Titel:
Vorerst keine Beendigung der Inobhutnahme einer ausländischen unbegleiteten Person unbekannten Alters
Normenketten:
VwGO § 62 Abs. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5 S. 1, S. 3
SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 42a Abs. 1, § 42f
SGB X § 41 Abs. 1 Nr. 3, § 45
SGB I § 24 Abs. 1, § 36 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Bei unterstellter Minderjährigkeit des Antragstellers folgt seine Prozessfähigkeit für ein Verfahren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen die Beendigung seiner Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 36 Abs. 1 S. 1 SGB I, wonach derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen kann, der das 15. Lebensjahr vollendet hat. (Rn. 31 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Inobhutnahme einer ausländischen unbegleiteten Person steht der Erhalt von Vergünstigungen wie die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie und damit der Leistungsgedanke im Vordergrund, so dass die Rücknahme einer Inobhutnahme nach § 45 SGB X zu beurteilen ist. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Zuweisungsjugendamt ist an einer erneuten Feststellung zur Minderjährigkeit gehindert, wenn kein konkreter Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der vom Aufgriffsjugendamt durchgeführten Altersfeststellung besteht. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
4. Im Falle der Verneinung der Minderjährigkeit in Abweichung von einer zuvor ordnungsgemäß nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII durchgeführten Alterseinschätzung muss unzweifelhaft feststehen, dass die in Obhut genommene Person nicht minderjährig ist, die frühere Alterseinschätzung also unmöglich richtig sein kann (hier verneint). (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Inobhutnahme einer ausländischen unbegleiteten Person, die angibt, minderjährig zu sein, Altersfeststellung, Anhörung, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme, Kein eigenständiger Antrag auf Aufhebung der Vollziehung, Prozessfähigkeit, Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, Abweichende behördliche Alterseinschätzungen, Inobhutnahme, ausländisch, unbegleitet, Minderjährigkeit, Rücknahme, Rechtswidrigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 42844
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 8. November 2023 (Az. W 3 K 23.1545) gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 31. Oktober 2023 wird angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehung der Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Antragsgegner.
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Der Antragsteller ist nach seinen eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger und am 1. Januar 2007 geboren. Nach seinen Angaben reiste er im Jahr 2021 von Afghanistan zunächst in den Iran, wo er sich vier Monate lang aufgehalten habe. Anschließend habe er sich über ein Jahr in der Türkei aufgehalten und sei schließlich über Serbien, Bosnien, Kroatien, Slowenien, Italien und die Schweiz am 4. September 2023 nach Deutschland eingereist.
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Am 4. September 2023 wurde der Antragsteller von der Bundespolizei in N. aufgegriffen und seine Personalien mit dem Namen „E. N.“ sowie dem Geburtsdatum … … 2007 aufgenommen. Diese Personenangaben meldete die Bundespolizei am 5. September 2023 zum Ausländerzentralregister (AZR).
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Am 5. September 2023 nahm das Jugendamt der Stadt N. den Antragsteller gestützt auf § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut und führte am 8. September 2023 ein Erstscreening durch. In dessen Rahmen erfolgte eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch zwei Fachkräfte des Jugendamts. Dabei gab der Antragsteller an, seine Tazkira, ein afghanisches Ausweisdokument, in Bulgarien verloren zu haben. Ein entfernter Verwandter lebe in Frankfurt am Main. Zu diesem wolle er gemeinsam mit S., einem Cousin seines Vaters, mit dem er ab dem Iran eine Fluchtgemeinschaft gebildet habe. S. ist ausweislich des Erstscreeningprotokolls Jugendlicher.
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In seinem Erstscreeninggespräch gab der Antragsteller ferner an, er habe aufgrund der Erkrankung seines Vaters Verantwortung für die Familie übernehmen müssen. Er habe bei seinem Großvater in der Landwirtschaft gearbeitet und sei nie zur Schule gegangen. Er sei kognitiv „noch nicht angekommen“. Er könne manche Zusammenhänge (vor allem der Flucht) nicht zuordnen und sei innerlich noch „verwirrt“.
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Zum äußeren Erscheinungsbild des Antragstellers und seinem Verhalten wird im Protokoll des Erstscreenings u.a. Folgendes festgehalten:
„Jugendliche, schmächtige Statur und Körpergröße, sichtbare Akne Narben, weiche Gesichtszüge, ausgeprägter Bartwuchs, Anstrengungen der Flucht sind im Gesicht zu erkennen (einige Falten) […] Verhalten und Auftreten eher kindlich, aber zugewandt und offen im Gespräch“.
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Sowohl im Protokoll des Erstscreenings vom 8. September 2023 als auch in der Bestätigung der Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII vom 6. September 2023 legte das Jugendamt der Stadt N. das Geburtsdatum … … 2007 zugrunde. Zudem wurde im Rahmen des Erstscreenings der Nachname des Antragstellers von „N.“ zu „K.“ geändert.
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Aufgrund der durchgeführten qualifizierten Inaugenscheinnahme ging das Jugendamt der Stadt N. davon aus, dass keine Zweifel an der Minderjährigkeit des Antragstellers bestünden, und meldete den Antragsteller zur bundesweiten Verteilung an.
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Mit Bescheid vom 13. September 2023 wies der Beauftragte des Freistaates B. für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge (LABEA) den Antragsteller dem Jugendamt des Landratsamts M1.-S1. zu.
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Mit „Bestätigung der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII“ vom 25. September 2023 teilte das Jugendamt des Landratsamts M1.-S1. dem internen Fachdienst UMA mit, dass für den Antragsteller ab dem 9. Oktober 2023 die Kosten der Inobhutnahme im Rahmen der Jugendhilfe übernommen würden; dies umfasse die Unterbringung in der Notunterkunft für Geflüchtete in Ma.
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Am 9. Oktober 2023 brachte der Antragsgegner den Antragsteller in der Notunterkunft für Geflüchtete, …straße … in … … unter.
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Mit Schriftsatz vom 19. Oktober 2023 beantragte der Antragsgegner beim Amtsgericht Gemünden – Familiengericht – das Ruhen der elterlichen Sorge gemäß § 1674 BGB und die Bestellung eines Vormunds für den Antragsteller. Dem Antrag war ein aktuelles Lichtbild des Antragstellers vom 9. Oktober 2023 beigefügt, dies – so der Antragsgegner – aus Plausibilitätsgründen. Mit weiterem Schriftsatz an das Familiengericht vom 20. Oktober 2023 nahm der Antragsgegner den Antrag wieder zurück. Zur Begründung führte er aus, es sei zu Verwechslungen gekommen. Die Reife zum Antrag auf Einrichtung einer Vormundschaft sei noch nicht erreicht. Es hätten weder Erstgespräche noch sonstige vorbereitende Maßnahmen stattgefunden, die einen Antrag auf Einrichtung einer Vormundschaft rechtfertigen würden.
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Am 26. Oktober 2023 erfolgte ein Gespräch zweier pädagogischer Mitarbeiterinnen des Jugendamts M1.-S1. mit dem Antragsteller zur Alterseinschätzung. Im Gesprächsprotokoll heißt es, der Antragsteller sei dem Jugendamt M1.-S1. am 26. Oktober 2023 gemeldet worden. In dem Gespräch hörte der Antragsgegner den Antragsteller ausweislich des Gesprächsprotokolls insbesondere zu seinen Personalien, seinen Familienverhältnissen, seinen Fluchtgründen und der Fluchtroute an. Unter den Angaben zu den Familienverhältnissen ist maschinenschriftlich zur Anzahl der Geschwister festgehalten: „6 Geschwister“ und zu deren Alter „10-15 Jahre“. Handschriftlich ist daneben festgehalten worden: „abweichende Angaben zu Aussagen beim abgebenden Jugendamt“. Angaben zum äußeren Erscheinungsbild und dem Verhalten des Antragstellers lassen sich dem Protokoll nicht entnehmen. Auf der letzten Seite wird unter „Bewertung und Entscheidung“ sodann Folgendes ausgeführt:
„Bestehendes Geburtsdatum: …2007
Festgesetztes Geburtsdatum: …2005“.
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Weiter heißt es in dem Protokoll, aus den vorstehenden skizzierten Wahrnehmungen, Angaben und Verhaltensweisen werde geschlossen, dass Volljährigkeit vorliege. Der Antragsteller werde nicht in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte Inobhutnahme werde umgehend beendet.
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Neben dem Gesprächsprotokoll enthält die Behördenakte je eine sozialpädagogische Einschätzung vom 26. Oktober 2023 von den beiden Mitarbeiterinnen, die das Gespräch mit dem Antragsteller führten. In der Einschätzung der Mitarbeiterin H. werden jeweils als äußere Merkmale, die auf Volljährigkeit hinwiesen, festgehalten: „Stirnfalte“, „Bartwuchs: trotz frischer Rasur sichtbar“ und „Körperbehaarung, auch deutliche Brustbehaarung sichtbar“. Als „Hinweise/Widersprüche, die auf Volljährigkeit hinweisen“ werden das Alter der Eltern/Geschwister und der Fluchtweg und -zeiten festgehalten, was im Abschnitt „Gesamteindruck“ dahingehend konkretisiert wird, dass der Antragsteller angegeben habe, dass ihm die Tazkira in Bulgarien abgenommen worden sei, während er zuvor behauptet habe, dass er sie in Bulgarien verloren habe. Nunmehr gebe er eine Fluchtdauer von zwei Jahren an, in der vorherigen Befragung habe er hingegen anderthalb Jahre angegeben. Jetzt gebe er an, seine jüngste Schwester sei zwei Jahre alt, zuvor habe er angegeben, das jüngste Geschwisterkind sei zehn Jahre alt. Zudem sei zu Beginn des Gesprächs eine starke Anspannung und Nervosität erkennbar gewesen. Nach den Angaben des Antragstellers zum Alter der Eltern wäre die Mutter bei der Geburt des Kindes schon Ende 20 und bei der Geburt des letzten Kindes über 40 Jahre alt gewesen, obwohl das Median-Geburtsalter bei 19,9 Jahren liege. Optisch weise der Antragsteller bereits ausgeprägte Falten im Gesicht, vor allem an den Augen, am Hals, deutlichen Bartwuchs trotz Rasur und Behaarung an der Brust auf, die trotz Shirts sichtbar sei. In der Einschätzung der Mitarbeiterin Amthor wird ebenfalls festgehalten, dass der Antragsteller ein deutlich volljähriges äußeres Erscheinungsbild aufweise. Die Geburtsdaten des Antragstellers, seiner Geschwister und seiner Eltern deuteten auf falsche Angaben hin.
