Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 31.01.2023 – AN 14 K 18.50050
Titel:

Situation für anerkannte subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien 

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Auch wenn anerkannt Schutzberechtigte in Bulgarien auf dem Papier bulgarischen Staatsangehörigen gleichgestellt sein mögen, ist dies in der Realität nicht der Fall. (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anerkannt Schutzberechtigten mit Kleinkind und ohne gültige Identitätsdokumente, die Bulgarien vor mehr als fünf Jahren verlassen haben, droht bei einer Rückkehr dorthin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not und eine Behandlung, die gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK verstößt. (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
in Bulgarien anerkannte subsidiär Schutzberechtigte, Familie mit 7-monatigem Kleinkind, Notwendigkeit eines Identitätsdokuments für Mietvertrag und umgekehrt, Gleichgültigkeit der bulgarischen Behörden, Rückkehr nach Bulgarien, anerkannt subsidiär Schutzberechtigte, Obdachlosigkeit, Identitätsdokument notwendig für Mietvertrag, Mietvertrag notwendig für Identitätsdokument, Gleichgültigkeit bulgarischer Behörden, Gesundheitsversorgung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4281

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. Dezember 2017 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.  

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), mit dem ihre in Deutschland gestellten Asylanträge als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung nach Bulgarien angedroht wurde.
2
Die Kläger sind syrische Staatsangehörige moslemisch-sunnitischer Religionszugehörigkeit und gehören zur Volksgruppe der Kurden. Sie sind miteinander verheiratet. Eigenen Angaben zufolge reisten sie am 24. September 2017 in das Bundesgebiet ein, stellten ein Asylgesuch und am 12. Oktober 2017 einen förmlichen Asylantrag.
3
Am 27. September 2017 stellte das Bundesamt für den Kläger zu 1) einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 für Bulgarien fest (Fingerabdrucknahme am 2. November 2016).
4
Beim persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates am 12. Oktober 2017 erklärte der Kläger zu 1), sein Herkunftsland am 20. Juni 2016 verlassen zu haben und über die Türkei, Bulgarien und Griechenland nach Deutschland gekommen zu sein. Eingereist sei er am 24. September 2017. In Bulgarien sei er am 2. November 2016 eingereist und habe sich sieben Monate in Sofia aufgehalten. Dort habe er internationalen Schutz beantragt. Die Klägerin zu 2) machte bei ihrem Gespräch entsprechende Angaben.
5
Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG am 19. Oktober 2017 erklärte der Kläger zu 1), dass es korrekt sei, dass er in Bulgarien einen Asylantrag gestellt habe. Die Bulgaren seien Rassisten und möchten keine Migranten. Er sei geschlagen worden und habe unter Druck und Gewalt seine Fingerabdrücke abgegeben. Sein Ziel sei Deutschland und nicht Bulgarien gewesen. Auf die Frage, ob über seinen Asylantrag in Bulgarien entschieden worden sei, gab er an, dass er vorher ausgereist sei. Er habe in einem Camp Miete zahlen müssen, um ein anständiges Zimmer zu bekommen. Es habe keinen Strom und kein Wasser gegeben. Er sei über eine Woche bei einem Freund, der in diesem Camp übernachtet habe, gewesen. Sie seien zu sechst in dem Zimmer gewesen. Als er nach einem Zimmer gefragt habe, sei ihm gesagt worden, er solle zu einem Hotel gehen, wenn es ihm nicht gefalle. Es habe auch einen Iraker aus … gegeben, der von den Rassisten viermal mit dem Messer gestochen worden sei. Es sei so schlecht gewesen, man könne dort nicht leben. Auf die Frage nach gesundheitlichen Einschränkungen erklärte der Kläger, dass er einen Bandscheibenvorfall gehabt habe und Bluthochdruck. Den Bluthochdruck habe er wegen des Stresses in Bulgarien bekommen. In der Unterkunft habe er Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen. Für den Bandscheibenvorfall brauche er einen Dolmetscher. Ärztliche Atteste lägen nicht vor. In einen anderen Staat wolle er nicht überstellt werden, da seine ganze Familie in Deutschland sei.
6
Die Klägerin zu 2) gab bei ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am gleichen Tag an, dass die Leute in Bulgarien sehr aggressiv zu ihnen gewesen seien. Sie seien auch misshandelt worden. Migranten in der Unterkunft seien geschlagen worden. Sie hätten Angst gehabt, die Unterkunft zu verlassen. Rassisten hätten sie als Migranten angegriffen und attackiert. Sie seien gezwungen worden, Fingerabdrücke abzugeben. Auf die Frage nach Beschwerden, Erkrankungen etc. antwortete die Klägerin mit nein. Sie sei sehr ängstlich, wenn sie lauten Krach höre, dann bekomme sie Bauchschmerzen. Polizisten seien einfach reingekommen ohne anzuklopfen. Sie sei in Bulgarien ängstlich geworden und sei derzeit traumatisiert, weil sie das dort erlebt habe. Sie habe auch Alpträume. In ärztlicher Behandlung sei sie deswegen nicht. Auch Atteste lägen nicht vor. Sie wolle in keinen anderen Staat überstellt werden, da sie sich in Deutschland am sichersten und wohlsten fühle. Sie habe zwei Brüder hier.
