Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 15.12.2023 – AN 14 K 20.50284
Titel:

Abschiebung nach Italien unzulässig

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Mängel des Asylsystems können nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine transsexuelle Person, d.h. eine Person, bei das das biologische Geschlecht und das wahrgenommene Geschlecht nicht kongruent sind, die sich zum Zwecke der Geschlechtsumwandlung einer Hormontherapie unterzieht, ist bis zum Abschluss der Geschlechtsumwandlung als besonders verletzlich, als vulnerabel anzusehen. (Rn. 49 – 50) (redaktioneller Leitsatz)
3. Transsexuelle Personen werden in Italien nicht als vulnerabel anerkannt. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Italien, Flüchtlingsschutz, Transsexuelle Person, begonnene Hormontherapie zur Geschlechtsangleichung, drohende unmenschliche Behandlung, Mann-zu-Frau-Transidentität, Geschlechtsumwandlung, Hormontherapie
Fundstelle:
BeckRS 2023, 43336

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 5. August 2016 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Klägerin hat die armenische Staatsangehörigkeit und ist transsexuell. Sie wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit dem ihr in Deutschland gestellter Asylantrag wegen einer vorherigen Schutzgewährung in Italien als unzulässig abgelehnt und ihr die Abschiebung dorthin angedroht wurde.
2
Die Klägerin reiste eigenen Angaben zufolge am 5. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Dezember 2015 einen förmlichen Asylantrag. Beim persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens (Erstbefragung) am gleichen Tag gab sie im Wesentlichen an, ein Aufenthaltsdokument/Visum für die Niederlande, ausgestellt von der Immigrationsbehörde Holland am 13. Juni 2014 mit einer Gültigkeit bis zum 13. Juni 2015 besessen zu haben. Armenien habe sie zwischen dem 3. und 4. April 2014 verlassen und sei über Georgien, die Türkei, verschiedene Länder der sogenannten Balkanroute, Deutschland, Holland und Italien gereist. Die Reise habe ca. eineinhalb Jahre gedauert. Auf die Frage, ob sie in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt habe, gab sie Holland an, wo sie ca. Mitte Mai 2014 einen Antrag gestellt habe. Fingerabdrücke seien ihr in Holland und Italien abgenommen worden.
3
Bei der am gleichen Tag erfolgenden Zweitbefragung gab sie im Wesentlichen an, unter Morbus Crohn zu leiden und auf dem rechten Auge kaum etwas zu sehen. Die Sichtschärfe des rechten Auges betrage -18. Diesbezüglich sei sie in … operiert worden. An Medikamenten seien Diane-Hormone erforderlich. Sie könne in keinen anderen Staat überstellt werden, da sie in Holland einen Asylantrag gestellt habe, weil sie gedacht habe, dass man dort Menschen wie sie akzeptiere und tolerant sei, was leider nicht der Fall gewesen sei. Sie sei nach Italien überstellt worden, wo die Bedingungen noch schlimmer gewesen seien, weil die Transsexuellen dort auf der Straße leben müssten und keine Chance hätten.
4
Am 14. Dezember 2015 stellte das Bundesamt aufgrund von vorliegenden Eurodac-Treffern der Kategorie 1 Wiederaufnahmegesuche an die Niederlande und an Italien. Während Italien nicht auf das Gesuch reagierte erklärte die Immigrationsbehörde der Niederlande mit Schreiben vom 23. Dezember 2015 eine Ablehnung des Ersuchens. Darin wurde ausgeführt, dass die betroffene Person in den Niederlanden am 5. Mai 2014 Asyl beantragt habe. Aufgrund eines vorgelegten italienischen „Permesso“ sei am 10. Juni 2014 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien erfolgt, das Italien am folgenden Tag akzeptiert habe. Daraufhin sei der Asylantrag abgelehnt und die betroffene Person sei am 21. Januar 2015 nach Italien überstellt worden.
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Am 25. Juli 2016 fragte die Sachbearbeiterin des Bundesamts die Liaisonbeamte des Bundesamts im italienischen Innenministerium per Email an, ob der Klägerin in Italien ein Schutzstatus gewährt worden sei. Die Liaisonbeamte antwortete hierauf mit Email vom 4. August 2016 dahingehend, dass nach Auskunft der italienischen Dublin-Einheit die Klägerin mit Entscheidung vom 19. Mai 2015 Flüchtlingsschutz erhalten habe.
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Daraufhin lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 5. August 2016 den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1) und forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen, andernfalls wurde ihr die Abschiebung, zuvorderst nach Italien angedroht; nach Armenien dürfe sie nicht abgeschoben werden (Ziffer 2). In Ziffer 3 des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, die Unzulässigkeit des Asylantrags ergebe sich aus dem Schutzstatus im sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG). Der Bescheid wurde der Klägerin am 9. August 2016 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Hiergegen ließ die Klägerin mit am 22. August 2016 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenen Schriftsatz ihres Bevollmächtigten die vorliegende Klage erheben.
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Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 26. Januar 2018 das Ruhen des Verfahrens angehordnet. Mit Schreiben vom 21. Juli 2020 beantragte das Bundesamt die Fortsetzung des Verfahrens; seitdem wird das Verfahren unter dem aktuellen Aktenzeichen vom Gericht geführt.