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Mit Änderungsmitteilung vom 31. Oktober 2023 teilte der Antragsgegner dem Beauftragten des Freistaates B. für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge und unerlaubt eingereister Ausländer in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Z. (LABEA) als neues maßgebliches Geburtsdatum den … … 2005 mit.
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Mit Bescheid vom 31. Oktober 2023 stellte der Antragsgegner die Inobhutnahme mit Ablauf des 26. Oktober 2023 ein. Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, die qualifizierte Inaugenscheinnahme durch pädagogisches Fachpersonal des Amts für Jugend und Familie habe bereits beim ersten Aufeinandertreffen ergeben, dass kein Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers bestünde. Sein erwachsenes Auftreten, die mit ihm geführte Befragung innerhalb des Erstgesprächs und sein äußeres Erscheinungsbild hätten zu dieser Einschätzung beigetragen. Er habe nicht stimmige und nicht nachvollziehbare Angaben zu seiner Kindheit und dem Alter seiner Eltern gemacht. Namen und Alter seiner Geschwister hätten nicht benannt werden können, hier hätten sich in den von ihm gemachten Angaben große Unterschiede ergeben.
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Der Bescheid vom 31. Oktober 2023 wurde dem Antragsteller am 3. November 2023 ausgehändigt. Am selben Tag wurde er von der Notunterkunft in Ma. in das ANKER-Zentrum in G. verbracht.
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Am 8. November 2023 hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 31. Oktober 2023 erhoben mit dem Ziel der Fortsetzung der Inobhutnahme und der Begründung, dass er entgegen der Auffassung des Antragsgegners minderjährig sei. Das Klageverfahren wird beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg unter dem Aktenzeichen W 3 K 23.1545 geführt. Zugleich hat der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
Die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wird angeordnet.
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Der Antragsgegner beantragt sinngemäß,
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Er verteidigt die angegriffene Entscheidung und führt zur Begründung insbesondere aus, dass es Aufgabe des Jugendamts sei, nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer Inobhutnahme gegeben seien. Die Erkenntnisse des Jugendamts der Stadt N. seien zur Kenntnis genommen worden und hätten sofort Fragen aufgeworfen. Der Antragsteller sei mit dem Namen N. E. nach Deutschland eingereist, worauf das Aufgriffsjugendamt mit keinem Wort eingegangen sei. Die zuständigen Mitarbeiter hätten den Namen mit der Bezeichnung „alt“ durchgestrichen und den Familiennamen in den nun verwendeten K. abgeändert. Festgehalten im dortigen Protokoll sei auch, dass der Antragsteller sowohl in Kroatien als auch in der Schweiz erkennungsdienstlich behandelt worden sei und er etwas unterschrieben habe. Ob es sich hierbei um einen Asylantrag handele, bleibe offen. Da der Antragsteller in der Befragung angegeben habe, mit seinem Verwandten große Teile der Fluchtstrecke gemeinsam absolviert zu haben, sei der Vorgang des Verwandten, der ebenfalls dem Landratsamt M1.-S1. zugewiesen worden sei, überprüft worden. Dieser Verwandte, der sich selbst auch einen anderen Namen als beim Aufgriffsjugendamt und als im AZR erfasst gegeben habe, habe in seiner Befragung erklärt, dass er mit seinem Verwandten „N.“ unterwegs gewesen sei. In dem mit dem Antragsteller am 26. Oktober 2023 geführten Gespräch hätten sich zusätzlich zum Alias-Namen erhebliche Zweifel an den Schilderungen zur Familie (sechs Geschwister, Geburten je im Abstand von nur einem Jahr, Altersangabe Eltern), Flucht und Alter des Antragstellers ergeben. So sei im Aufnahmejugendamt die Fluchtdauer mit 18 Monaten angegeben worden, gegenüber dem Zuweisungsjugendamt hingegen mit 24 Monaten. Wo er die Zeit verbracht habe, habe er nicht angegeben. Angesprochen auf das ungewöhnliche späte Alter seiner Mutter für die erste Geburt eines Kindes sei keine Antwort gegeben worden. Auch die anschließenden im jährlichen Rhythmus geborenen Geschwister seien ergebnislos thematisiert worden. Des Weiteren habe er erklärt, er besäße kein Telefon, was dem Aufgriffsprotokoll der Bundespolizei widerspreche. Der Antragsgegner führt im Rahmen der Antragserwiderung seine Erkenntnisse aus der qualifizierten Inaugenscheinnahme und seine sich hieraus ergebenden Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers noch weiter aus, wobei er das von ihm festgestellte äußere Erscheinungsbild um vereinzelte graue Haare ergänzt.
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Er ist außerdem der Auffassung, dass eine gesetzliche Pflicht zur Altersbestimmung durch ein medizinisches Gutachten nicht bestehe. Auch die medizinische Alterseinschätzung könne nicht das tatsächliche Alter bestimmen; es handele sich um eine bloße Annäherung an ein wahrscheinliches Geburtsdatum. Bei den Fachkräften des Zuweisungsjugendamts hätten zu keinem Zeitpunkt Zweifel an der Volljährigkeit bestanden. Der Antragsteller habe sich nach Ankunft in Deutschland planvoll, in Kenntnis der Jugendhilfeverfahren verhalten. Er habe widersprüchliche Angaben zum Namen gemacht, zeige äußerlich erwachsene Merkmale, die in keinem Fall zu einem sechzehnjährigen Jugendlichen passen würden. Er habe sich erwachsen verhalten, teilweise respektlos und seine Vorstellungen zum Aufenthalt und für seine Zukunft äußerst konkret transportiert. Aus fach- und sozialpädagogischer Sicht benötige der Antragsteller keinen Schutz der Jugendhilfe. Jedenfalls stehe einem Verbleiben in der Gemeinschaftsunterkunft bis zur Entscheidung der Hauptsache nichts entgegen. Auch dort würden Flüchtlinge ausreichend betreut und versorgt. Ein Verbringen zurück in die Notunterkunft nach Ma. würde für den Antragsteller persönlich auch keine Verbesserung bedeuten. Eine Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung sei derzeit nicht zu bewerkstelligen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, einschließlich der Akten des Verfahrens W 3 K 23.1545 Bezug genommen.
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Antragsgegenstand ist das Begehren des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Aufhebung und Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Antragsgegner anzuordnen. Dies ergibt sich gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 VwGO in entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs geltenden Rechtsgrundsätze (§ 133, § 157 BGB) aus seiner Antragsschrift. Darin beantragt er unter Bezugnahme auf den im Rahmen des Klageverfahrens W 3 K 23.1545 gestellten Klageantrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (Ziffer 3 der Antragsschrift). In dem Klageverfahren W 3 K 23.1545 beantragt er dem Wortlaut nach zum einen die Aufhebung des Einstellungsbescheids des Antragsgegners vom 31. Oktober 2023 (Ziffer 1 der Klageschrift) und zum anderen die Verpflichtung des Beklagten, dem Antrag auf Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII stattzugeben (Ziffer 2 der Klageschrift). Damit bringt der Antragsteller sinngemäß zum Ausdruck, dass er im Klageverfahren die Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Antragsgegner beseitigen lassen möchte, damit die am 9. Oktober 2023 begonnene Inobhutnahme wieder aufgenommen und fortgesetzt wird. Auf diesen Anfechtungsantrag bezieht sich der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren.
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Dies gilt unabhängig von der im Hauptsacheverfahren noch zu klärenden Frage, wann die Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners und die Entscheidung über deren Aufhebung getroffen und bekanntgegeben worden sind. Insoweit ist zunächst unklar, wann dem Antragsteller die Entscheidung des Antragsgegners über die Inobhutnahme ab dem 9. Oktober 2023 bekanntgegeben worden ist. In der Behördenakte findet sich ein Dokument des Antragsgegners vom 25. September 2023, welches wie ein Inobhutnahmebescheid gestaltet ist, allerdings die Überschrift „Bestätigung der Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII“ trägt und nicht an den Antragsteller oder eine dritte Person (etwa einen Mitarbeiter des Jugendamts) als Vertreter bzw. Vormund des Antragstellers adressiert ist, sondern intern an den Fachdienst UMA. Darin wird mitgeteilt, dass für den Antragsteller ab dem 9. Oktober 2023 die Kosten der Inobhutnahme im Rahmen der Jugendhilfe übernommen würden; dies umfasse die Unterbringung in der Notunterkunft für Geflüchtete in Ma. Tatsächlich ist der Antragsteller auch ab dem 9. Oktober 2023 entsprechend untergebracht worden. Das Gericht geht daher davon aus, dass dem Antragsteller spätestens am 9. Oktober 2023 die Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners vom 25. September 2023 zumindest konkludent bekanntgegeben wurde. Die unter dem 25. September 2023 mit Wirkung ab dem 9. Oktober 2023 angeordnete Inobhutnahme wurde sodann mit Ablauf des 26. Oktober 2023 wieder beendet. Offen ist insoweit, ob der Bescheid über die Beendigung der Maßnahme vom 31. Oktober 2023 eine eigenständige Regelung darstellt oder ob es sich um eine schriftliche Bestätigung eines bereits zuvor mündlich erlassenen Verwaltungsakts über die Beendigung der Inobhutnahme handelt (vgl. S. 4 des Protokolls vom 26.10.2023, wo festgehalten wird, der Antragsteller werde nicht in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte Inobhutnahme werde umgehend beendet). Für die Bestimmung des Antragsgegenstands und die Beurteilung der Zulässigkeit und Begründetheit des Eilantrags sind diese Fragen allerdings im Ergebnis nicht entscheidungserheblich. Denn es ist jedenfalls eindeutig erkennbar, dass der Antragsgegner mit seiner Entscheidung vom 25. September 2023, dem Antragsteller ihrem Inhalt nach spätestens bekanntgegeben am 9. Oktober 2023, einen Verwaltungsakt über die Inobhutnahme ab dem 9. Oktober 2023 erlassen hat, eben diese Inobhutnahme durch den Antragsgegner mit Ablauf des 26. Oktober 2023 aufgehoben und beendet worden ist und sich der Eilantrag gerade gegen diese Beendigungsentscheidung des Antragsgegners richtet. Damit ist der Streitgegenstand durch die Bezugnahme des Antragstellers auf den schriftlichen Bescheid vom 31. Oktober 2023, der, soweit ersichtlich, auch erstmals eine Rechtsbehelfsbelehrungenthält, hinreichend klar und eindeutig bezeichnet. Es geht in der Sache um die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 31. Oktober 2023 geregelte oder jedenfalls schriftlich bestätigte Entscheidung des Antragsgegners über die Aufhebung und Beendigung der zuvor angeordneten Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII (im Folgenden daher zur besseren Lesbarkeit nur noch als Inobhutnahmeentscheidung vom 25.9.2023 und als (Aufhebungs-) Bescheid vom 31.10.2023 bezeichnet).