7
Im Rahmen seiner Anhörung am gleichen Tag gab der Kläger zu 1) unter anderem an, keinen Beruf erlernt zu haben. Er habe als Arbeiter in verschiedenen Branchen gearbeitet. Zuletzt habe er als Pizzabäcker in Damaskus gearbeitet. Die Schule habe er bis zur 8. Klasse besucht. Die Klägerin zu 2) gab bei ihrer Anhörung an, nur die erste Klasse der Schule besucht zu haben. Sie habe die Schule verlassen müssen, da ihre Mutter krank geworden sei. Sie habe als Hausfrau gearbeitet und auf die Kinder ihrer Brüder und ihre Mutter aufgepasst.
8
Das Bundesamt stellte am 23. Oktober 2017 Wiederaufnahmegesuche nach der Dublin III-VO an die bulgarischen Behörden. Diese waren jeweils auf genau bezeichnete Eurodac-Treffer gestützt, von denen der die Klägerin zu 2) betreffende sich jedoch nicht in der Bundesamtsakte befindet. Die bulgarischen Behörden lehnten die Wiederaufnahme mit zwei Schreiben vom 1. November 2017 jeweils ab, da den Klägern in Bulgarien subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Als Datum der Schutzgewährung wurde für den Kläger zu 1) der 3. April 2016 und für die Klägerin zu 2) der 3. April 2017 angegeben.
9
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2017 wurden die Asylanträge der Kläger als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tage zu verlassen, andernfalls wurde ihnen die Abschiebung, zuvorderst nach Bulgarien angedroht. Nach Syrien dürften sie nicht abgeschoben werden (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde den Klägern am 3. Januar 2018 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt. Dem Bescheid war eine Rechtsbehelfsbelehrung bezüglich einer Klagefrist von 2 Wochen beigefügt.
10
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten zu 1) vom 16. Januar 2018, das am gleichen Tag beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach einging, ließen die Kläger die vorliegende Klage erheben. Sie beantragen,
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. Dezember 2017, Aktenzeichen … wird aufgehoben.
11
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
12
Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
13
Mit Schriftsatz vom 13. Februar 2019 zeigten die weiteren Bevollmächtigten der Kläger ihre Bevollmächtigung an. Diese führten zur Begründung der Klage aus, dass den Klägern in Syrien politische Verfolgung drohe. Die Behandlung der Asylanträge in Bulgarien stehe dem Begehren nicht entgegen, weil in Bulgarien nur subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Eine Abschiebung nach Bulgarien sei aus Rechtsgründen ausgeschlossen, weil Flüchtlingen in Bulgarien generell Obdachlosigkeit und extreme Armut drohe. Es werde auf die einschlägige Rechtsprechung verwiesen. Deshalb sei die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig rechtswidrig und seien auch die Ziffern 2 und 3 des Bescheides aufzuheben, weil das Bundesamt gehalten sei, Abschiebungsverbote festzustellen.
14
Nachdem vom Gericht eine mündliche Verhandlung für den 30. November 2021 angesetzt worden war teilte der Bevollmächtigte zu 2) der Kläger mit Schreiben vom 19. November 2021 mit, dass die Klägerin zu 2) schwanger sei. Es wurde eine Kopie ihres Mutterpasses vorgelegt, nach dem der errechnete Geburtstermin der 13. Juni 2022 sei. Dadurch habe sich die Vulnerabilität der klägerischen Familie erhöht. Dies stehe eine Abschiebung nach Bulgarien im Wege. Der Verhandlungstermin wurde daraufhin von Amts wegen abgeladen.
15
Mit Schriftsatz vom 26. November 2021 teilte die Beklagte mit, dass sie an dem streitgegenständlichen Bescheid festhalte. Den Klägern drohe bei einer Rückkehr nach Bulgarien auch unter Berücksichtigung der Schwangerschaft der Klägerin zu 2) sowie wegen den Auswirkungen der Corona-Pandemie keine Verletzung des Art. 4 GRCh. Auf die beigefügte umfangreiche Stellungnahme wird inhaltlich Bezug genommen.
16
Der Bevollmächtigte zu 2) der Kläger teilte mit Schreiben vom 24. Juni 2022 mit, dass das erwartete Kind … am 10. Juni 2022 in … geboren worden sei. Ein Asylantrag für das Kind sei gestellt worden.
17
Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 1. Juli 2022 darauf hingewiesen, dass die in der Stellungnahme des Bundesamts vom 26. November 2021 zitierte Bestimmung des Art. 32 Abs. 3 des Bulgarischen Asylund Flüchtlingsgesetzes Ende 2020 aufgehoben worden sei. Die vom Bundesamt angeführte Möglichkeit, nach Anerkennung als international Schutzberechtigte weiter in der Aufnahmeeinrichtung zu leben, bestehe daher wohl nicht mehr. Eine Stellungnahme werde anheimgestellt.