9
Mit Schreiben vom 13. April 2022 hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Asylverfahren nicht zur Zulässigkeit des Asylantrags angehört wurde. Das Bundesamt werde daher gebeten, die Klägerin eine solche Anhörung durchzuführen.
10
Das Bundesamt hat mit Schreiben vom 3. Januar 2023 mitgeteilt, dass die Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 9. Mai 2022 durchgeführt worden sei. Auf deren Grundlage sei eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Rückkehr der Antragstellerin nach Italien nicht anzunehmen.
11
Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 9. Mai 2022 gab die Klägerin an, dass sie ihren ersten Asylantrag in Holland gestellt habe, zuvor sei sie aber in Italien gewesen. In Italien habe sie als Volontärin in einem Altenheim gearbeitet. Sobald sie außerhalb ihrer Arbeit auf die Straße gegangen sei habe es Probleme gegeben. Als Transgender habe sie die LGTBQ-Gesellschaft dort kennenlernen wollen, um sie zu unterstützen. Man habe ihr aber nur ein Seminar gegeben und sei sehr unfreundlich gewesen. Auch die betreuten alten Leute seien sehr homophob gewesen. Sie habe daher Depressionen und Stresszustände bekommen. Sie sei dann zurück nach Armenien. In Armenien habe sie festgestellt, dass ihr Schengenvisum noch einige Zeit gültig gewesen sei und sie sei nach Holland gegangen. Dort habe sie einen Asylantrag gestellt. In Holland habe sie sich wohl gefühlt, dann sei aber die Dublin-Prozedur gekommen. Die Italiener hätten angeblich zugesagt, dass sie die Behandlung übernehmen würden, deswegen sei sie mit der Überstellung nach Italien einverstanden gewesen.
12
In R. sei sie zu einer Stelle, die für Asylsuchende zuständig gewesen sei, gegangen, wo man ihr ein Schreiben gegeben habe. Sie sei mit dem Zug „schwarz“ in die Stadt gefahren, in die sie gesollt habe. Dort habe sie sich in einem Camp gemeldet als es fast Mitternacht gewesen sei. Ihr sei ein Zimmer zugewiesen worden, in dem ca. 25 Afrikaner gewesen seien. Sie sei dann zur Security und habe gesagt, dass sie transsexuell sei. Nur nach Diskussionen habe sie geschafft, in diesem Zimmer einem Platz in der Ecke zu bekommen. Sie sei dort eineinhalb Monate untergebracht gewesen. Dann habe sie gesagt, dass sie in Italien eine Freundin habe, der Leiter des Campus habe aber gesagt, dass es dauern würde, bis sie gemeinsam untergebracht würden. Das Essen in dem Camp sei auch sehr schlecht gewesen, sie habe Magenprobleme bekommen. In Schwulenbüros habe man ihr nicht richtig geholfen, auch in einigen Trans-Büros nicht. Als ihre Freundin zu ihr gezogen sei hätten sie Probleme mit Tunesiern und Marokkanern bekommen. Alle Bewohner des Camps hätten sie nicht gemocht.
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Ihre Freundin habe vor ihr den Status erhalten. Sie habe in Italien große Probleme bekommen, und sei zum Mann geworden. Sie habe auch keine Unterkunft bekommen. Man bekomme in Italien keine Hilfe. Sobald man die Anerkennung bekomme habe man nach 6 oder 7 Stunden Wartezeit einen Pass und müsse dafür auch noch 170 EUR bezahlen. In dem Camp hätten sie kein Geld bekommen, sondern zwei Lyka-Sim-Karten. Sie habe dann ihr Interview gehabt und Psychologen in dem Camp hätten ihr gesagt, dass es besser sei, nach Deutschland zu gehen. Sie hätten gesagt, dass es für Leute wie die Klägerin in Italien keine Hilfe gebe, es sei aber besser, erst die Anerkennung in Italien zu bekommen. Sie habe sich an die Carabinieri gewandt, die sie gewarnt hätten, dass sie sich nicht als Frauen anziehen und schminken sollten. Sie sei dann nach Deutschland geflohen. Ihre Freundin sei noch in Italien gewesen und habe ihre Anerkennung (die der Klägerin) bekommen.
14
Auf Nachfrage gab die Klägerin an, dass sie sich bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien 5 Monate in … aufgehalten habe. Zurück nach Armenien sei sie etwa 2012. Bei ihrem zweiten Aufenthalt in Italien sei sie 6-7 Monate dort gewesen. Die ganze Zeit sei sie in dem Camp gewesen. Den Aufenthaltsstatus habe sie erhalten, als sie bereits außerhalb Italiens gewesen sei. Ihre Freundin habe ihr das mit der Post nachgeschickt.
15
Auf Nachfrage, warum ein Leben in Italien für sie nicht möglich sei gab sie an, dass es dort keine passenden Bedingungen gebe. Es gebe keine Hormontherapie, keine Psychotherapie. Sie hätte keine Arbeit und keine Wohnung gefunden, weil sie vom Aussehen her weder klar männlich noch weiblich sei. Zu der Annahme, dass sie deswegen keine Wohnung und keine Arbeit finden könne sei sie gelangt, weil sie mit ihrer Freundin gelebt habe, als diese Arbeit gesucht habe. Sie habe selbst solche Erfahrungen gemacht, sei auch in G.-Clubs gewesen und sei dort nicht aufgenommen worden. Auf die Frage, ob sie in Italien einen Job gesucht habe gab sie an, dass sie ein Formular für die Arbeitsagentur ausgefüllt habe, sie habe auch angegeben, dass sie einige Sprachen sprechen würde, habe aber nichts bekommen. Eine Wohnung habe sie selbst nicht gesucht, da sie einem Platz in dem Camp gehabt habe. Für ihre Freundin habe sie gesucht, aber sie hätten kein Geld gehabt.