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Nicht Verfahrensgegenstand ist ein Antrag auf Aufhebung der Vollziehung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO; ein solcher Antrag lässt sich der Antragsschrift nicht entnehmen. Aus ihr geht nicht hervor, dass der Antragsteller die Rückgängigmachung bereits vollzogener Maßnahmen begehrt; er äußert keinerlei Wünsche über eine einstweilige Regelung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO umfasst auch nicht automatisch einen Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 6.7.1994 – 1 VR 20/93 – NVwZ 1995, 590, 595; BayVGH, B.v. 18.11.2019 – 4 CS 19.1839 – NVwZ-RR 2020, 619, 620; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 116; Schoch in Schoch/Schneider (Hrsg.), Verwaltungsrecht, Stand 44. EL März 2023, § 80 VwGO Rn. 345a).
28
Selbst unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes bei der Auslegung des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers kann das Gericht auch bei einem prozessual unerfahrenen Antragsteller einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO nicht als zugleich gestellten Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO auslegen, wenn das Vorbringen des Antragstellers – wie hier – keinerlei Hinweise auf das Begehren einer gerichtlichen Regelung der Vollzugsfolgen enthält. Denn Anträge im gerichtlichen Verfahren sind nur insoweit einer Auslegung zugänglich, als sie Anlass und Raum für eine solche bieten (§ 88 Halbs. 1 VwGO). Zudem ist auch bei antragstellerfreundlicher Auslegung des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen, dass ein Nachsuchen um Rechtsschutz hinsichtlich bereits erfolgter Vollziehungsmaßnahmen nicht geboten erscheint und daher dem Antragsteller ohne konkrete Anhaltspunkte nicht unterstellt werden kann, wenn – wie hier – nichts dafür spricht, dass der Antragsgegner seinen sich aus der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ergebenden Pflichten nicht nachkommen würde. Denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat ungeachtet der Stellung eines Antrags auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zur Folge, dass der Bescheid vom 31. Oktober 2023 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache nicht vollzogen werden darf. Dies gilt unabhängig davon, ob die aufschiebende Wirkung zur Hemmung der (inneren) Wirksamkeit des Beitragsbescheids oder lediglich zur Hemmung seiner Vollziehbarkeit führt (vgl. zum Streitstand Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 10). Maßnahmen zu seinem Vollzug sind während dieses Zeitraums jedenfalls unzulässig (BVerwG, U.v. 6.7.1973 – IV C 79/69 – VerwRspr 1974, 721, 724; B.v. 6.7.1994 – 1 VR 20/93 – NVwZ 1995, 590, 595; U.v. 20.1.2016 – 9 C 1/15 – NVwZ 2016, 1333 Rn. 12). Bereits getroffene Vollzugsmaßnahmen werden rechtswidrig und sind infolgedessen aufzuheben (vgl. BVerwG, B.v. 6.7.1994 – 1 VR 20/93 – NVwZ 1995, 590, 595). Denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung wirkt zurück auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses, wenn das Gericht die Rückwirkung nicht zeitlich einschränkt (BVerwG, U.v. 20.1.2016 – 9 C 1/15 – NVwZ 2016, 1333 Rn. 14; OVG Sachsen, U.v. 12.10.2005 – 5 B 471/04 – NVwZ-RR 2007, 54, 55; OVG MV, B.v. 7.7.2016 – 1 M 203/16 – NVwZ-RR 2017, 123 Rn. 6; Schoch in Schoch/Schneider (Hrsg.), Verwaltungsrecht, Stand 44. EL März 2023, § 80 VwGO Rn. 118). Dies folgt daraus, dass die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO grundsätzlich die Rechtslage in Kraft setzen soll, die bestünde, wenn die in § 80 Abs. 1 VwGO vorgesehene aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs nicht ausnahmsweise entfiele (BVerwG, U.v. 20.1.2016 – 9 C 1/15 – NVwZ 2016, 1333 Rn. 14). § 80 Abs. 1 VwGO soll aber gerade sicherzustellen, dass für den Rechtsbehelfsführer aus dem Verwaltungsakt von Anfang an vorläufig keine nachteiligen Konsequenzen erwachsen können (vgl. BVerwG, U.v. 6.7.1973 – IV C 79/69 – VerwRspr 1974, 721, 723 f.). Für eine grundsätzliche Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Bescheiderlasses spricht auch § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO. Danach kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen ist. Ohne eine Rückwirkung der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wäre aber eine die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung anordnende Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO ausgeschlossen. Da diese Bestimmung keine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vollziehung trifft, muss die aufschiebende Wirkung grundsätzlich auf den frühest denkbaren Zeitpunkt, also auf denjenigen des Erlasses des Verwaltungsakts, zurückbezogen werden (OVG Sachsen, U.v. 12.10.2005 – 5 B 471/04 – NVwZ-RR 2007, 54, 55). Infolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung aufzuheben sind dementsprechend auch bzw. erst recht solche Vollzugsmaßnahmen, die bereits vor Wirksamwerden des Verwaltungsakts (§ 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X) ergriffen worden sind. Dies könnte im streitgegenständlichen Fall auf die bereits am 31. Oktober 2023 – und somit vor Bekanntgabe des Bescheids vom 31. Oktober 2023 am 3. November 2023 – erfolgte Änderungsmitteilung an den LABEA zutreffen, es sei denn, die Beendigung der Inobhutnahme als solche wurde dem Antragsteller bereits zuvor bekanntgegeben und bei dem Bescheid vom 31. Oktober 2023 handelte es sich lediglich um eine schriftliche Bestätigung.
29
Der so verstandene Antrag ist zulässig.
30
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 31. Oktober 2023 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO ist insbesondere statthaft, da statthafter Rechtsbehelf in der Hauptsache eine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) gegen den Bescheid vom 31. Oktober 2023 ist und dieser nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII keine aufschiebende Wirkung hat. Der neben dem Anfechtungsantrag (Ziffer 1 der Klageschrift) ebenfalls gestellte Verpflichtungsantrag (Ziffer 2 der Klageschrift) ist überflüssig, da die mit dem Bescheid vom 31. Oktober 2023 aufgehobene Inobhutnahmeentscheidung wieder wirksam wird, wenn der Aufhebungsbescheid vom 31. Oktober 2023 aufgehoben wird. Die Klage des nicht anwaltlich vertretenen und prozessual unerfahrenen Antragstellers ist daher als reine Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zu verstehen, nicht als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO) oder eine Kombination aus Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.
31
Der Zulässigkeit des Antrags steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller nach seinen eigenen Angaben minderjährig ist. Denn er ist unabhängig von der Frage seiner Volljährigkeit für das vorliegende Verfahren als prozessfähig anzusehen. Ist er volljährig, folgt seine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. §§ 2, 104 ff. BGB. Bei unterstellter Minderjährigkeit folgt seine Prozessfähigkeit für den Gegenstand des Verfahrens aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen kann, der das 15. Lebensjahr vollendet hat (vgl. OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15, 2 PA 223/15 – juris Rn. 12). Das 15. Lebensjahr hat der Antragsteller aber selbst unter Zugrundelegung seiner eigenen Altersangabe bereits vollendet.
32
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sozialleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I ist (BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24.12 – JAmt 2013, 588 Rn. 16). Die Inobhutnahme verleiht dem Kind oder Jugendlichen einen Anspruch darauf, in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, verpflegt und betreut zu werden. Insoweit ist von einer Sozialleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I auszugehen. Zwar hat eine Inobhutnahme auch belastende Wirkungen. In der streitgegenständlichen Konstellation geht es jedoch um mit der Inobhutnahme verbundene Begünstigungen für den Antragsteller, die dieser mit seinem Antrag erhalten bzw. vorläufig bewahren möchte (BT-Drs. 18/6392, S. 21, zu § 42f Abs. 3). Mithin steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Dem Schutzinteresse des Minderjährigen wird hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass die aus § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I folgende partielle Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt, sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt. Zudem kann die Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB I vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden (zum Ganzen OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – BeckRS 2015, 55026 Rn. 11 m.w.N.).
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Der Antrag ist zudem begründet, da nach der im Verfahren auf Gewährung von Eilrechtsschutz allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage das private Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Entscheidung überwiegt.
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Die Abwägung des privaten Aussetzungsinteresses des Antragstellers einerseits und des öffentlichen Vollzugsinteresses andererseits richtet sich grundsätzlich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, also insbesondere danach, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig ist. Im streitgegenständlichen Fall hat die Klage, deren aufschiebende Wirkung begehrt wird, überwiegende Erfolgsaussichten. Der Bescheid vom 31. Oktober 2023 erscheint nach Aktenlage rechtswidrig. An der sofortigen Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts kann indes kein öffentliches Interesse bestehen.
35
Der Bescheid vom 31. Oktober 2023 ist sowohl formell als auch materiell rechtswidrig.
36
Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller vor Erlass des Bescheids vom 31. Oktober 2023 gemäß § 24 Abs. 1 SGB X angehört worden ist. Aus den dem Gericht vorliegenden Verwaltungsakten des Antragsgegners ergibt sich zwar, dass zwei Mitarbeiterinnen des Antragsgegners den Antragsteller gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII qualifiziert in Augenschein genommen haben. Allerdings ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller in diesem Rahmen oder später mit dem Ergebnis der qualifizierten Inaugenscheinnahme und der hierauf beruhenden Absicht des Antragsgegners, die Inobhutnahme zu beenden, konfrontiert wurde und Gelegenheit hatte, sich zu einer Beendigung der Inobhutnahme zu äußern. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass es weitere Kontakte, z.B. Gespräche, zwischen Antragsteller und Antragsgegner gegeben hätte, in deren Rahmen der Antragsteller zu der Beendigung der Inobhutnahme angehört worden sein könnte oder die Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X nachgeholt worden sein könnte und deren Gesprächsinhalt daher weiterer Aufklärung durch das Gericht bedürfte. Zwar ist in dem vom Antragsteller unterzeichneten Gesprächsprotokoll vom 26. Oktober 2023 vermerkt, dass der Antragsteller nicht in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte Inobhutnahme umgehend beendet werde. Hierbei handelt es sich jedoch um ein am Ende des Protokolls stehendes „Fazit“ des Antragsgegners. Unabhängig von der Frage, ob diesem „Fazit“ Regelungscharakter zukommt oder nicht, liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller nicht nur zur Sachverhaltsaufklärung befragt worden ist, sondern auch darauf hingewiesen worden wäre, dass er zu der mit dem vorstehenden „Fazit“ angekündigten oder ausgesprochenen Maßnahme Stellung nehmen könne. Soweit Vertreter des Antragsgegners bei Bescheidübergabe am 3. November 2023 mit dem Antragsteller über die jedenfalls zu diesem Zeitpunkt bereits endgültig getroffene Entscheidung sprachen, wurde dem Antragsteller ausweislich des Aktenvermerks vom 6. November 2023 lediglich der Entscheidungsinhalt und die Rechtsbehelfsbelehrungerläutert, ohne ihm zwecks Nachholung der erforderlichen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Dass sich der Antragsteller bei seiner Abholung von sich aus zur Aufhebung und Beendigung der Inobhutnahme geäußert hat, stellt keine ordnungsgemäße Nachholung der Anhörung dar. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass sich der Antragsgegner mit dem Vorbringen des Antragstellers nachträglich ergebnisoffen auseinandergesetzt und aufgrund einer erneuten Prüfung unter Erwägung der Argumente des Antragstellers entschieden hätte, an dem Bescheid vom 31. Oktober 2023 festzuhalten.