18
Das Bundesamt nahm hierzu mit Schreiben vom gleichen Tag dahingehend Stellung, dass am streitgegenständlichen Bescheid festgehalten werde. In dem Schreiben, das sich im Wesentlichen mit dem Schreiben des Bundesamts vom 26. November 2021 deckt, jedoch aktualisiert ist, wird insbesondere ausgeführt, dass auf der Plattform www.refugee-integration.bg/en (zuletzt am 6.12.2021 abgerufen), einem vom Bulgarian Council of Refugees and Migrants betriebenen und vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen finanzierten Internetportal in bulgarischer und englischer Sprache würden ausführliche und aktuelle Informationen zu den jeweiligen angebotenen Möglichkeiten für internationale Schutzberechtigte in Bulgarien aufgeführt. Daneben wurde auf die Zentren für temporäre Unterbringung und die kommunalen Krisenzentren in Sofia für die Unterbringung von Bedürftigen hingewiesen. Weiter wurde auf Seite 7 der Auskunft ausgeführt, dass bei freien Kapazitäten die primären Aufnahmezentren für Asylbewerber anerkannt Schutzberechtigten für bis zu 6 Monate Unterkunft gewährten. Auf Seite 11 der Stellungnahme wurde auf einen vom BMI/Bundesamt erstellten Bericht „Aktuelle Entwicklungen zur Rechtslage und Situation von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten in Bulgarien“ vom Mai 2021 verwiesen.
19
Das Gericht hat den zuletzt genannten Bericht vom Mai 2021 mit Schreiben vom 7. Juli 2022 angefordert, da er anderweitig nicht recherchiert werden konnte. Mit Schreiben vom 19. Juli 2022 hat das Bundesamt diesen dem Gericht vorgelegt.
20
Das Gericht hat mit Schreiben vom 4. Dezember 2022 eine aktuelle Bundesamtsakte der Kläger und die aktuelle Bundesamtsakte des Sohnes … der Kläger beim Bundesamt angefordert. Beides wurde am 6. Dezember 2022 vorgelegt. In der Bundesamtsakte für den Sohn … der Kläger findet sich ein vom 29. September 2022 datierender Vermerk, wonach über den für ihn gestellten Asylantrag eine Entscheidung im nationalen Verfahren zu treffen sei.
21
Der Bevollmächtigte zu 2) der Kläger teilte mit Schreiben vom 17. Januar 2023 mit, dass das Bundesamt auf Nachfrage zum Asylverfahren des Sohnes mitgeteilt habe, dass der Asylantrag in Deutschland geprüft werden solle. Eine Entscheidung liege noch nicht vor. Die Klägerin zu 2) habe mit Kaiserschnitt entbunden, es gebe noch gesundheitliche Nachwirkungen. Möglicherweise werde noch ein aktuelles Attest vorgelegt. In der Sache wurde auf die aktuelle Rechtsprechung zur Situation von international Schutzberechtigten in Bulgarien hingewiesen. Durch den wegen des Ukraine-Kriegs ausgelösten Flüchtlingsdruck habe sich die allgemeine Situation für Asylbewerber auch in Bulgarien verschärft. Lediglich bei nicht besonders vulnerablen Personen drohe keine Verelendung. Die klägerische Familie mit einem 7-monatigen Kind bilde jedoch eine besonders vulnerable Personengruppe.
22
Das Gericht hat mit Schreiben vom 23. Januar 2023 das Bundesamt bis zur mündlichen Verhandlung um Mitteilung gebeten, ob bereits eine Entscheidung im Asylverfahren des Kindes Alan vorliege. Das Bundesamt teilte mit Schreiben vom 24. Januar 2023 mit, dass noch keine Entscheidung getroffen sei. Im Übrigen seien wegen der Auswirkungen des Ukraine-Konflikts auf das Asylsystem Bulgariens keine systemischen Mängel entstanden oder in nächster Zeit zu erwarten. Auf den Inhalt des Schreibens wird bezüglich der Einzelheiten Bezug genommen.
23
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Bundesamtsakten und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 30. Januar 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

24
Die Klage ist zulässig (hierzu 1.) und begründet (hierzu 2.).
25
1. Die Klage ist als Anfechtungsklagen gegen den Bescheid des Bundesamts vom 19. Dezember 2017 statthaft (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn.) und auch im Übrigen zulässig.
26
Sie ist insbesondere auch fristgerecht erhoben. Zwar beträgt die Klagefrist bei Bescheiden, mit denen die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG festgestellt wurde, nach § 74 Abs. 1 i.V.m. § 36 Abs. 3 AsylG grundsätzlich eine Woche. Der streitgegenständliche Bescheid war jedoch mit einer Rechtsbehelfsbelehrungfür eine zweiwöchige Klagefrist versehen. Diese war folglich unrichtig im Sinne von § 58 Abs. 2 VwGO, so dass stattdessen eine einjährige Klagefrist gilt. Diese wurde vorliegend eingehalten.