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Auf die Frage nach gesundheitlichen Beschwerden gab sie an, dass sie nach ihrer Ankunft in Deutschland Magenbeschwerden gehabt habe, sie sei einmal ohnmächtig geworden und operiert worden. Sie habe auch Depressionen und weitere psychische Beschwerden. An Medikamenten brauche sie Diane für das Brustwachstum, den Testosteronblocker Androkur, Progesteron-Creme für den ganzen Körper. Die Hormonbehandlung mache sie seit 5 Jahren. Auf die Frage nach Bezugspersonen im Bundesgebiet gab sie an, dass sie einen Lebensgefährten habe, der deutscher Staatsangehöriger sei. Sie wollten heiraten, aber ein genaueres Datum stehe noch nicht fest, weil es Probleme mit der armenischen Botschaft gebe.
17
In dem Vermerk des Bundesamts vom 2. Januar 2023 zur Anhörung führte dieses aus, dass die von der Klägerin geschilderten Hindernisse nicht die Intensität einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte erreichten. Sie beschreibe vor allem alltägliche Schwierigkeiten und Vorurteile ihrer Mitmenschen in Italien gegenüber Transpersonen. Einen ernsthaften Übergriff auf ihre körperliche Unversehrtheit trage sie nicht vor. Hinzu komme, dass die Klägerin seit mehr als 7 Jahren nicht mehr in Italien gewesen sei. Die von ihr kritisierte fehlende Verfügbarkeit einer Hormontherapie stehe seit 2020 kostenlos zur Verfügung. Dies gelte für Personen, bei denen von einem multidisziplinären und spezialisierten Team eine Geschlechtsdysphorie oder Geschlechtsinkongruenz diagnostiziert worden sei. Daneben sei auf der Internetseite infotrans.it, einem Projekt des Nationalen Italienischen Instituts für Gesundheit und der Nationalen Antidiskriminierungsstelle eine Liste von in Italien verfügbaren Psychologen und Psychotherapeuten, die auf diese Thematik spezialisiert seien, vorhanden. Die von der Klägerin dargestellten Bemühungen um einen Arbeitsplatz seien nicht ausreichend gewesen, weitere Anstrengungen wie gezielte Bewerbungen auf offene Stellen habe sie nicht vorgetragen.
18
Die Klägerin beantragt,
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5.8.2016, Az.: … wird aufgehoben.
19
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
20
Zur Begründung bezieht sie sich auf den angefochtenen Bescheid.
21
In der mündlichen Verhandlung vom 1. Dezember 2023 erklärte die Klägerin, dass sie eine Geschlechtsumwandlung anstrebe, sie wolle vollständig zur Frau werden. Sie habe schon 2016 begonnen, auf eigene Kosten Hormone zu sich zu nehmen. Seit nunmehr 8 Monaten befände sie sich in einer Hormontherapie. Wenn alles planmäßig laufe, könne sie nach 2 Jahren eine Geschlechtsoperation machen lassen. Vorgelegt wurde ein ärztliches Attest des Psychiaters …, …, vom 19. Dezember 2022, wonach eine Geschlechtsdysphorie (weibliches Identitätserleben bei männlichem Geburtsgeschlecht – Mann-zu-Frau-Transidentität) vorliege. Ergänzend trug sie vor, dass, wenn sie nach Italien müsste, sie die gesamte Prozedur für die Genehmigung eine Geschlechtsumwandlung noch mal durchmachen müsste mit ungewissem Ausgang. Auf die übrigen Angaben gemäß dem Protokoll der mündlichen Verhandlung wird Bezug genommen.
22
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Bundesamtsakten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 1. Dezember 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

23
Die Klage ist zulässig und begründet.
24
1. Die Klage ist zulässig.
25
Die Klage ist als Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 5. August 2016 statthaft. Dieser enthält in seiner Ziffer 1 die Ablehnung des von der Klägerin in Deutschland gestellten Asylantrags als unzulässig. Dessen Rechtsgrundlage war bei Bescheidserlass ausweislich der Bescheidsbegründung aufgrund der damaligen Rechtslage zwar auf § 26 AsylG, wäre im nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aber auf die zwischenzeitlich in Kraft getretene Rechtsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu stützen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U. v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris LS und Rn. 10 m.w.N.), der das Gericht folgt, ist gegen Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Anfechtungsklage die statthafte Klageart. Bei Erfolg der Anfechtungsklage wird der die Unzulässigkeit des Asylantrags feststellende Bescheid vollständig aufgehoben und das Asylverfahren fortgeführt.
26
Die Klage wurde innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 AsylG erhoben und ist auch im Übrigen zulässig.
27
2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 5. August 2016 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, sodass er aufzuheben war.