37
Unabhängig hiervon ist der Bescheid vom 31. Oktober 2023 auch materiell rechtswidrig. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners vom 25. September 2023 liegen nicht vor.
38
Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung kommt im streitgegenständlichen Fall nur § 45 SGB X in Betracht, welcher die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte regelt. Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt in diesem Sinne (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42f Rn. 8). Denn in der Situation des Antragstellers geht es bei der Inobhutnahme letztlich nicht um dessen Herausnahme aus seiner Herkunftsfamilie, eine Trennung von seinen Eltern und einen dementsprechenden belastenden Eingriff in deren Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern um den Erhalt mit der Inobhutnahme verbundener Vergünstigungen wie die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie, so dass der Leistungsgedanke im Vordergrund steht (vgl. Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 128). Jedenfalls sind Verwaltungsakte mit einer derartigen Mischwirkung insgesamt als begünstigend zu behandeln und den strengeren Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 bis 4 SGB X zu unterstellen, sofern sich begünstigende und belastende Elemente – wie hier – nicht voneinander trennen lassen (BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24.12 – JAmt 2013, 588 Rn. 34). Demgegenüber scheidet § 48 SGB X von vornherein als Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid aus, weil diese Vorschrift nur bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse anwendbar ist. Eine solche liegt im streitgegenständlichen Fall nicht vor. Die Aufhebung und Beendigung der Inobhutnahmeentscheidung beruht nicht auf einer nachträglichen Veränderung der Verhältnisse bei Bescheiderlass, sondern auf einer veränderten Erkenntnislage bzw. einer Neubewertung der Sachlage durch den Antragsgegner.
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Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts setzt nach § 45 Abs. 1 SGB X voraus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist der Zeitpunkt des Erlasses des aufzuhebenden Verwaltungsakts (Busse in Ehmann/Karmanski/Kuhn-Zuber (Hrsg.), GK-SRB, 3. Aufl. 2023, § 45 SGB X Rn. 4; Sandbiller in BeckOGK, SGB X, Stand 15.8.2023, § 45 Rn. 36). Die Rechtswidrigkeit der begünstigenden Entscheidung muss feststehen; bloße Zweifel am Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen genügen nicht (BSG, U.v. 2.4.2009 – B 2 U 25/07 R – BeckRS 2009, 69209 Rn. 17; Sandbiller in BeckOGK, SGB X, Stand 15.8.2023, § 45 Rn. 37).
40
Dies gilt auch, soweit bestimmte Umstände – als Beweiserleichterung – nicht des vollen Nachweises bedurften, sondern nur einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit bzw. der Glaubhaftmachung. Es reicht in einem solchen Fall nicht aus, dass bei erstmaliger Prüfung die Leistung nicht zuerkannt würde. Nur wenn auch bei dieser Fallgruppe am Erfordernis der Gewissheit der materiellen Nichtberechtigung festgehalten wird, wird der dem angewandten Fachrecht zugrunde liegende Zweck der Beweiserleichterung nicht in sein Gegenteil verkehrt (Sandbiller in BeckOGK, SGB X, Stand 15.8.2023, § 45 Rn. 37). Des Weiteren trägt eine andere Zweckwidrigkeitsbewertung lediglich eine Aufhebung mittels Abhilfe- oder Widerspruchsbescheid, nicht aber eine Rücknahme des Verwaltungsakts (so zu § 48 VwVfG Berthold Kastner in Fehling/Kastner/Störmer (Hrsg.), HK-VerwR, 5. Aufl. 2021, § 48 VwVfG Rn. 25). Hiervon ausgehend kann auch eine bloße andere Bewertung einer der aufzuhebenden Entscheidung nach dem einschlägigen Fachrecht zugrunde gelegten behördlichen Einschätzung, welche ordnungsgemäß zustande gekommen ist, nicht zu einer Aufhebung nach § 45 SGB X führen. Erforderlich ist vielmehr, dass nach Bescheiderlass Umstände bekannt werden, die die ursprüngliche Einschätzung der Behörde als unrichtig erscheinen lassen.
41
Diese Voraussetzungen liegen nach Aktenlage nicht vor. Denn gemessen an dem vorstehend dargestellten Maßstab stellt sich die mit dem Bescheid vom 31. Oktober 2023 aufgehobene Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners vom 25. September 2023 gegenwärtig nicht als rechtswidrig dar.
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Rechtsgrundlage der aufgehobenen Inohbutnahmeentscheidung ist § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII. Danach ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Dass diese Voraussetzungen beim Erlass des Inobhutnahmebescheids nicht vorgelegen hätten, ist nicht erwiesen. Insbesondere ist nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller kein Kind oder Jugendlicher war.
43
Kind ist, wer noch nicht 14 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII). Jugendlicher ist, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII). Im Fall des Antragstellers ist das Jugendamt des Landratsamts M1.-S1. beim Erlass der Inobhutnahmeentscheidung unter Zugrundelegung der Altersfeststellung des Jugendamts der Stadt N. davon ausgegangen, dass der Antragsteller noch nicht 18 Jahre alt ist und daher in den Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII fällt. Es liegen keine Gründe dafür vor, dies nachträglich in Zweifel zu ziehen und als unrichtig anzusehen.
44
Unrichtig ist der einem Verwaltungsakt zugrunde gelegte Sachverhalt, wenn er mit der Sachlage bei Bekanntgabe objektiv nicht übereinstimmt (Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 38). Anders ausgedrückt muss die Behörde im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts von tatsächlichen Annahmen ausgegangen sein, die sie nach den jeweils maßgeblichen fachspezifischen (Verfahrens-) Vorschriften nicht hätte zugrunde legen dürfen. Dies ist nicht der Fall. Das Jugendamt des Landratsamts Main-Spessart hat seiner Entscheidung, den Antragsteller in Obhut zu nehmen, zu Recht die Alterseinschätzung des Jugendamts der Stadt N. zugrunde gelegt.
45
Wie das Alter einer neu eingereisten unbegleiteten ausländischen Person, die angibt, minderjährig zu sein, festgestellt wird, ist in § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII geregelt. Diese Vorschrift ist nach ihrem Wortlaut im Rahmen des § 42a Abs. 1 SGB VIII anzuwenden. § 42a Abs. 1 SGB VIII regelt ein der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII bei unbegleitet eingereisten ausländischen Kindern und Jugendlichen vorgeschaltetes Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme und ergänzt damit § 42 SGB VIII (vgl. Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek (Hrsg.), Frankfurter Kommentar, 9. Aufl. 2022, § 42a Rn. 1). Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, eine ausländische Person, die Kind oder Jugendlicher sein könnte (BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 29), vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald deren unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird.
46
Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII die Minderjährigkeit der ausländischen Person festzustellen. Wird die Minderjährigkeit festgestellt, endet die vorläufige Inobhutnahme gemäß § 42a Abs. 6 SGB VIII in der Regel mit der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an das aufgrund der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde nach § 88a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständige Jugendamt. Dieses muss den Minderjährigen dann unverzüglich nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in Obhut nehmen (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42a Rn. 26). Wird hingegen die Volljährigkeit festgestellt, wird die ausländische Person aus der vorläufigen Inobhutnahme entlassen (Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 88a Rn. 2 a.E.) und in das für erwachsene Personen vorgegebene Verteilungsverfahren überführt, dies durch eine Mitteilung an den LABEA.
47
Hieraus ergibt sich die Konzeption des Gesetzes, wonach eine vorläufige Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher nach § 42a SGB VIII im Falle ihrer unbegleiteten Einreise der späteren Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgeschaltet ist.
48
Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1 SGB VIII ist nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII wie bereits ausgeführt die Minderjährigkeit der ausländischen Person festzustellen. Diese Feststellung ist nach Maßgabe des § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII vorzunehmen. Der Gesetzgeber hielt diese gesetzliche Regelung über die Altersfeststellung (genauer gesagt über die Feststellung der Minderjährigkeit, vgl. Wortlaut des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) für erforderlich, um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden (BT-Drs. 18/6392, S. 20). Demgegenüber soll die Alterseinschätzung durch das Jugendamt nicht gegenüber Dritten, beispielsweise der Ausländerbehörde, verbindlich sein, da dies zu Verfahrensverzögerungen bei den Ausländerbehörden genutzt werden könnte (BT-Drs. 18/6392, S. 20).