27
2. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. Dezember 2017 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
28
Aufgrund der Gewährung des subsidiären Schutzstatus in Bulgarien liegen die Voraussetzungen für die Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG grundsätzlich vor. Dass den Klägern in Bulgarien subsidiärer Schutz gewährt wurde steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der Antwort der bulgarischen Behörden auf die vom Bundesamt gestellten Wiederaufnahmegesuche nach der Dublin III-VO. Es deckt sich zudem mit den von den Klägern beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gemachten Angaben.
29
Die Asylanträge der Kläger wurden ebenso wie die an Bulgarien gerichteten Wiederaufnahmegesuche bereits unter der Geltung der Dublin III-VO gestellt (vgl. Art. 49 Dublin III-VO). Daher konnte das Bundesamt die Asylanträge wegen vorheriger Gewährung subsidiären Schutzes in Italien ohne einen Verstoß gegen Art. 52 Abs. 1, Art. 33 der RL 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie) ablehnen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-298/17).
30
b) Dem steht im vorliegenden Fall auch jedoch entgegen, dass den Klägern bei einer Rückkehr nach Bulgarien dort eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung drohen würde.
31
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann auch bei der bereits erfolgten Gewährung internationalen Schutzes die Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed – u.a., C-540/17 u.a. – juris; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris). Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, welche die Kläger als anerkannte subsidiär Schutzberechtigte in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15 unter Verweis auf EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – Rn. 35 und U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – Rn. 88). Somit sollen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung Berücksichtigung finden, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 15).
32
Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 – Anerkennungsrichtlinie) – gerecht werden, führt dabei angesichts des fundamentalen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C- 540/17 u.a. – juris Rn. 36; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16, 17).
33
Denn jeder Mitgliedstaat darf grundsätzlich davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16). Auch wenn der Schutzberechtigte in dem Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und ohne der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, kann vermutet werden, dass das Unionrecht durch den betreffenden Mitgliedstaat beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16).
34
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat das gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt und dadurch der betroffene Antragsteller tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17). Dass sich ein anderer Mitgliedstaat in diesem Falle nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU berufen darf, folgt aus dem absoluten Charakter des Verbotes in Art. 4 GRCh, wonach ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob eine solche Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17).
35
Bereits aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung „Ibrahim“ vom 19. März 2019 ergibt sich, dass Mängel des Asylsystems nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen können, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 34). Diese Schwelle soll erst dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39). Selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person ist diese Schwelle nicht erreicht, wenn diese Verhältnisse nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass diese einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 91; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39).
36
In jedem Fall muss nach den dargestellten Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs ein „real risk“ der Verletzung von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK bestehen, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 26).
37
aa) Die Verhältnisse für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien stellen sich im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) wie folgt dar:
38
Anerkannte Flüchtlinge haben – mit wenigen Ausnahmen, die die bulgarische Staatsbürgerschaft voraussetzen – grundsätzlich dieselben Rechte wie bulgarische Staatsbürger, subsidiär Schutzberechtigte haben dieselben Rechte wie Inhaber eines permanenten Aufenthaltstitels (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 13.6.2022, S. 13).
39
Dabei erhalten anerkannte Flüchtlinge ein Identitätsdokument mit einer Gültigkeit von fünf Jahren, das Identitätsdokument der subsidiär Schutzberechtigten hat eine Gültigkeit von drei Jahren (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2021 Update, S. 90). Bei Auslaufen des jeweiligen Identitätsdokuments können die Betroffenen einen neuen Aufenthaltstitel beantragen (vgl. AIDA, a.a.O., S. 93).
40
Der Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ist Voraussetzung für die Ausübung fast aller Rechte wie u.a. des Rechts, sich in Bulgarien aufzuhalten, auf Unterbringung und Versorgung, auf Sozialhilfe im gleichen Umfang wie bei bulgarischen Staatsbürgern sowie auf Krankenversicherung, medizinische Versorgung und Bildung (AIDA, a.a.O., S. 90, 88; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 14).
41
Voraussetzung für den Erhalt des Identitätsdokuments ist stets eine Registrierung in der zivilen Datenbank, bei der ein fester Wohnsitz angegeben werden muss (AIDA, a.a.O., S. 90). Dies stellt in der Praxis ein massives Problem für die Schutzberechtigten dar, denn für den für eine Wohnsitznahme erforderlichen Abschluss eines Mietvertrags ist seinerseits ein Identitätsdokument erforderlich (AIDA, a.a.O., S. 97). Die Angabe der bisherigen Flüchtlingsunterkunft als Wohnsitz wurde seitens der staatlichen Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat (State Agency for Refugees with the Council of Ministers, SAR) verboten (AIDA, a.a.O., S. 97; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 14). Dementsprechend können anerkannt Schutzberechtigte bei der Beantragung der Dokumente keine gültige Wohnanschrift angeben, da es ihnen, in Ermangelung eben dieser Identitätsdokumente, verwehrt ist, eine Wohnung anzumieten (AIDA, a.a.O., S. 90). Dies führt unter anderem zu Korruptionspraktiken mit falschen Anmietungen und Adressregistrierungen (AIDA, a.a.O., S. 90, 97).