28
a) Zwar steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Inhalts der Bundesamtsakte und den diese bestätigenden Angaben der Klägerin fest, dass ihr in Italien mit Entscheidung vom 6. oder 19. Mai 2015 der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. In der mündlichen Verhandlung legte die Klägerin dem Gericht ein von der Territorialkommission für die Anerkennung international Schutzberechtigter von R. ausgestelltes Dokument vor, wonach der Klägerin am 6. Mai 2015 der Status eines Flüchtlings zuerkannt wurde. Demgegenüber hatte die damalige Liaisonbeamte des Bundesamts beim italienischen Innenministerium dem Bundesamt im Verwaltungsverfahren die Auskunft gegeben, dass die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus am 19. Mai 2015 erfolgt sei. Worauf diese unterschiedliche Terminangabe beruht kann letztlich dahingestellt bleiben, da die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus im Mai 2016 zwischen den Beteiligten unstreitig ist.
29
Damit liegen an sich die Voraussetzungen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig vor.
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b) Einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht im Falle der Klägerin jedoch entgegen, dass ihr bei einer Überstellung nach Italien dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK droht.
31
aa) Durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wird Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) in nationales Recht umgesetzt (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 30). Hierbei wird in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt, einen Asylantrag aufgrund einer internationalen Schutzgewährung in einem anderweitigen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen.
32
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann auch bei der bereits erfolgten Gewährung internationalen Schutzes die Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed – u.a., C-540/17 u.a. – juris; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris). Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, welche ihn als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, den Kläger der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. des insoweit inhaltlich gleichen Art. 3 EMRK zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der Befugnis aus Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15 unter Verweis auf EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – Rn. 35 und U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – Rn. 88). Somit sollen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung Berücksichtigung finden, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 15).
33
Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 – Anerkennungsrichtlinie) – gerecht werden, führt dabei angesichts des fundamentalen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C- 540/17 u.a. – juris Rn. 36; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16, 17).
34
Denn jeder Mitgliedstaat darf grundsätzlich davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16). Auch wenn der Schutzberechtigte in dem Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und ohne der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, kann vermutet werden, dass das Unionrecht durch den betreffenden Mitgliedstaat beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16).
35
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat das gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt und dadurch der betroffene Antragsteller tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17). Dass sich ein anderer Mitgliedstaat in diesem Falle nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU berufen darf, folgt aus dem absoluten Charakter des Verbotes in Art. 4 GRCh, wonach ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob eine solche Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17).
36
Bereits aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung „Ibrahim“ vom 19. März 2019 ergibt sich, dass Mängel des Asylsystems nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen können, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 34). Diese Schwelle soll erst dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39). Selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person ist die Schwelle nicht erreicht, wenn diese Verhältnisse nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass diese einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 91; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39).
37
In jedem Fall muss nach den dargestellten Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs ein „real risk“ der Verletzung von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK bestehen, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 26 m.w.N.).
38
bb) Von anerkannt Schutzberechtigten wird in Italien ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit verlangt. Grundsätzlich sind anerkannt Schutzberechtigte dort italienischen Staatsbürgern gleichgestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21). Dementsprechend wird im Rahmen des italienischen Systems bezüglich anerkannter internationaler Schutzberechtigter angenommen, dass man ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten und für sich selbst sorgen kann (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21f.).
39
Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 27.7.2023, S. 14). Sie können nach Italien einreisen und sich frei im Land bewegen, erhalten jedoch bei einer Rückkehr nach Italien keine Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, bei der Erneuerung verlorengegangener Papiere oder bei der Erneuerung der Registrierung im nationalen Gesundheitssystem (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 49).
40
Sofern eine Person in Italien einen internationalen Schutzstatus erhalten hat, ist sie nicht mehr berechtigt, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder CAS zu bleiben, sondern hat grundsätzlich Zugang zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI (Sistema di accoglienza e integrazione – Aufnahme und Integrations-System), vormals SIPROIMI), die von lokalen Behörden zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben werden, und dementsprechend Anspruch auf Unterkunft und Versorgung (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 235 f.). Da die Plätze in den Zweitaufnahmeeinrichtungen knapp sind, entsteht in der Praxis eine Schutzlücke (AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 213). Das System der Zweitaufnahmeeinrichtungen in Italien besteht dabei aus 934 kleineren Projekten mit einer Gesamtkapazität von derzeit 43.923 Unterbringungsplätzen (Stand Februar 2023, vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236; gegenüber 35.898 Unterbringungsplätzen im April 2022, vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 214). In diesen Aufnahmeprojekten werden insgesamt 6.299 Unterbringungsplätze für unbegleitete Minderjährige und 803 Plätze für psychisch erkrankte oder körperlich behinderte Personen vorgesehen (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236). Im Jahr 2021 waren 42.464 Schutzberechtigte in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236).
41
Die Aufenthaltsdauer in den Zweitaufnahmeeinrichtungen ist begrenzt und beträgt sechs Monate. Sie kann nach der Verordnung des italienischen Innenministeriums vom 18. November 2019 in Ausnahmefällen um weitere sechs Monate verlängert werden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.9.2020, S. 7). Solche Ausnahmefälle bestehen etwa, wenn eine Verlängerung des Aufenthalts für die Integration unerlässlich ist, wenn außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme vorliegen oder im Falle von besonderer Vulnerabilität (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 55). Zu diesen vulnerablen Gruppen zählen beispielsweise Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, schwangere Frauen, Opfer von Menschenhandel oder auch Menschen, die unter ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen leiden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.9.2020, S. 7).