49
Ausgehend von dieser gesetzlichen Systematik wird das Zuweisungsjugendamt, also das Jugendamt, dem der unbegleitete neu eingereiste ausländische Minderjährige im Rahmen der Verteilung nach § 42b Abs. 3 SGB VIII, § 88a Abs. 2 SGB VIII zugewiesen worden ist, die Feststellung des Aufgriffsjugendamts, also des Jugendamts, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufgehalten hat (§ 88a Abs. 1 SGB VIII), in der Regel zu übernehmen und von der Minderjährigkeit der betroffenen Person auszugehen haben (vgl. zu diesem Fragenkomplex: BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 31, wo ausgeführt wird, dass der Gesetzgeber mit dem Verfahren nach § 42f SGB VIII eine „frühzeitige und endgültige Klärung von Altersfragen im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ vor Augen hatte; dies soll – so das Bundesverwaltungsgericht – vermeiden, dass nachfolgende Maßnahmen der Jugendhilfe wie z.B. die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII revidiert und rückabgewickelt werden müssen, weil sich nachträglich herausstellt, dass der Betroffene gar nicht minderjährig ist; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 25.10.2023 – OVG 6 S 50/23 – juris Rn. 7, das eine weitere Altersfeststellung zulässt, aber in deren Rahmen eine hinreichende Auseinandersetzung mit den Erstannahmen aufgrund besserer Erkenntnisse verlangt; Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK, Stand: 11.6.2023, § 42f Rn. 33, wonach bei einer nach § 42 SGB VIII in Obhut genommenen Person die Einleitung eines Verfahrens zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII dann nicht ausgeschlossen ist, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die bislang erlangten Ergebnisse falsch sind; so auch OVG Bremen, B.v. 21.9.2016 – 1 B 164/16 – juris Rn. 12; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 – 3 B 5176/16 – juris Rn. 9; vgl. auch Achterberg, Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, JA 2019, 294, 298 für den Fall des Vorliegens neuerer Erkenntnisse, ferner Dürbeck in Wiesner/Wapler (Hrsg.), 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 42 Rn. 19, wonach zwar für das Zuweisungsjugendamt keine Bindungswirkung der vom Aufgriffsjugendamt getroffenen Feststellungen anzunehmen sei, im Regelfall aber auch keine Veranlassung für das erstgenannte bestehen werde, eigene amtswegige Ermittlungen zur Frage des Alters des Betroffenen anzustellen).
50
Von diesem Grundsatz darf allerdings abgewichen werden, wenn begründete Zweifel an der Richtigkeit der Altersfeststellung des Aufgriffsjugendamts bestehen.
51
Der Gesetzgeber hat zwar in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht, dass die Altersfeststellung durch das Aufgriffsjugendamt nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen – für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe – vermeiden soll. Aus diesen Ausführungen lässt sich erkennen, dass der Gesetzgeber eine Bindungswirkung der Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII gegenüber dem Zuweisungsjugendamt im Auge hatte, wo er andernfalls spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen befürchten würde. Aus den Gesetzesmaterialien geht jedoch nicht hervor, dass von der Altersfeststellung des Aufgriffsjugendamts eine derartige Bindungswirkung ausgehen soll, dass das Jugendamt sehenden Auges Kinder- und Jugendhilfeleistungen an nichtberechtigte Volljährige gewähren muss. Der in § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII gesetzlich normierte Wegfall der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII oder die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, spricht vielmehr dafür, dass eine „Altersfeststellung“ auch im Rahmen einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII möglich sein muss. Hierfür spricht auch das mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage verfolgte Ziel, sicherzustellen, dass in der Kinder- und Jugendhilfe hinreichende Kapazitäten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung von ausländischen Personen zur Verfügung stehen, die nicht volljährig sind, die also als Minderjährige des besonderen Schutzes durch die Kinder- und Jugendhilfe bedürfen und die dem Kindeswohl entsprechend unterzubringen, zu versorgen und zu betreuen sind (BT-Drs. 18/6392, S. 21, zu § 42f Abs. 3). Dies macht das Ansinnen des Gesetzgebers deutlich, auch im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII die Kapazitäten der Kinder- und Jugendhilfe nicht dadurch unnötig in Anspruch zu nehmen und möglicherweise zu überfordern, dass Personen, deren Volljährigkeit erst im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII erkannt wird, die Kapazitäten blockieren. Zudem spricht gegen eine ausnahmslose Bindungswirkung der Feststellung des Aufgriffsjugendamts zur Minderjährigkeit der ausländischen Person die Tatsache, dass es sich bei dieser Feststellung um ein Internum handelt, das nicht in Form eines Verwaltungsakts Außenwirkung erzielen und nicht eigenständig rechtlich angegriffen werden kann. Entfaltete dieses Internum dennoch eine absolute Bindungswirkung, wäre dies nicht mit Art. 19 Abs. 4 GG in Einklang zu bringen. Ebenso wenig wäre es mit der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) vereinbar, wenn das Jugendamt aufgrund eines derartigen Internums sehenden Auges einen rechtswidrigen Inobhutnahmebescheid erlassen müsste, wenn es aufgrund neuer Erkenntnisse sicher weiß, dass die in Obhut zu nehmende Person entgegen der Annahme des Aufgriffsjugendamts nicht volljährig ist. Darüber hinaus ist zu beachten, dass der Gesetzgeber in § 42f Abs. 1 SGB VIII lediglich eine Feststellung der Minderjährigkeit, nicht aber – wie es in den oben genannten Gesetzesmaterialien wörtlich heißt – eine Altersfeststellung vorsieht. Dies bedeutet, dass nicht das taggenaue Alter festgestellt wird, sondern lediglich die Tatsache, ob die ausländische Person minderjährig, also noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 3 SGB VIII). Nach einem gewissen Zeitablauf kann daher erneut Unsicherheit über die Minderjährigkeit der betroffenen Person entstehen, wenn nämlich aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr sicher ist, ob sie noch minderjährig oder bereits volljährig geworden ist. Auch in diesem Fall darf dem zuständigen Jugendamt eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit nicht verwehrt sein.
52
Aus diesen Gründen kann das Zuweisungsjugendamt nicht ausnahmslos an das Ergebnis der Feststellung der Minderjährigkeit durch das Aufgriffsjugendamt gebunden sein. Dies wirft die Frage auf, ob das Zuweisungsjugendamt jederzeit und anlasslos erneut eine Feststellung zur Minderjährigkeit der ausländischen Person vornehmen kann, obwohl das Aufgriffsjugendamt eine solche bereits vorgenommen hat. Die Kammer vertritt hierbei die Auffassung, dass das Zuweisungsjugendamt an einer erneuten Feststellung zur Minderjährigkeit gehindert ist, wenn hierfür kein konkreter Anlass besteht.
53
Dies ergibt sich aus der oben dargestellten gesetzlichen Grundlage, die das Aufgriffsjugendamt gemäß § 42a Abs. 1 i.V.m. § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII dazu verpflichtet, bereits im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme die Minderjährigkeit festzustellen. Demgegenüber ist in § 42 SGB VIII keine derartige Regelung enthalten, dies deswegen, weil bei Personen, die sich bereits regelmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, das Geburtsdatum in der Regel taggenau feststeht und es zur Feststellung des Tatbestandsmerkmals der Minderjährigkeit im Rahmen des § 42 SGB VIII keines besonderen Feststellungsverfahrens bedarf. Das vom Gesetzgeber mit § 42a bis 42f SGB VIII geschaffene System lässt dessen Ziel deutlich werden, durch das Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit für die betroffene Person hinsichtlich deren Minderjährigkeit einen Zustand bzw. eine Sicherheit herzustellen, die mit der diesbezüglichen Sicherheit bei einer sich bereits regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Person mit feststehendem Geburtsdatum vergleichbar ist. Hält aber ein Jugendamt die Inobhutnahme einer sich regulär in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden Person nach § 42 SGB VIII für erforderlich, überprüft es regelmäßig dessen dokumentiertes Alter und damit dessen Minderjährigkeit nicht anlasslos durch ein Feststellungsverfahren, sondern vertraut auf die diesbezüglich vorhandenen – amtlichen – Angaben. Es ist nicht erkennbar, weshalb dies bei Personen, deren Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII festgestellt worden ist, grundlegend anders sein sollte.
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Gestützt wird die Auffassung des Gerichts auch durch die bereits oben zitierten Gesetzesmaterialien. Hier macht der Gesetzgeber deutlich, dass er mithilfe der Regelungen in § 42f SGB VIII eine verbindliche Feststellung des Alters bezwecken will, um spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen zu vermeiden. Damit sind – wie dem Duktus der Gesetzesmaterialien zu entnehmen ist – spätere Auseinandersetzungen auf der Ebene der Kinder- und Jugendhilfe gemeint. Dies geht aus der weiteren Ausführung des Gesetzgebers hervor, eine Bindungswirkung der Altersfeststellung gegenüber Dritten, beispielsweise der Ausländerbehörde, sei abzulehnen. Dies macht deutlich, dass der Gesetzgeber lediglich spätere Auseinandersetzungen über Altersfragen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden wollte. Gleiches ergibt sich auch aus der Stellungnahme des Bundesrats zum Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 18/6289, S. 2), wo der Bundesrat ein Verfahren zur verbindlichen Alterseinschätzung fordert und dies in einen konkreten Zusammenhang mit der sich hieran anschließenden Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII stellt.
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Hinzu kommt das im Kinder- und Jugendhilferecht festgelegte Ziel, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen (§ 1 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII). Auch unter Berücksichtigung dieses Ziels verbietet sich eine anlasslose erneute Feststellung des Zuweisungsjugendamts zur Minderjährigkeit. Denn ein solches Verfahren schafft für die betroffene Person, deren Minderjährigkeit bereits festgestellt worden ist, eine erneute Unsicherheit über ihr Schicksal im Rahmen der Unterbringung und damit eine psychische Belastung hinsichtlich der Frage, ob sie sich darauf verlassen kann, dass die minderjährigengerechte Unterbringung und Betreuung fortdauert oder ob sie sich auf eine diesbezüglich gravierende Veränderung einstellen muss. Auch das Verfahren der Feststellung der Minderjährigkeit nach § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII selbst ist mit Belastungen verbunden, z.B. durch die erneute intensive Befragung im Rahmen der Inaugenscheinnahme, der sich die Person stellen muss, und durch eine mögliche – ggf. erneute – ärztliche Untersuchung nach § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII mit ihren verschiedenen Belastungen, z.B. auch durch Röntgenstrahlen. Es ist kein Grund dafür ersichtlich, die betreffende Person ohne jeglichen Anlass erneut derartigen Belastungen auszusetzen.
56
Ist aber das Zuweisungsjugendamt an einer erneuten Feststellung der Minderjährigkeit jedenfalls dann gehindert, wenn kein konkreter Anlass hierfür vorliegt, kann eine Pflicht des Zuweisungsjugendamts zur Durchführung eines neuen Altersfeststellungsverfahrens erst recht nur dann bestehen, wenn sich ein solcher konkreter Anlass zu Zweifeln an der Richtigkeit der vom Zugriffsjugendamt durchgeführten Altersfeststellung aufdrängt.