42
Ende des Jahres 2020 wurde in Bulgarien die gesetzlich verankerte, sechsmonatige finanzielle Unterstützung bei der Unterbringung abgeschafft (AIDA, a.a.O., S. 97; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 13/14). In den Aufnahmezentren dürfen, in Ermangelung einer staatlichen Unterstützung bei der Integration, nach der Zuerkennung internationalen Schutzes nur noch manche besonders schutzbedürftigen Personen für ein paar Monate bleiben (AIDA, a.a.O., S. 97; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 13/14). Ansonsten besteht für in Bulgarien anerkannt Schutzberechtigte keine Möglichkeit der staatlichen Unterbringung mehr.
43
Die Wohnungssuche gestaltet sich auch abgesehen vom Erfordernis eines Identitätsdokuments für Schutzberechtigte in Ermangelung finanzieller Mittel als sehr schwierig (SFH, Bulgarien, Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus, Stand: 30.08.2019, S. 21). Bei der selbstständigen Suche nach Wohnraum können anerkannt Schutzberechtigte zwar auf die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen zurückgreifen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 16), es besteht jedoch Zurückhaltung bulgarischer Vermieter, Wohnungen an anerkannt Schutzberechtigte zu vermieten (vgl. Auskunft des AA an das VG Potsdam zur Lage von in Bulgarien anerkannt Schutzberechtigten, vom 11.3.2021, S. 3). Bei den vorhandenen Hilfsorganisationen selbst können Schutzberechtigte nicht längerfristig untergebracht werden (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 2, 4).
44
Der Zugang von Schutzberechtigten zu Sozialwohnungen ist eingeschränkt (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 61). In vielen Gemeinden ist Voraussetzung für den Zugang, dass mindestens ein Familienmitglied die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, was bei anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig nicht der Fall ist (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 47). Daneben verlangen die Gemeinden eine mehrjährige Mindestwohndauer im Gemeindegebiet – je nach Gemeinde zwischen zwei und zehn Jahren – als Voraussetzung für den Zugang zu Sozialwohnungen (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 47).
45
Ohne festen Wohnsitz können anerkannt Schutzberechtigte auch keine Sozialleistungen erhalten, da diese bei der zuständigen Wohnsitzbehörde zu beantragen sind (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2021 Update, S. 98). Auch hierbei darf als Wohnsitz nicht die Adresse des vorherigen Aufnahmezentrums angegeben werden (AIDA, a.a.O., S. 98; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 14). Zudem ist die Beantragung mit bürokratischen und formalen Hürden verbunden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 15), die anerkannt Schutzberechtigte nur mithilfe entsprechender Hilfsorganisationen, welche aber nicht immer verfügbar sind, überwinden können (AIDA, a.a.O., S. 98). Daneben setzen auch viele Sozialleistungen eine bestimmte Mindestwohndauer in der Gemeinde voraus, sodass sie von anerkannt Schutzberechtigten in den meisten Fällen nicht sofort beansprucht werden können (AIDA, a.a.O., S. 98).
46
Schutzberechtigte sind verpflichtet, ihr Identitätsdokument nach Gültigkeitsablauf neu ausstellen zu lassen. Eine nicht vorgenommene Erneuerung des Dokuments ist ein Grund für die Überprüfung des bereits gewährten Schutzstatus (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 3, 6). In den Jahren 2018 bis 2021 wurde über 4.200 Schutzberechtigten so der Schutzstatus entzogen (AIDA, a.a.O., S. 93, unter Berufung auf SAR, Exh. No. РД05-26/14.01.2023).
47
Schutzberechtigte haben in Bulgarien automatisch und bedingungslos Zugang zum Arbeitsmarkt (AIDA, a.a.O., S. 97). Übliche Probleme sind jedoch häufig die mangelnden Sprachkenntnisse und eine fehlende staatliche Unterstützung (AIDA, a.a.O., S. 97; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 24.07.2020, S. 21). Darüber hinaus ist auch für die Annahme einer (legalen) Erwerbstätigkeit wiederum ein gültiges Identitätsdokument erforderlich (UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 43; AIDA, a.a.O., S. 90).
48
Hinsichtlich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte bulgarischen Staatsangehörigen gleichgestellt; ab Schutzzuerkennung müssen sie monatliche Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von mindestens BGN 44,80 (22,90 EUR) selbst bezahlen (AIDA, a.a.O., S. 98 f.). Die medizinische Versorgung von Kindern unter 16 Jahren wird aus dem Staatshaushalt bezahlt (vgl. Website der Europäischen Kommission, aufgerufen am 06.09.2022 unter https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1103& langId=de& intPageId=4432). Hinzu kommen bei Ärzten und Krankenhäusern häufig sogenannte „out-of-Pocket“-Zahlungen, die ebenfalls aus eigenen finanziellen Mitteln zu erbringen sind und in Kombination mit den zu leistenden Krankenkassenbeiträgen dazu führen können, dass hinsichtlich der Zugänglichkeit zur Gesundheitsversorgung für arme Menschen Zweifel geäußert werden (BFA, UNHCR, Municipal Housing Policies: A Key Factor for Successful Integration at the Local Level, 2020 (Sofia), S. 22).