42
Nach Ablauf des Unterbringungszeitraums wird keine staatliche Anschlusslösung zur Unterbringung bereitgestellt, es gibt jedoch begrenzte Unterkunftsmöglichkeiten der Gemeinden oder, nach Ablauf einer teilweise über fünfjährigen Wartezeit, auch Sozialwohnungen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2 f.). Weitere Kriterien, die von einigen Regionen für die Zuweisung einer Sozialwohnung verlangt werden, sind etwa das mehrjährige Bestehen eines Wohnsitzes oder mehrjährige Erwerbstätigkeit in der Gemeinde, in der der Antrag gestellt wird (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 218). Auch Notschlafunterkünfte werden durch die Gemeinden angeboten, die in der Nacht geöffnet sind und morgens wieder verlassen werden müssen und zu denen sowohl italienische Bedürftige als auch anerkannt Schutzberechtigte Zugang haben (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2). Nur die Wohnsitzgemeinde ist verpflichtet, Unterstützungsleistungen für Obdachlose zu erbringen. Die Anzahl der Plätze in den Notunterkünften hat sich im Zuge der COVID-19-Pandemie halbiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass rücküberstellte Schutzberechtigte ohne Unterkunft bleiben, wird von der Nichtregierungsorganisation Schweizer Flüchtlingshilfe als sehr hoch bezeichnet (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21). Laut Auskunft des italienischen Flüchtlingsrats CIR dagegen ist es unwahrscheinlich, dass rückkehrende anerkannte Schutzberechtigte unmittelbar nach der Ankunft keine Unterkunft bzw. keine Informationen über eine temporäre Unterkunft erhalten (Gemeinsamer Bericht des AA, des BMI und des BAMF zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, S. 12).
43
Daneben gibt es auch regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nicht von staatlicher Seite, sondern von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht auf Langfristigkeit ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem im Winter geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. Diese Einrichtungen haben nur wenige Plätze zur Verfügung, die die Nachfrage nach Unterbringung derer, die auf der Straße leben müssen, nicht decken. Die Plätze unterliegen zudem einem Rotationssystem und sind nur für kurze Zeit nutzbar, damit möglichst viele Menschen für einige Tage dort unterkommen können. Neben der Rotation müssen die Zentren tagsüber verlassen werden und es gibt keine Möglichkeit, ein geregeltes Leben zu führen (SFH, Situation von aus dem Ausland zurückkehrenden Schutzberechtigten, 29.04.2022, S. 4 f.).
44
Hilfsorganisationen, Kirchen und private Initiativen versuchen darüber hinaus auch andere Defizite des staatlichen Systems zu kompensieren, indem sie in begrenztem Umfang Wohnmöglichkeiten bereitstellen, Essen insbesondere an Obdachlose verteilen, Italienischkurse anbieten oder ambulante medizinische Versorgung bereitstellen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 7).
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Da international Schutzberechtigte italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt sind, haben sie in gleichem Maße wie diese Zugang zum italienischen Gesundheitssystem (AIDA Country Report: Italy, 2022 Update, S. 243; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 27.7.2023, S. 13). Im Zuge der Registrierung wird eine europäische Gesundheitskarte (tessera europea di assicurazione malattia, auch oft bezeichnet als tessera sanitaria) ausgestellt. Die Registrierung berechtigt zu folgenden Leistungen: freie Wahl einer haus- bzw. kinderärztlichen Praxis (kostenlose Arzttermine, Hausbesuche, Rezepte, usw.); Geburtshilfe und gynäkologische Betreuung bei der Familienberatung (consultorio familiare) ohne allgemeinärztliche Überweisung; kostenlose Aufenthalte in öffentlichen Krankenhäusern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16). In der Praxis kann es jedoch zu Verzögerungen kommen, sei es wegen der in einigen Quästuren notwendigen Zuteilung eines Steuer-Codes („codice fiscale“), die manchmal einige Zeit dauert, oder deswegen, weil Voraussetzung für die Registrierung grundsätzlich eine Wohnsitzmeldung ist (domicilio), die anerkannt Schutzberechtigte häufig wegen Obdachlosigkeit nicht nachweisen können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16 f.; SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, 29.10.2020, S. 4). Fiktive Adressen und Adressen von Nichtregierungsorganisationen werden nicht überall akzeptiert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 17). Bis zur Registrierung besteht nur Zugang zu medizinischen Basisleistungen wie etwa einer Notfallversorgung nach Artikel 35 des Einwanderungsgesetzes (TUI) (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16).
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Des Weiteren haben anerkannte Flüchtlinge oder Personen mit subsidiärem Schutz in Italien Zugang zum Arbeitsmarkt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 27.7.2023, S.15). Die Suche nach Beschäftigung gestaltet sich aber aufgrund der relativ hohen Arbeitslosigkeit in Italien und in Ermangelung entsprechender Sprachkenntnisse oder Qualifikationen häufig schwierig (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21). Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hatte sich im Zuge der Corona-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage 2020 und 2021 zusätzlich verschärft. Viele Personen mit Schutzstatus, die eine Arbeit gefunden hatten, haben diese dadurch verloren (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21 f.). Viele Asylsuchende und Schutzberechtigte versuchen, auf dem Schwarzmarkt Arbeit zu finden, insbesondere in der Pflege, der Hausarbeit und der Landwirtschaft (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, 29.10.2020, S. 5), wo sie vulnerabel für Ausbeutung sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand: 1.7.2022, S. 21). Die italienische Wirtschaft hat sich allerdings seit Ende der Corona-Pandemie positiv entwickelt, sodass nunmehr eine günstigere Arbeitsmarktsituation vorzufinden ist als zu Zeiten der Pandemie (OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 73 m.w.N.).