57
Ein derartiger konkreter Anlass für eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit kann zum Beispiel eine Erkenntnis zu Unzulänglichkeiten im Rahmen der Feststellung der Minderjährigkeit durch das Aufgriffsjugendamt gemäß § 42f Abs. 1 und Abs. 2 SGB VIII sein. Als Anlässe in Betracht kommen aber auch später zu Tage tretende Erkenntnisse oder Urkunden, die bei der erstmaligen Feststellung der Minderjährigkeit noch nicht zur Verfügung standen, oder nachträgliche Erkenntnisse, die auf eine bewusste Täuschung durch die betreffende Person im Verfahren beim Aufgriffsjugendamt hindeuten. Ein derartiger Anlass kann zudem auch der reine Zeitablauf sein, wenn bei der erstmaligen Feststellung der Minderjährigkeit lediglich diese Tatsache, jedoch kein konkretes Geburtsdatum festgestellt worden ist und durch den reinen Zeitablauf nunmehr Zweifel entstehen, ob noch die Minderjährigkeit fortdauert. Denn Tatbestandsmerkmal der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII ist zwingend die Minderjährigkeit der betroffenen Person. Besteht ein konkreter Anlass, am Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals zu zweifeln, muss die zuständige Behörde dazu befugt sein, diese Zweifel auszuräumen.
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Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs fehlt es im streitgegenständlichen Fall an einem solchen konkreten Anlass, der sich dem Antragsgegner bei Erlass der Inobhutnahmeentscheidung vom 25. September 2023 hätte aufdrängen müssen und ihn zu einer neuen Altersfeststellung hätte berechtigen oder gar verpflichten können. Insbesondere hat sich das Jugendamt der Stadt N. an die nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII vorgeschriebenen Verfahrensschritte zur Altersfeststellung gehalten:
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Muss das Alter einer neu eingereisten ausländischen Person, die angibt, minderjährig zu sein, festgestellt werden, so hat das Jugendamt gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Nach Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift hat das Jugendamt in Zweifelsfällen auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen.
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Dies bedeutet, dass das Jugendamt zunächst Einsicht in die Ausweispapiere der betreffenden Person zu nehmen hat. Hierbei handelt es sich um Dokumente, die aus deren Herkunftsland stammen und Namen, Geburtsdatum und Foto der Person enthalten, um sie zu identifizieren (Achterberg, Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, JA 2019, 294, 295). Verfügt die Person nicht über derartige Papiere, hat ihre Selbstauskunft eine wichtige Stellung. Erst wenn diese aufgrund von widersprüchlichen oder nicht schlüssigen Angaben Zweifeln begegnet, muss gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hilfsweise eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt werden (Achterberg, a.a.O.; Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar, 16. Aufl. 2022, § 42f Rn. 4, wonach die Anzweiflung der Altersangabe auf extreme Ausnahmefälle zu beschränken ist).
61
Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie in jedem Fall eine Befragung des Betroffenen ein, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Angabe zu seinem Alter zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist hierbei der Gesamteindruck (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 13). Auf der Grundlage der Erwägungen des Gesetzgebers (BT-Drs. 18/6392, S. 20), wonach die Altersfeststellung auf der Grundlage von Standards zu erfolgen hat, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter beschlossen hat, ist gemäß deren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen“ (2. aktualisierte Fassung 2017, beschlossen auf der 122. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter vom 26. bis 28. April 2017 in Saarbrücken; 1. Fassung, auf welcher der Gesetzgeber Bezug genommen hatte, vom Mai 2014) – Handlungsempfehlungen – das Verfahren stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamts durchzuführen (Handlungsempfehlungen Ziffer 6.2).
62
Ist aufgrund dieser qualifizierten Inaugenscheinnahme weder die Minderjährigkeit noch die Volljährigkeit eindeutig feststellbar und verifizierbar, verbleibt es also bei einem Zweifelsfall, ist gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 43). Derartige Zweifel bestehen immer dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 14).
63
Bei all diesen Schritten ist zu beachten, dass weder eine qualifizierte Inaugenscheinnahme noch eine ärztliche Untersuchung zu einer exakten Bestimmung des tatsächlichen Lebensalters führen können. Sie liefern allenfalls Näherungswerte mit einer Schwankungsbreite, die teilweise auf bis zu fünf Jahre beziffert wird (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, JurisPK-SGB VIII, Stand: 11.6.2023, § 42f Rn. 29). Jedenfalls ist von einem Graubereich von ein bis zwei Jahren über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren auszugehen (Handlungsempfehlungen Ziffer 10.3), in welchem weiterhin Zweifel an der Volljährigkeit bestehen. Kommt also die qualifizierte Inaugenscheinnahme oder eine ärztliche Untersuchung zu dem Ergebnis, die betroffene Person sei etwa 18 oder 19 Jahre alt, so ist damit die Minderjährigkeit nicht ausgeschlossen und deshalb weiterhin vom Vorliegen einer Minderjährigkeit auszugehen (BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 42 bis 43).
64
Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum der umfassenden verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus. Das Ergebnis einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII ist daher von den Verwaltungsgerichten im Hinblick auf gleichwohl fortbestehende Zweifel an der Minder- bzw. Volljährigkeit des Betroffenen nicht lediglich daraufhin zu überprüfen, ob alle relevanten Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft wurden und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe beachtet und der Gehalt der anzuwendenden Begriffe und der gesetzliche Rahmen, in dem diese sich bewegen, erkannt wurde und keine sachfremden Erwägungen in die Beurteilung eingeflossen sind (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – juris Rn. 15).
65
Auf Grundlage dieses Maßstabs gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass bei Erlass der Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners kein Anlass dafür bestand, eine erneute Feststellung der Minderjährigkeit vorzunehmen, und der Antragsgegner daher zu Recht die diesbezügliche Feststellung des Jugendamts der Stadt N. seiner Inobhutnahmeentscheidung nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII zugrunde gelegt hat.
66
Da der Antragsteller keine Ausweispapiere mitführte und diese somit nicht eingesehen werden konnten (vgl. § 42f Abs. 1 Satz1 Halbs. 1 SGB VIII), haben zwei beruflich erfahrene Mitarbeiter des Jugendamts der Stadt N. unter Hinzuziehung eines Dolmetschers eine qualifizierte Inaugenscheinnahme im Sinne von § 42f Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 SGB VIII nach dem Vier-Augen-Prinzip durchgeführt. Dabei sind die Mitarbeiter des Jugendamts der Stadt N. zu dem Ergebnis gekommen, dass der Antragsteller minderjährig sei. Dies ist nach Aktenlage rechtlich nicht zu beanstanden.
67
Dass die auf der qualifizierten Inaugenscheinnahme beruhende Alterseinschätzung des Zugriffsjugendamts offensichtlich unrichtig wäre, lässt sich der Dokumentation der qualifizierten Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt der Stadt N. trotz nur äußerst rudimentärer Wiedergabe des konkreten Gesprächsablaufs (zum Beispiel fehlen Angaben, inwiefern das Verhalten und Auftreten eher kindlich war, s. Ziffer 5 des Erstscreeningprotokolls vom 8.9.2023) ebenso wenig entnehmen wie den sonstigen Umständen. Insbesondere kann ein Anlass zur erneuten Durchführung einer Altersfeststellung nicht allein darin gesehen werden, dass einzelne körperliche Merkmale oder vom Antragsteller berichtete Umstände aus Sicht des Antragsgegners anders zu bewerten sind als dies das Jugendamt der Stadt N. getan hat, da dessen Ersteinschätzung jedenfalls nicht unvertretbar erscheint. So geht etwa das Jugendamt der Stadt N. davon aus, dass die beim Antragsteller festgestellten Falten auf aufzehrende Lebensumstände während der Flucht zurückzuführen seien und daher keinen Anlass zu Zweifeln an der Minderjährigkeit gäben, während der Antragsgegner hierin Altersfalten sieht, die auf Volljährigkeit hindeuteten. Auch dass das Jugendamt der Stadt N. – anders als der Antragsgegner – das Alter der Mutter des Antragstellers bei der Geburt des ersten Kindes (Ende 20) und den Geburtsabstand zwischen den Geschwisterkindern von einem Jahr nicht als Ausschlusskriterium für die Minderjährigkeit des Antragstellers heranzieht, gibt keinen Anlass zu Zweifeln an der Altersfeststellung des Zugriffsjugendamts. Denn das mittlere Alter von Frauen bei der ersten Geburt ihres Kindes, welches in Afghanistan bei ca. 20 Jahren liegt, ist lediglich ein Durchschnittswert, der Abweichungen nach oben oder unten nicht ausschließt. Auch weshalb Geburten im Abstand von ca. einem Jahr nicht möglich sein sollen und weshalb dies Zweifel an der Einschätzung des Zugriffsjugendamts begründen soll, erschließt sich nicht.
68
Soweit der Antragsgegner an der Altersfeststellung des Zugriffsjugendamts bemängelt, dass hinsichtlich der Angabe unterschiedlicher Familiennamen gegenüber der Bundespolizei und im AZR einerseits sowie gegenüber dem Jugendamt andererseits und hinsichtlich der Behauptung des Antragstellers, kein Telefon zu besitzen, obwohl die Bundespolizei ein Mobiltelefon bei ihm feststellte (s. Liste der verwahrten Gegenstände der Bundespolizei vom 5.9.2023), der Sachverhalt vom Zugriffsjugendamt nicht ausreichend aufgeklärt worden sei, rechtfertigt und gebietet dies ebenfalls keine neue Altersfeststellung durch den Antragsgegner. Denn hierdurch wird die Glaubhaftigkeit der Altersangaben des Antragstellers nicht ernsthaft infrage gestellt. Der Besitz oder Nichtbesitz eines Mobiltelefons steht in keinem Zusammenhang mit der Frage der Volljährigkeit des Antragstellers. Dass er insoweit möglicherweise falsche Angaben gegenüber dem Zugriffsjugendamt gemacht hat, gibt bei ansonsten im Rahmen des Gesprächs beim Zugriffsjugendamt in den wesentlichen Punkten in sich widerspruchsfreien Angaben keine Anhaltspunkte für eine derartige Unglaubwürdigkeit des Antragstellers, dass sämtliche seiner Angaben – auch die zu seinem Alter – als falsch zu betrachten wären.