49
Problematisch ist, dass wegen des schlechten Allgemeinzustandes des Gesundheitssystems aufgrund finanzieller und materieller Defizite viele chronische Krankheiten nicht behandelt werden können und viele notwendige Medikamente nicht verfügbar sind (AIDA, a.a.O., S. 98, 40). Außerdem müssen von Rückkehrern zur Wiederherstellung ihrer Krankenversicherungsrechte alle fälligen Beiträge der letzten 60 Monate nachgezahlt werden (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 11 f. m.w.N.). Bis zur vollständigen Beitragsnachzahlung umfasst die verfügbare Gesundheitsversorgung nur Nothilfe und einzelne Leistungen wie medizinische Versorgung für gebärende Frauen und Impfungen (vgl. Website der Europäischen Kommission, aufgerufen am 31.1.2023 unter https://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1103& langId=de& intPageId=4432). Außerdem hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung ebenfalls vom Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ab (AIDA, a.a.O., S. 90).
50
Anerkannt Schutzberechtigte haben Zugang zu den Hilfeleistungen kommunaler und karitativer Einrichtungen in Bulgarien, sowie zu internationalen und bulgarischen Nichtregierungsorganisationen, wie etwa dem Bulgarischen Roten Kreuz, der Caritas oder dem vom UNHCR finanzierten Bulgarian Helsinki Commitee (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 15). Diese bieten den Schutzberechtigten Unterstützung etwa bei der Arbeitssuche, durch Geld- und Sachleistungen, Integrationsmaßnahmen (beispielsweise Sprachkurse), kurzzeitige Unterbringungsmöglichkeiten und soziale, rechtliche und psychologische Beratung (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 2, 4; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 23.6.2022, S. 15/16).
51
In Bulgarien existiert eine Integrationsverordnung vom 19. Juli 2017, die den Abschluss individueller Integrationsvereinbarungen zwischen Schutzberechtigten und dem Bürgermeister einer bulgarischen Gemeinde vorsieht (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 24.07.2020, S. 19). Möglich ist der Abschluss einer solchen Vereinbarung innerhalb von drei Jahren ab Schutzgewährung und nur auf Wunsch der Gemeinde (BFA, Bulgarien, Situation von subsidiär Schutzberechtigten, 19.07.2021 (Wien), S. 7). Eine Verpflichtung der Gemeinden zur Teilnahme an dem Integrationsprogramm oder zur Schaffung günstigerer Konditionen für die Integration gibt es nicht. Bisher wird die Integrationsverordnung schlicht nicht umgesetzt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, Stand: 24.07.2020, S. 19). Obwohl für jeden einzelnen Schutzberechtigten die finanziellen Mittel für eine Integrationsvereinbarung bereitstünden, werden diese von den Gemeinden seit Jahren nicht abgerufen (AIDA, a.a.O., S. 89).
52
Diese Feststellungen des Gerichts werden durch die im vorliegenden Verfahren abgegebenen Stellungnahmen vom 26. November 2021 und vom 1. Juli 2022 nicht substantiiert in Frage gestellt. Auf der jeweils in Bezug genommenen Internetseite www.refugee-integration.bg/en (zuletzt abgerufen durch das Gericht am 31.1.2023) findet sich unter der Rubrik „Housing“ insbesondere weiterhin ein Hinweis auf die seit Ende 2020 (s.o.) abgeschaffte sechsmonatige finanzielle Unterstützung bei der Unterbringung. Auf S. 7 der Stellungnahmen findet sich die Behauptung, dass bei freien Kapazitäten Schutzberechtigte in Aufnahmezentren für Asylbewerber für sechs Monate Unterkunft finden können. Diese Möglichkeit existiert inzwischen aber nur noch für als vulnerabel eingestufte Schutzberechtigte (s.o.). Sowohl die Stellungnahmen des Bundesamts als auch die darin in Bezug genommene Internetseite stellt damit aber in wesentlichen Bereichen nicht den aktuellen, im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) geltenden Stand dar.
53
bb) Im Falle der Kläger ist zunächst festzuhalten, dass nach der insoweit anzustellenden „realistischen Rückkehrperspektive“ (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16; VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris LS 1 und Rn. 31ff) von einer Rückkehr der Kläger nach Bulgarien zusammen mit ihrem am … 2022 geborenen Sohn … auszugehen ist. Die Kläger sind als seine Eltern für ihn sorgeberechtigt und leben mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft zusammen. Anhaltspunkte dafür, dass Bulgarien die Einreise und den Aufenthalt des Kleinkinds zusammen mit seinen Eltern nicht zulassen würde, bestehen nicht.