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Für Personen mit geringem Einkommen wurde im März 2019 das sogenannte Bürgergeld eingeführt, dessen Beantragung auch Personen mit internationalem Schutz offensteht. Die Gewährung von Bürgergeld setzt jedoch voraus, dass die Person die letzten zehn Jahre in Italien wohnhaft war (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21 f.). Diese Voraussetzung erfüllen anerkannte Schutzberechtigte in der Regel nicht.
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Für transsexuelle Menschen ist eine Hormontherapie zur Vorbereitung geschlechtsangleichender Operationen seit 2020 verfügbar und wird vom nationalen Gesundheitsdienst Italiens bezahlt. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass von einem multidisziplinären und spezialisierten Team eine Geschlechtsdysphorie oder Geschlechtsinkongruenz diagnostiziert wurde (https://www.lifegate.it/terapia-ormonale-persone-transessuali (zuletzt abgerufen am 13.2.2024)) . Auf der Seite infotrans.it, einem Projekt des nationalen italienischen Instituts für Gesundheit und der nationalen Antidiskriminierungsstelle ist eine Liste von in Italien verfügbaren Psychologen und Psychotherapeuten, die auf diese Thematik spezialisiert ist verfügbar (https://www.infotrans.it/en-schede-57-mapping_section_transgender_italy, zuletzt abgerufen am 13.2.2024).
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cc) Im konkreten Falle der Klägerin ist zunächst zu berücksichtigen, dass sie transsexuell ist, d.h. dass bei ihr das biologische Geschlecht und das wahrgenommene Geschlecht nicht kongruent sind. Ausweislich des in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Attests des Psychiaters … vom 19. Dezember 2022 liegt bei ihr eine Geschlechtsdysphorie (ICD-10 F64.0) gesichert vor. Das Gericht sieht keinen Grund dafür, an dieser Diagnose zu zweifeln: einerseits wird in dem vorgelegten Attest vom ausstellenden Psychiater eine Kenntnis des Falls der Klägerin von der erstmaligen Vorstellung am 20. Juli 2016 bis zum 19. Dezember 2022, dem Tag der Ausstellung des Attestes, und damit über einen mehrjährigen Zeitraum, der eine gesicherte Diagnose gewährleistet, dargelegt. Daneben deckt sich die Diagnose mit dem bisherigen Vortrag der Klägerin im Verfahren bei dem Bundesamt und im gerichtlichen Klageverfahren. Schließlich konnte sich der Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung auch davon überzeugen, dass die Klägerin von ihrer äußeren Erscheinung her eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist, während sie (seit Asylantragstellung) noch einen männlichen Namen führt.
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Daher ist die Klägerin als besonders verletzlich, als vulnerabel anzusehen. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (vgl. B.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – juris Rn. 24) der Fall, wenn die fragliche Person gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweist und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen kann und wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not gerät. Die besondere Verletzlichkeit ergibt sich bei der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) aus ihrer Transsexualität und der mit einer Hormontherapie begonnenen Geschlechtsumwandlung hin zum weiblichen Geschlecht, die bis zum Abschluss der Geschlechtsumwandlung die Fortsetzung dieser Behandlung erforderlich macht und sie während dieser Zeit in besonderem Maße empfindlich gegenüber widrigen Umständen macht.
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Die Klägerin befindet sich derzeit in einer laufenden Hormontherapie. Nach der dargestellten Auskunftslage besteht in Italien zwar grundsätzlich die Möglichkeit für transsexuelle Menschen, eine Hormontherapie zur Vorbereitung einer geschlechtsangleichenden Operation unter Kostenübernahme durch den italienischen Nationalen Gesundheitsdienst durchführen zu lassen. Voraussetzung hierfür ist jedoch eine von einem multidisziplinären und spezialisierten Team erstellte Diagnose einer Geschlechtsdysphorie oder Geschlechtsinkongruenz (s.o.). Dies würde im Falle der Klägerin bedeuten, dass in Italien erneut eine entsprechende Diagnose gestellt und anschließend die Kostenübernahme durch den Nationalen Gesundheitsdienst abgeklärt werden müsste. Hierzu müsste die Klägerin zunächst ihre Registrierung beim Nationalen Gesundheitsdienst erneuern, in Kontakt mit einem auf diesem Gebiet tätigen Psychologen oder Psychotherapeuten treten und einen Termin bekommen und eine entspr. Diagnose müsste erstellt werden. Insoweit besteht für die Klägerin im Sinne der oben dargestellten Definition der besonderen Verletzlichkeit im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein höherer Versorgungsbedarf als bei anderen erwachsenen Personen.
