
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b) Der Senat ist nach summarischer Prüfung davon überzeugt, dass dem Antragsteller die Beweisführung gelingen kann, dass er mit der Kindesmutter und dem Kind NN einen gemeinsamen Haushalt in Polen im Streitzeitraum führt.
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c) Zutreffend geht die Familienkasse davon aus, dass die Anspruchskumulierung nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 aufzulösen ist. Die Familienkasse nimmt jedoch zu Unrecht an, dass für die Auflösung der Wohnsitz des Kindes in Polen maßgeblich sei und folglich Polen als Wohnsitzland des Kindes vorrangig für die Erbringung von Familienleistungen zuständig sei und Deutschland nur nachrangig.
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d) Nach Auffassung des Senats ist nach summarischer Prüfung im Streitfall nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a) VO Nr. 883/2004 die Beschäftigung des Antragstellers in Deutschland entscheidend und der Kindergeldanspruch in Deutschland vorrangig. Für die Frage, was die Ansprüche i.S. des Art. 68 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 auslöst, ist darauf abzustellen, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 VO Nr. 883/2004 unterstellt ist (BFH-Urteil vom 14. Juli 2022 III R 14/20, BFH/NV 2022, 1309). Nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 stehen an erster Stelle die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche. Hiernach folgen die durch den Bezug einer Rente und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche. Bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, wird davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Dadurch sollen auch Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung der Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit bei fortbestehendem Leistungsbezug erfasst werden. Gedacht ist dabei an Einkommensersatzleistungen in Fällen wie Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit. (BFH-Urteil in BFH/NV 2022, 1309; Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, vor §§ 62 bis 78 EStG Rz. 20 unter Tz. II.1.: Beschäftigte und selbständig Erwerbstätige [Feb. 2020]).
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Nach dieser Maßgabe ist im Streitfall der Kindergeldanspruch des Antragstellers in Deutschland vorrangig. Denn der Antragsteller bezieht im streitigen Zeitraum Krankengeld und die Zeiten, in denen aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Einkommensteuerersatzleistung gezahlt wird, sind einer Beschäftigungszeit gleichzustellen (vgl. Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht <DAüzV> Rz. 213.22 Abs. 1).
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Die Arbeitsunfähigkeit des Antragstellers ist nach Auffassung der Familienkasse auch durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum von 6. Februar 2023 bis 8. Oktober 2023 ausreichend nachgewiesen. Ausweislich des Bescheids der […] Krankenkasse vom 23. März 2023 bezieht der Antragsteller seit dem 20. März 2023 ein tägliches Krankengeld für die Zeit, in der er krankgeschrieben ist.
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3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen (BFH-Beschluss vom 8. März 2016 V S 9/16 (PKH), BFH/NV 2016, 944). Gerichtsgebühren sind für dieses Verfahren nicht zu erheben (§ 142 FGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Sätze 4 und 5 ZPO, § 1 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 3 Gerichtskostengesetz und Kostenverzeichnis Anlage 1).