54
cc) Den Klägern und ihrem Sohn droht bei einer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine längerfristige Obdachlosigkeit. Es gibt für sie keine Möglichkeit, auf legalem Wege eine Unterkunft zu finden. Sie haben nach aktuellsten Erkenntnissen als anerkannt Schutzberechtigte keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Unterbringung mehr. Die Kläger könnten wegen dem *-monatigen Sohn … zwar als Vulnerable eingeordnet werden (vgl. AIDA, a.a.O., Tabelle auf S. 47: accompanied children), jedoch werden zum einen nicht alle Vulnerablen untergebracht und ist zum anderen aus den Erkenntnismitteln nicht mit der nötigen Sicherheit erkennbar, dass auch zurückkehrende Vulnerable untergebracht werden könnten (vgl. AIDA, a.a.O., S. 97: „[…] some more vulnerable beneficiaries of international protection are still allowed to remain in the reception centres for couple of months …]“). Außerdem wäre die Unterbringung selbst dann auf einige Monate begrenzt (vgl. AIDA, a.a.O., S. 97).
55
Die Kläger haben in Bulgarien keinerlei Bezugspersonen, bei denen sie unterkommen könnten, und auch bei Hilfsorganisationen ist ein längerfristiges Unterkommen nicht möglich. Eine Sozialwohnung könnten die Kläger je nach Gemeinde frühestens nach zwei Jahren erhalten und auch dann bleiben wegen der weiteren Voraussetzungen die Chancen gering. Eine Unterbringungszusicherung o.Ä. seitens der bulgarischen Behörden für die Kläger liegt ebenfalls nicht vor.
56
Die Kläger haben keine gültigen Identitätsdokumente, sodass sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung anmieten könnten, bevor sie ihre Identitätsdokumente verlängert hätten. Den oben beschriebenen Teufelskreis von Wohnsitznahme und Erhalt eines Identitätsdokuments (vgl. auch VG Freiburg, U. v. 22.09.2021 – A 14 K 1088/19 – juris Rn. 34) können die Kläger auf legalem Wege nicht durchbrechen. Selbst wenn sie auf die illegale Korruptionspraktik, einen fiktiven Mietvertrag vorzulegen, verwiesen werden dürften (bejahend OVG Lüneburg, U. v. 07.12.2021 – 10 LB 257/20 – juris Rn. 25; verneinend VG Freiburg, U. v. 22.09.2021 – A 14 K 1088/19 – juris Rn. 34), ist nicht ersichtlich, wie in ihrem konkreten Fall ein solcher fiktiver Mietvertrag erlangt werden könnte, denn die Kläger zu 1) und 2) haben in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen, dass sie über keine Beziehungen in Bulgarien verfügen. Ihr Voraufenthalt in Bulgarien liegt inzwischen gut 5 Jahre zurück und dauerte nur wenige Monate, so dass sie aus dieser Zeit keine Erfahrungen mit den Verhältnissen in Bulgarien haben, die ihnen hier weiterhelfen könnten.
57
Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Kläger zu 1) und 2) alsbald nach einer Rückkehr nach Bulgarien Arbeit finden könnten, um den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind, insbesondere eine Wohnung, Lebensmittel und Hygieneartikel, selbst zu finanzieren. Zum einen würde dies zunächst erneut am fehlenden gültigen Identitätsdokument scheitern, zum anderen kann mangels Beziehungen und Sprachkenntnissen der Kläger zu 1) und 2) nicht davon ausgegangen werden, dass sie sofort nach ihrer Rückkehr eine Anstellung finden könnten, um ihren Lebensunterhalt von Beginn an ohne jegliche staatliche Hilfe allein zu erwirtschaften. Hinzu kommt, dass realistischerweise auch nur einer der beiden Elternteile arbeiten gehen können würde, da der *-monatige Sohn noch vollständig betreuungsbedürftig ist.
58
Der Abschluss einer Integrationsvereinbarung mit einer bulgarischen Gemeinde, die nach der bulgarischen Integrationsverordnung Voraussetzung für weitergehende Unterstützungsleistungen wäre, ist ebenfalls nicht zu erwarten: Abgesehen von der nach der Auskunftslage (s.o.) sehr schwach ausgeprägten Bereitschaft der Gemeinden, derartige Vereinbarungen abzuschließen ist nach der Integrationsverordnung diese Möglichkeit zeitlich auf drei Jahre nach Schutzgewährung beschränkt. Da den Klägern bereits im April 2017 (bei dem bzgl. des Klägers zu 1) im Schreiben der Bulgarischen Behörden vom 1. November 20217 angegebenen Datum 3. April 2016 handelt es sich um einen offensichtlichen Schreibfehler) der subsidiäre Schutzstatus gewährt wurde kann für sie schon aus rechtlichen Gründen keine Integrationsvereinbarung mehr abgeschlossen werden.