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Die Beschaffung der notwendigen ärztlichen Unterlagen in Italien zur Fortsetzung der Hormontherapie würde in jedem Fall, insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Italien nicht mehr über eine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügt (s.u.), eine gewisse Zeit lang dauern, in der die bereits begonnene Hormontherapie unterbrochen wäre. Ein Rückgriff auf die in Deutschland erstellten Unterlagen erscheint einerseits wegen der Sprachbarriere und andererseits auch deswegen nicht möglich, weil es sich bei den Urhebern dieser Unterlagen nicht um vom italienischen Nationalen Gesundheitsdienst anerkannte Psychologen oder Psychotherapeuten handelt. Zur Überbrückung dieses Zeitraums wäre zwar eine Einnahme von selbst beschafften Hormonen denkbar: Insoweit stellt sich aber die Frage, ob die Klägerin in Italien über die notwendigen Mittel hierfür verfügen würde. Angesichts der allgemeinen Probleme bei der Arbeitsbeschaffung, die im Falle der Klägerin durch ihre Transidentität noch verstärkt werden (s.u.) hält das Gericht diese Möglichkeit für sehr unwahrscheinlich. Da die Klägerin auch in Deutschland nach Ihrer glaubwürdigen Bekundung derzeit nicht arbeitet ist sie auch nicht in der Lage, die notwendigen Mittel in Deutschland anzusparen. Daher besteht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Überstellung der Klägerin nach Italien die Gefahr eines erzwungenen Abbruchs der bereits begonnenen Hormontherapie und damit die Gefahr einer Revision der bereits begonnenen Geschlechtsangleichung.
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Es steht daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass nach einer Überstellung nach Italien bei der Klägerin wieder verstärkt männliche Geschlechtsmerkmale hervortreten werden, die neben die inzwischen stark ausgebildeten weiblichen Geschlechtsmerkmale und das eindeutig weibliche Auftreten der Klägerin treten werden. Sie würde daher nach Aussehen und Auftreten nicht der Norm entsprechen.
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Die der Klägerin im Mai 2015 erteilte Aufenthaltserlaubnis für 5 Jahre (s.o.), die ihr nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung über ihre in Italien verbliebene Freundin übermittelt wurde, ist inzwischen seit mehr als 3 Jahren abgelaufen. Sie müsste daher zunächst eine Verlängerung bzw. Neuausstellung beantragen und erhalten, was nach der Auskunftslage grundsätzlich möglich ist, da keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihr Schutzstatus inzwischen widerrufen wurde (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 216; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Italien, Stand: 27.7.2023, S. 14). Aufgrund des weiterhin bestehenden Schutzstatus, den sie durch das in der mündlichen Verhandlung vorgezeigte Dokument der Territorialkommission für die Anerkennung international Schutzberechtigter von R. auch nachweisen könnte, wäre sie in Italien auch aufenthaltsberechtigt, allerdings bestehen bis zur Neuausstellung der Aufenthaltserlaubnis bei Behördengängen und etwaigen Kontrollen durch die Polizei Probleme, die auf Aufenthaltsberechtigung nachzuweisen.
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Die Aufnahme in eine Zweitaufnahmeeinrichtung (SAI) für Anerkannte Schutzberechtigte ist für die Klägerin nach der Überzeugung des Gerichts nicht zu erreichen. Die Klägerin war nach ihren konsistenten Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, die in Übereinstimmung mit ihren Angaben beim Bundesamt waren, bislang zwar noch nicht in einer derartigen Zweitaufnahmeeinrichtung untergebracht. Vielmehr ist sie unmittelbar nach der Schutzzuerkennung nach Deutschland ausgereist. Ihre Aufnahme in eine Zweitaufnahmeeinrichtung ist, auch wenn ein derartiger Anspruch auf dem Papier noch bestehen würde aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit für die Klägerin nicht durchsetzbar: Insoweit ist einerseits zu berücksichtigen, dass die Plätze in Zweitaufnahmeeinrichtungen selten und begehrt sind (s.o.). Daneben ist seit der Schutzzuerkennung inzwischen eine lange Zeit, fast 8 Jahre, verstrichen. Schließlich kann die Aufnahme in einer Zweitaufnahmeeinrichtung nicht durch die Klägerin selbst beantragt werden, vielmehr ist eine Zuteilung eines solchen Platzes nur zentral durch den Servicio Centrale möglich, Anträge können insoweit nur das Innenministerium oder die zuständige Präfektur, in Einzelfällen auch Rechtsanwälte stellen (SFH, Anfragebeantwortung v. 29.4.2022 an das VG Karlsruhe, S. 3). Es gibt jedoch keine Warteliste, auch wenn einer Person Zugang zu einer Zweitaufnahmeeinrichtung dem Grunde nach gewährt wird, tatsächlich aber gerade kein Platz frei ist, muss einen Monat später ein neuer Antrag gestellt werden (SFH, Anfragebeantwortung v. 29.10.2020 an den HessVGH).
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund der oben festgesellten Vulnerabilität der Klägerin als transsexuelle Person. Nach italienischen Recht werden als vulnerabel Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, schwangere Frauen, alleinstehende Eltern mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, behinderte und ältere Leute, Personen, die ernste Krankheiten oder psychische Störungen aufweisen, Personen, die nachweislich Folter, Vergewaltigung oder andere ernst zu nehmende Formen von psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben sowie Opfer von Genitalverstümmelung angesehen (AIDA Country Report: Italy, 2022 Update, S. 93). Transsexuelle Personen sind in diesem Katalog nicht enthalten. Aber auch wenn es der Klägerin gelingen würde, aufgrund ihrer besonderen Situation von den italienischen Behörden als vulnerabel eingestuft zu werden, würde dies keine gesicherte Aufnahme in das SAI-System bedeuten, da dieses keine Plätze für vulnerable Personen neben den ohnehin bestehenden Plätzen bereithält (vgl. AIDA Country Report: Italy, 2022 Update, S. 235f).