69
Auch die Angabe unterschiedlicher Familiennamen vermag die Glaubwürdigkeit des Antragstellers und die Glaubhaftigkeit seiner Altersangabe nicht derart zu erschüttern, dass das Jugendamt der Stadt N. aufgrund dessen die Minderjährigkeit hätte verneinen oder zumindest stärker in Zweifel ziehen müssen. Zwar handelt es sich beim Personennamen – wie bei der Angabe des Geburtsdatums – im deutschen Rechtssystem um ein wesentliches Merkmal zur Identifizierung einer Person. Allerdings ist nicht nachgewiesen, dass der Antragsteller über seinen Namen und damit über seine Identität hätte täuschen wollen. Denn bei dem Familiennamen, der sich aus dem Polizeiprotokoll ergibt, welches wiederum Grundlage für die Eintragung des Namens im AZR war, handelt es sich ausweislich des Erstscreeningprotokolls des Jugendamts der Stadt N. um den Vornamen des Vaters des Antragstellers. Dass in dieser variierenden Verwendung des väterlichen Namens und des „Familiennamens“ nicht ohne weiteres eine Täuschung über den eigenen Namen liegen muss, ist auf die Besonderheiten der afghanischen Namensgebung zurückzuführen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Angaben des Antragstellers gegenüber der Bundespolizei ohne Sprachmittler aufgenommen wurden, während bei dem Gespräch mit dem Jugendamt ein Dolmetscher anwesend war. Angesichts dessen liegt es unter Berücksichtigung der afghanischen Namensgebungsgewohnheiten nahe, dass es zu Missverständnissen bzw. unterschiedlichen Angaben zu dem Begriff des „Familiennamens“ gekommen sein kann und der Antragsteller bei anderen Personen (etwa seinem mitreisenden Verwandten Shams) in erster Linie unter dem Namen des Vaters bekannt ist oder der Nachname sogar variiert. Denn das afghanische Namensrecht ist nur vereinzelt kodifiziert und kennt keinen dem deutschen Recht vergleichbaren „Familiennamen“. Der Name wird in Afghanistan gewohnheitsrechtlich nicht in einen Vor- und Familiennamen eingeteilt, auch wenn zwischenzeitlich zur besseren Identifikation und in Nachahmung europäischer Bräuche vermehrt freiwillig ein „Familienname“ angenommen wird (vgl. OLG Nürnberg, B.v. 15.3.2022 – 11 W 188/22 – BeckRS 2022, 6854 Rn. 17-19, welches vor diesem Hintergrund davon ausgeht, dass bei der Eintragung von nach Recht Afghanistans bestimmten Namen eine Sortierung nach Vor- und Nachnamen ausscheidet, diese vielmehr als Eigennamen gemäß § 23 Abs. 2 und 3 PStV in das deutsche Personenstandsregister aufzunehmen seien). Dieser Name kann auf regionale, stammesmäßige, familiäre, religiöse oder historische Gegebenheiten zurückgeführt werden, ist jedoch nicht unveränderbar, sondern vielmehr wählbar. Zentral bleibt aber der vom Vater nach der Geburt gegebene Name (OLG Nürnberg, B.v. 15.3.2022 – 11 W 188/22 – BeckRS 2022, 6854 Rn. 17 f.). Nach Gewohnheitsrecht steht es dem Vater frei, dem Kind einen beliebigen Namen zu geben; dabei ist es nicht erforderlich, dass überhaupt ein Familienname gewählt wird (BMI, Rundschreiben V 5 (a) – 133 400/9 Anlage 2, gültig seit 12.12.2014, s.a. Veröffentlichung des BMI unter www.personenstandsrecht.de, Sammlung des ausländischen Namensrechts, Familienname des Kindes nach ausländischem Recht – Afghanistan, abgerufen am 18.12.2023). Soweit einem Kind manchmal nach westlicher Art der Familienname des Vaters gegeben wird, kann der Familienname des Kindes aufgrund der fehlenden offiziellen Regeln variieren. In den meisten Fällen wird der Vorname des Vaters zum Familiennamen des Kindes. Als offizieller Name gilt der Vorname, weil alle mit diesem Namen angesprochen werden. Der Familienname/Nachname drückt die Kasten- oder Stammeszugehörigkeit aus (Auskunft der Schweizerischen Vertretung in Islamabad vom 12.4.2011; vgl. zum Ganzen auch ACCORD; Anfragebeantwortung vom 24.7.2014).
70
Auch im Übrigen sind keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar, die das Jugendamt des Landratsamts M1.-S1. hätten veranlassen müssen, vor der Inobhutnahme des Antragstellers ab dem 9. Oktober 2023 eine erneute Altersfeststellung durchzuführen; die Einschätzung des Jugendamts der Stadt N. entspricht den Verfahrensstandards des § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII und erscheint in sich hinreichend schlüssig.
71
Hat aber das Jugendamt des Landratsamts M1.-S1. seiner Inobhutnahmeentscheidung zu Recht die Altersfeststellung des Jugendamts der Stadt N. zugrunde gelegt, reicht es im Rahmen des § 45 SGB X nicht aus, dass der Antragsgegner den Antragsteller nunmehr bei erstmaliger Prüfung nicht in Obhut nehmen würde. In einem solchen Fall, in dem die durch das Zugriffsjugendamt durchgeführte Altersfeststellung nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Einklang mit dem materiellen Fachrecht zustande gekommen ist, müssen nach Bescheiderlass neue Umstände hinzutreten, die die Alterseinschätzung des Zugriffsjugendamts als unrichtig erscheinen lassen, um von der materiellen Nichtberechtigung der in Obhut genommenen Person wegen Volljährigkeit und damit von der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahmeentscheidung ausgehen zu können. Die Verwaltung darf hingegen einen Verwaltungsakt nicht schon dann für rechtswidrig erklären und aufheben, wenn sie ihn nach dem jetzigen Erkenntnisstand nicht erlassen hätte. Der Verwaltungsakt muss vielmehr erwiesenermaßen rechtswidrig sein. Hierfür reicht es nicht aus, dass die Beweislage anders beurteilt wird, sondern es muss feststehen, dass tatsächliche Tatbestandsvoraussetzungen gefehlt haben. Im Falle der Verneinung der Minderjährigkeit in Abweichung von einer zuvor ordnungsgemäß nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII durchgeführten Alterseinschätzung muss dementsprechend unzweifelhaft feststehen, dass die in Obhut genommene Person nicht minderjährig ist, die frühere Alterseinschätzung also unmöglich richtig sein kann. Andernfalls würde der dem Fachrecht zugrunde liegende Zweck des Altersfeststellungsverfahren im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII unterlaufen. Das im Bereich unbegleitet eingereister ausländischer Kinder und Jugendlicher nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII, § 42a und § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII mehrstufig gestaltete System von zunächst vorläufiger Inobhutnahme mit Altersfeststellungsverfahren nach § 42f Abs. 1 SGB VIII und (erst) anschließender Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII dient nämlich wie bereits ausgeführt gerade dem Zweck, späteren Auseinandersetzungen über das Alter der ausländischen Person vorzubeugen. Die Feststellung der Minderjährigkeit im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 1, § 42 f SGB VIII soll vermeiden, dass nachfolgende Maßnahmen der Jugendhilfe (Inobhutnahme gemäß § 42 SGB VIII oder Gewährung von Hilfen zur Erziehung) revidiert und rückabgewickelt werden müssen, weil sich nachträglich herausstellt, dass der Betreffende gar nicht minderjährig ist (BVerwG, U.v. 26.4.2018 – 5 C 11/17 – juris Rn. 32). Zugleich werden hierdurch möglicherweise minderjährige Personen vor übermäßigen Eingriffen bei der Feststellung der Minderjährigkeit geschützt (vgl. BT-Drs. 18/6289, S. 2; BT-Drs. 18/6392, S. 20, wonach die Feststellung unter Achtung der Menschenwürde und der körperlichen Integrität erfolgen soll). Denn es wird verhindert, dass allein schon ein geringer Unterschied in der Bewertung der Erkenntnislage durch verschiedene, sukzessiv mit demselben Fall befasste Jugendämter dazu führt, an sich bereits durchgeführte Altersfeststellungsmaßnahmen uneingeschränkt zu wiederholen und eine einmal bewilligte Maßnahme wieder zu entziehen, ohne dass dem Berechtigten die Unsicherheit seiner Rechtsposition erkennbar wäre.
72
Neue tatsächliche oder rechtliche Umstände, die die Alterseinschätzung des Zugriffsjugendamts als fehlerhaft erscheinen lassen, liegen im streitgegenständlichen Fall nicht vor. Der Antragsgegner hat im Wesentlichen schlicht die seiner Inobhutnahmeentscheidung zunächst zugrunde gelegte Alterseinschätzung (des Zugriffsjugendamts) durch eine neue Alterseinschätzung ersetzt. Dies folgt daraus, dass sich die neue Alterseinschätzung in zentralen Punkten auf bereits im Zeitpunkt der früheren Alterseinschätzung wie auch des Erlasses der aufgehobenen Inobhutnahmeentscheidung bekannte Umstände stützt. Hierbei handelt es sich um die variierende Verwendung des Familiennamens, das Alter der Eltern im Verhältnis zum Alter des ältesten Kindes und äußerliche Merkmale wie Gesichtsfalten.
73
Neu sind hingegen vom Antragsgegner festgestellte Abweichungen in der Angabe der Fluchtdauer („ca.“ 1,5 Jahre vs. 2 Jahre), zum Abhandenkommen der Tazkira (in Bulgarien verloren vs. abgenommen) sowie in den Altersangaben der Geschwister des Antragstellers (Alter des jüngsten Geschwisterkinds von 10 Jahren vs. zwei Jahren) gegenüber dem Jugendamt der Stadt N. einerseits und dem Jugendamt des Landratsamts Main-Spessart andererseits, die Wahrnehmung des Antragsgegners, dass der Antragsteller sich planvoll verhalte und seine Vorstellungen zu seinem Aufenthalt und für seine Zukunft äußerst konkret transportiere, dass sich der Antragsteller teilweise respektlos verhalte und dass beim Antragsteller vereinzelte graue Haare feststellbar seien. Diese Umstände sind jedoch nicht geeignet, die Altersfeststellung durch das Zugriffsjugendamt als falsch zu betrachten. Dass der Antragsteller vereinzelte graue Haare hätte, ist bereits nicht hinreichend nachvollziehbar dokumentiert. Dass der Antragsteller graue Haare habe, wird erstmals in der Antragserwiderung behauptet. Dem Protokoll über die qualifizierte Inaugenscheinnahme lässt sich hingegen nicht entnehmen, dass in deren Rahmen graue Haare wahrgenommen worden wären. Auch auf den in der Behördenakte befindlichen Lichtbildern des Antragstellers sind graue Haare nicht eindeutig erkennbar. Unabhängig hiervon lassen die vom Antragsgegner genannten äußeren körperlichen Merkmale (Stirnfalten, Halsfalten, Nasolabialfalten, Augenfalten, Brustbehaarung, Bartwuchs trotz frischer Rasur, vereinzelt graue Haare) nach Überzeugung des Gerichts zudem keinen eindeutigen Schluss auf das Alter des Antragstellers zu. Denn eine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen regelmäßig keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 22). Selbst graue Haare können in Abhängigkeit von Genetik, den Lebensumständen und dem Gesundheitszustand des Betroffenen (etwa bei Stress und/oder einem Mangel an bestimmten Nährstoffen) theoretisch schon bei Jugendlichen auftreten.