59
Die besonderen Bedürfnisse der Kläger, namentlich, dass sie wegen ihres kleinen Kindes ein besonders verletzlicher Familienverband sind, dass sie auf kein soziales Netzwerk zur Unterstützung zurückgreifen können, dass ihnen keine legale Möglichkeit offensteht, ein gültiges Identitätsdokument zu erhalten und eine Unterkunft zu finden, dass sie keine finanziellen Rücklagen haben und dass sie sich schließlich auch nicht verständigen können, machen sie vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig. Aufgrund der oben beschriebenen, seit Jahren andauernden sog. „zero-integration“-Politik Bulgariens (vgl. AIDA, a.a.O., S. 88) und keiner langfristigen Unterstützungsmöglichkeit durch Hilfsorganisationen ist auch nicht erkennbar, wie die Kläger diesen Zustand in absehbarer Zeit beenden könnten.
60
Diese Situation besteht zur Überzeugung des Gerichts unabhängig von der von der Beklagten thematisierten Frage, ob die Situation für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien sich aufgrund des Zustroms ukrainischer Kriegsflüchtlinge verschlechtert hat. Diese Frage kann daher dahingestellt bleiben.
61
Dieser Abhängigkeit der Kläger stehen die bulgarischen Behörden nach Überzeugung des Gerichts mit Gleichgültigkeit gegenüber.
62
Auf staatlicher Ebene wurde nicht nur der oben beschriebene Teufelskreis aus dem Erhalt eines gültigen Identitätsdokuments und Wohnsitznahme geschaffen, sondern mit der expliziten Untersagung seitens der SAR (AIDA, a.a.O., S. 90), die vorherige Flüchtlingsunterkunft als Wohnsitz anzugeben, der einzig legale Weg für anerkannt Schutzberechtigte aus dem Teufelskreis verstellt. Indem außerdem die Möglichkeit, Integrationsverträge mit den Kommunen abzuschließen, auf drei Jahre ab Schutzzuerkennung befristet und die wenigstens sechsmonatige finanzielle Unterstützung bei der Unterbringung anerkannt Schutzberechtigter – gleichsam die letzte vorhandene Unterstützung von staatlicher Seite beim Fußfassen in Bulgarien – durch die Gesetzesänderung Ende 2020 auch noch vollständig gestrichen wurde (AIDA, a.a.O., S. 97), wird die Hilfsbedürftigkeit der Kläger de facto ignoriert.
63
Die Kommunen verhindern zum einen den unmittelbaren Zugang anerkannt Schutzberechtigter zu Sozialwohnungen durch das Erfordernis einer mehrjährigen Mindestwohndauer im Gemeindegebiet und zum anderen eine Integration der anerkannt Schutzberechtigten in die Gesellschaft, indem sie staatlich bereitgestellte Gelder seit acht Jahren ungenutzt lassen, statt durch den Abschluss von Integrationsverträgen den anerkannt Schutzberechtigten eine Teilnahme an Sprachkursen und Ausbildungen zu ermöglichen.
64
Auch wenn anerkannt Schutzberechtigte auf dem Papier bulgarischen Staatsangehörigen gleichgestellt sein mögen, ist dies in der Realität nicht der Fall (so auch VG Freiburg, U. v. 22.09.2021 – A 14 K 1088/19 – Rn. 58; VG Köln, U. v. 17.06.2020 – 20 K 5099/19.A – juris Rn. 33). Wie oben beschrieben, hängt die Ausübung der meisten Rechte vom Besitz eines gültigen Identitätsdokuments ab. Der hier angelegte Teufelskreis, den anerkannt Schutzberechtigte legal nicht durchbrechen können, entsteht für Einheimische in der Regel schon nicht, da sie in großer Mehrheit über einen Wohnsitz verfügen, den sie bei Verlängerung ihres Identitätsdokuments angeben können. Selbst wenn bulgarische Staatsangehörige obdachlos werden, ist ihnen zum einen grundsätzlich der Zugang zu Sozialwohnungen eröffnet und zum anderen dürften sie in der Regel über ein familiäres oder soziales Unterstützungsnetzwerk verfügen.
65
Den Klägern droht nach alldem bei einer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Situation extremer materieller Not, in der sie ihre elementarsten Bedürfnisse, wie insbesondere eine Unterkunft zu finden und sich zu ernähren, nicht befriedigen und die sie auch nicht durch persönliche Entscheidungen abwenden könnten. Diese Situation droht ihnen unmittelbar mit der Ankunft in Bulgarien und mangels einer absehbaren Möglichkeit, den oben beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen, auf unbestimmte Zeit. Auch aufgrund dieser Perspektivlosigkeit würden die Kläger deshalb bei einer Rückkehr nach Bulgarien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Daher besteht für die Kläger das „real risk“ einer gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung.
66
Die in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig ist daher rechtswidrig, verletzt die Klägerin in eigenen Rechten und ist auf die Anfechtungsklage hin aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
67
Die in den Ziffern 2-4 des streitgegenständlichen Bescheids getroffenen Regelungen sind wegen der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung auf die Anfechtungsklage hin ebenfalls aufzuheben, weil sie verfrüht ergangen und daher rechtswidrig sind (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 21; VG Ansbach, U.v. 28.1.2021 – AN 17 K 18.50329 – BeckRS 2021, 2474, Rn. 75).
68
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
69
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.