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Die Klägerin müsste daher aller Voraussicht nach selbst für ihre Unterkunft in Italien sorgen. Da sie derzeit in Deutschland nach ihren eigenen Angaben nicht arbeitet kann sie für die Beschaffung von Wohnraum nicht auf in Deutschland geschaffene Rücklagen zurückgreifen. Daneben ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin als transsexuelle Person, insbesondere, wenn wie beachtlich wahrscheinlich im Anschluss an die Rücküberstellung nach Italien eine Remaskulinisierung aufgrund ausbleibender Hormongabe droht, Vorbehalten der italienischen Bevölkerung ausgesetzt ist. Es ist daher nicht zu erwarten, dass es ihr unter diesen Rahmenbedingungen gelingen würde, eine Wohnung anzumieten.
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Eine Arbeitsaufnahme der Klägerin in Italien, um sich die notwendigen Mittel zur Deckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse zu beschaffen, ist ebenfalls nicht erfolgversprechend. Wegen ihrer besonderen persönlichen Situation wird sie bei der Arbeitssuche besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt sein. Schwere körperliche Arbeit als Tagelöhner oder auf dem Bau wird für sie nicht erreichbar sein, da sie schon aufgrund ihres weiblichen Erscheinungsbildes für Arbeitgeber nicht in Frage kommen wird. Eine Arbeitsaufnahme als Haushaltshilfe wird ebenfalls schwer möglich sein, da aufgrund der ausbleibenden Hormongabe verstärkt männliche Merkmale bei der Klägerin auftreten werden. Eine Unterstützung durch Selbsthilfeorganisationen der transsexuellen Community in Italien ist ebenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgversprechend, da die Klägerin die italienische Sprache nicht beherrscht. Auch wenn, worauf die Beklagte im Vermerk vom 2. Januar 2023 zutreffend hingewiesen hat, seit ihrem ersten Aufenthalt in Italien eine lange Zeit vergangen ist, zeigte ihre Kontaktaufnahme damals mit derartigen Organisationen, dass eine Hilfegewährung für transsexuelle anerkannte Schutzberechtigte aufgrund der eigenen Situation der italienischen Transsexuellen deren Möglichkeiten übersteigt.
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Vor diesem Hintergrund ist die vom Bevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung geäußerte Befürchtung, dass für die Klägerin bei einem Aufenthalt in Italien die einzige Möglichkeit zum Broterwerb die Straßenprostitution sei, nicht von der Hand zu weisen. Dies ist ihr jedoch gegen ihren Willen nicht zumutbar.
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Daher droht ihr mangels von staatlicher Seite bereitgestellter oder aus eigenen Mitteln finanzierbarer Unterkünfte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Italien die Obdachlosigkeit. Zwar existieren nach der Auskunftslage in Italien, insbesondere in größeren Städten auch Notschlafstellen, die tagsüber geräumt werden müssen. Aufgrund ihrer Vulnerabilität als transsexuelle Person während einer laufenden bzw. begonnenen und wieder abgebrochenen Hormontherapie ist ihr die Inanspruchnahme dieser Notschlafstellen aber nicht zumutbar: Wegen ihres Erscheinungsbildes droht ihr in derartigen Notschlafstellen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine Diskriminierung durch die anderen Obdachlosen dort. Ähnliche Verhaltensweisen hat die Klägerin bereits während ihres Aufenthalts in der Erstaufnahmeeinrichtung in Italien erlebt. Insbesondere aufgrund der wegen des Ausbleibens weiterer Hormongaben drohenden zunehmenden Ausprägung männlicher Geschlechtsmerkmale wird sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Anfeindungen ausgesetzt sein. Daneben besteht auch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Klägerin, bei einem Leben auf der Straße als (erkennbare) Transperson Opfer von Gewalttaten und anderen Verbrechen zu werden.
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Vor diesem Hintergrund ist es zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Überstellung nach Italien dort nicht in der Lage wäre, durch Arbeitsaufnahme die notwendigen Mittel zur Deckung ihrer grundlegenden Bedürfnisse zu erwirtschaften. Sie wird aller Voraussicht nach nicht in der Lage sein, das notwendige Geld für eine Unterkunft, Lebensmittel und grundlegende hygienische Artikel zu erwirtschaften. Von staatlicher oder dritter Seite wird ihr keine zumutbare Unterkunft bereitgestellt werden. Hilfestellung durch caritative Organisationen wird dieses Defizit nicht kompensieren können, da eine Arbeitsaufnahme der Klägerin, sei es auch nur zu einem geringem Teil, wie es für die Arbeit eines Tagelöhners auf dem Bau oder in der Landwirtschaft typisch ist, aufgrund ihrer besonderen Situation wie dargestellt nicht möglich sein wird. Für staatliche Sozialleistungen wie das Bürgergeld erfüllt die Klägerin nicht die Anspruchsvoraussetzungen. Damit droht ihr bei einer Überstellung nach Italien nach dem oben dargestellten Maßstab des Europäischen Gerichtshofs eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK. Sie würde als vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, die es ihr nicht erlauben würde, ihre elementarsten Bedürfnisse insbesondere nach einer Wohnung und Lebensmitteln zu befriedigen.
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Die in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als unzulässig ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Nebenentscheidungen in den Ziffern 2 und 3, die eine Unzulässigkeitsentscheidung voraussetzen, waren nach alledem ebenfalls aufzuheben, denn sie sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.