74
Entsprechendes gilt hinsichtlich der vom Antragsgegner beschriebenen Verhaltensweisen. Insbesondere ein respektloses Verhalten für sich allein lässt keinen Rückschluss auf das Alter einer Person zu. Es erscheint der erkennenden Kammer, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Kinder- und Jugendhilfe und für Asylrechtsfälle bestimmter Herkunftsländer regelmäßig mit Minderjährigen zu tun hat, nicht völlig ungewöhnlich, dass Kinder und Jugendliche, gerade an der Schwelle zum Erwachsenenalter, gesellschaftliche Grenzen austesten, ausreizen, teilweise sogar überschreiten und hierbei bewusst in Kauf nehmen, andere Personen zu provozieren.
75
Bei einem Jugendlichen an der Schwelle zur Volljährigkeit, der wie der Antragsteller unbegleitet über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren durch mehrere Länder geflohen ist, überrascht ferner ein planvolles Auftreten und das Formulieren konkreter Wünsche und Bedürfnisse nicht. Es lässt sich den Ausführungen des Antragsgegners nicht entnehmen, ob bei der Würdigung des Verhaltens des Antragstellers auch geprüft und berücksichtigt wurde, inwieweit sich ein möglicherweise beobachtetes reifes Verhalten durch kulturelle Hintergründe erklären lässt oder durch den Umstand, dass der Antragsteller während seiner Flucht aus Afghanistan nach Deutschland weitgehend auf sich allein gestellt war.
76
Die geringfügigen Abweichungen in der Darstellung der Fluchtdauer von 1,5 Jahren und 2 Jahren sowie zum Abhandenkommen der Tazkira, die laut dem mit dem Antragsgegner geführten Gespräch doch nicht in Bulgarien verloren, sondern abgenommen worden sein soll, lassen ebenfalls keinen Rückschluss darauf zu, dass die Altersfeststellung des Zugriffsjugendamts falsch wäre. Dies gilt umso mehr, als der Antragsteller gegenüber dem Zugriffsjugendamt angegeben hat, er sei kognitiv „noch nicht angekommen“ und könne daher insbesondere manche Zusammenhänge der Flucht nicht genau zuordnen. Nachdem sich dies gegenwärtig nicht widerlegen lässt, erklärt dies nachvollziehbar die Abweichungen in der Fluchtgeschichte, die jedenfalls keine zentralen Fluchtumstände, bei denen größere Genauigkeit zu erwarten wäre, betreffen.
77
Was schließlich die unterschiedlichen Altersangaben des jüngsten Geschwisterkinds angeht, verwundern diese in der Tat, zumal sie nicht nur geringfügig, sondern um mehrere Jahre voneinander abweichen. Allein der Umstand, dass der Antragsteller in diesem Punkt nicht wahrheitsgemäße Angaben mindestens gegenüber einem der mit seinem Fall befassten Jugendämter gemacht hat, sagt indes nichts über sein Alter aus. Zudem schließt weder ein Geschwisterkind im Alter von zwei Jahren noch ein Geschwisterkind im Alter von zehn Jahren aufgrund des Altersabstands zum Antragsteller und unter Einbeziehung des Alters der Eltern dessen Volljährigkeit aus. Aus den widersprüchlichen Altersangaben kann daher nicht mit hinreichender Sicherheit geschlossen werden, dass die Einschätzung des Jugendamts der Stadt N., wonach der Antragsteller minderjährig sei, falsch war. Folglich lässt sich hieraus auch nicht ableiten, dass die auf die Alterseinschätzung des Jugendamts der Stadt N. gestützte Inobhutnahme durch den Antragsgegner rechtswidrig gewesen wäre. Eben dies wäre aber wie bereits ausgeführt Voraussetzung für eine Rücknahme nach § 45 SGB X. Insofern unterscheidet sich die Überprüfung einer im Einklang mit dem einschlägigen Fachrecht vorgenommenen Alterseinschätzung im Rahmen eines Rücknahmeverfahrens sowohl von der Vornahme einer erstmaligen Alterseinschätzung bei der Bewilligung bzw. Anordnung einer Maßnahme wie der vorläufigen Inobhutnahme einer ausländischen Person nach § 42a Abs. 1 SGB VIII als auch von der Überprüfung einer nicht im Einklang mit dem einschlägigen Fachrecht erfolgten Alterseinschätzung im Rahmen eines Rücknahmeverfahrens. Während das Jugendamt in den beiden letztgenannten Fällen eine eigene Bewertung (ggf. unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus einer früheren Alterseinschätzung) vornimmt, muss bei der Rücknahme einer Inobhutnahmeentscheidung nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in der erstgenannten Fallkonstellation erwiesen sein, dass die nach § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII erfolgte Feststellung der Minderjährigkeit, auf die sich die aufzuhebende Inobhutnahmeentscheidung im Einklang mit dem Fachrecht stützte, falsch war und die in Obhut genommene Person in Wirklichkeit volljährig ist.
78
Dass der Antragsgegner die Minderjährigkeit des Antragstellers anders einschätzt als das Zugriffsjugendamt, ohne dass die Fehlerhaftigkeit oder die tatsächliche Unrichtigkeit von dessen Alterseinschätzung feststünde, begründet also keine Rechtswidrigkeit der Inobhutnahmeentscheidung und rechtfertigt daher auch nicht deren Aufhebung. Damit stellt sich die streitgegenständliche Aufhebung der Inobhutnahmeentscheidung des Antragsgegners als rechtswidrig dar. Dadurch ist der Antragsteller in seinen subjektiven Rechten verletzt. Seine Klage gegen den Bescheid vom 31. Oktober 2023 wird daher voraussichtlich Erfolg haben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
79
Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass bei wertenden Einschätzungen wie der streitgegenständlichen Alterseinschätzung typischerweise nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann, dass sich die Einschätzung zu einem späteren Zeitpunkt doch noch als falsch erweist. Dennoch ist das Gericht im streitgegenständlichen Fall nicht aufgrund seiner Amtsermittlungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO gehalten, im Rahmen des Hauptsacheverfahrens weitere Maßnahmen zur Klärung des Alters des Antragstellers in die Wege zu leiten und daher im Rahmen der vorliegenden Eilentscheidung von insoweit offenen Erfolgsaussichten der Klage auszugehen. Zu weiteren Aufklärungsmaßnahmen des Gerichts bestünde bei Prüfung eines Bescheids am Maßstab des § 45 SGB X im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen die Beendigung der Inobhutnahme einer ausländischen Person allenfalls dann Anlass, wenn ein hinreichender Anlass für eine erneute Altersfeststellung vorläge. Hieran fehlt es aber im streitgegenständlichen Fall wie bereits ausgeführt gerade.
80
Schon allein deshalb hat die Klage des Antragstellers nach Aktenlage Aussicht auf Erfolg. Es kann daher dahinstehen, ob der Bescheid vom 31. Oktober 2023 auch aus anderen Gründen materiell rechtswidrig ist. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob der Antragsgegner das ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X zustehende Ermessen ausgeübt hat, und die hieran anknüpfende Frage, ob im Falle eines Ermessensnichtgebrauchs ausnahmsweise eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, so dass sich der Ermessensausfall ausnahmsweise im Ergebnis nicht auswirkt.
81
Gründe, aus denen ausnahmsweise trotz Erfolgsaussichten in der Hauptsache von einem das private Aussetzungsinteresse überwiegenden öffentlichen Interesse am Sofortvollzug auszugehen ist, sind nicht ersichtlich. Vielmehr streiten die Bedeutung des auf Art. 6 Abs. 1 GG fußenden Minderjährigenschutzes und dessen effektive Durchsetzung für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Einwände des Antragsgegners, dass der Antragsteller mit Blick auf sein erwachsenes Verhalten keinen Schutz der Jugendhilfe bedürfe, eine Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung derzeit nicht zu bewerkstelligen sei und ein Verbringen zurück in die Notunterkunft für Minderjährige für den Antragsteller keine Verbesserung gegenüber einem Verbleiben in der Gemeinschaftsunterkunft darstelle. Denn dass der Antragsteller aufgrund seines körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklungsstands keiner jugendgerechten Unterbringung bedürfte, lässt sich der Aktenlage nicht ansatzweise entnehmen. Soweit ersichtlich, hat der Antragsgegner lediglich eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchgeführt und hierbei mit dem Antragsteller über seine familiären Verhältnisse, sein Leben in Afghanistan und seine Flucht gesprochen. Dass irgendeine Form eines Clearings zur Bestimmung des spezifischen Hilfebedarfs gemäß § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII stattgefunden hätte, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte für das völlige Fehlen jeglichen Hilfebedarfs ersichtlich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Hilfebedarf auf verschiedenste Lebensbereiche erstrecken kann und nicht auf die Unterbringung beschränkt ist.
82
Dies gilt auch im Rahmen der Inobhutnahme. Abgesehen davon, dass das Gericht allein schon aufgrund der altersmäßig unterschiedlichen Bewohnerstruktur einen qualitativen Unterschied zwischen der Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft für Erwachsene und in einer Unterkunft für Minderjährige sieht, beschränkt sich auch die Wirkung der Inobhutnahme nicht auf die Bereitstellung einer geeigneten Unterkunft. Vielmehr hat das Jugendamt während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII), was beispielsweise auch eine sozialpädagogische Betreuung (vgl. § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII; Dürbeck in Wiesner/Wapler (Hrsg.), SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 26) und ggf. Unterstützung bei der Stellung eines Asylantrags (§ 42 Abs. 2 Satz 5 SGB VIII) umfasst. Wie dieser Hilfebedarf und seine Deckung im Einzelfall aussehen, ist mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme nicht entschieden. Vielmehr folgt hieraus die Verpflichtung des Jugendamts, die Inobhutnahme einstweilen wiederaufzunehmen und fortzusetzen, um in deren Rahmen gemäß § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII den spezifischen Hilfebedarf des Antragstellers und die Möglichkeiten zu seiner Deckung zu klären.
83
Die Kosten des Verfahrens hat nach § 154 Abs. 1 VwGO der Antragsgegner als unterliegender Teil zu tragen, da der Antrag in vollem Umfang Erfolg hatte. Die Entscheidung über die Gerichtskostenfreiheit stützt sich auf § 188 Satz 2 VwGO.