Titel:
kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 26 Abs. 5
Leitsätze:
1. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass eine syrische Staatsangehörige allein wegen ihrer Ausreise, ihres Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus abgeleitetem Recht ist unverzüglich nach der Einreise zu stellen; im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen erscheint insoweit eine Frist von 2 Wochen in der Regel angemessen und ausreichend. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Syrien), Keine politische Verfolgung allein wegen der (illegalen) Ausreise, des Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland, Keine Reflexverfolgung von Angehörigen von Militärdienstentziehern (hier Ehefrau), Keine Rückkehrgefährdung allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet (hier: Aleppo), Keine Rückkehrgefährdung allein wegen sunnitischer Religionszugehörigkeit, Kein Familienflüchtlingsschutz: Unverzüglichkeitserfordernis für Asylantragstellung nicht gewahrt, Syrien, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Vorverfolgung, Nachfluchtgrund, Sippenhaft, Famiieneinheit
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 05.03.2018 – W 2 K 17.33789
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4272
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. März 2018 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
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Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin von der Beklagten über den ihr zugestandenen subsidiären Schutz hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beanspruchen kann.
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1. Die Klägerin ist eine am ... 1986 in Aleppo geborene Staatsangehörige der Arabischen Republik Syrien arabischer Volkszugehörigkeit muslimischen Glaubens (Sunnitin). Mit Bescheid vom 4. März 2016 wurde dem Ehemann der Klägerin unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Die Klägerin reiste (mit ihren Kindern) am 17. Oktober 2016 im Rahmen des Familiennachzugs auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie stellte am 9. August 2017 einen Asylantrag.
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Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 5. September 2017 äußerte sich die Klägerin im Wesentlichen wie folgt:
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Syrien habe sie im Juli 2014 mit ihren Kindern (geb. 2012 und 2014) verlassen. Sie sei von Syrien mit dem Bus in die Türkei eingereist, dann habe sie etwa zwei Jahre lang illegal in der Türkei gelebt. Ihre Eltern und Brüder lebten in der Türkei. Von Antalya aus sei sie am 17. Oktober 2016 nach Frankfurt geflogen. Das Visum habe sie von der
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Deutschen Botschaft in Istanbul erhalten. Ihr Ehemann habe in Deutschland gelebt und die Ausreise organisiert. In Syrien lebten noch ein Bruder sowie die Großfamilie. Bis zur Ausreise aus Syrien habe sie in Aleppo in der Eigentumswohnung der Familie ihres Mannes gelebt. Bis 2010 habe sie als Erzieherin im Kindergarten gearbeitet. Im Mai 2014 sei eine Rakete vor ihrem Haus eingeschlagen, ein sog. „Bombenfass“. Viele seien dabei gestorben. Kurz zuvor habe sie ihren Sohn geboren. Sie habe daraufhin beschlossen, Syrien zu verlassen. Nach dem Raketenangriff habe sie mit einigen Freundinnen vor der Universität Aleppo demonstriert. Die Freundinnen seien nacheinander von der Regierung festgenommen worden. Sie habe Angst bekommen und deswegen seien sie geflohen. Sie sei nicht für die Partei politisch tätig gewesen. Es sei lediglich eine friedliche Demonstration im Juni 2014 geplant gewesen, bei der dann ca. 300 Personen demonstriert hätten. Die Demonstrationsteilnehmer seien von Sicherheitskräften der Regierung angegriffen worden und sie seien daraufhin auseinandergegangen. Über die Demonstration sei nicht öffentlich berichtet worden. Familienangehörige ihrer Freundinnen hätten sie über deren Verhaftung informiert. Seit drei Jahren wisse sie nichts mehr von ihnen. Ihr Ehemann habe nicht demonstriert. Er habe nicht mitbekommen, was sie mit dem Raketenangriff erlebt habe. Ihr Wohngebiet sei sunnitisch gewesen. Die Regierung habe gesagt, dass dort schiitische Leute hätten angegriffen werden sollen. Als sie mit ihren Freundinnen bei Laila A. gewesen wären, hätten sie über den Raketenangriff gesprochen und beschlossen vor der Universität zu demonstrieren. Ca. eine Woche später habe die Demonstration dann stattgefunden. Laila sei Religionslehrerin und habe vor ihrer ca. 20-Personen-Gruppe über die anstehende Demonstration gesprochen. Eine Woche später hätten sie sich an der Universität getroffen. Unterwegs hätten sich weitere Leute angeschlossen. Etwa eine halbe Stunde danach seien sie angegriffen worden. Die Schiiten hätten sie gehasst und jeden Sunniten töten wollen. Sie habe sich am Ende der Demonstration befunden und sei so schnell wie möglich geflohen. Es seien viele Menschen dort gewesen und sie habe sich in der Menge verstecken können. Erst später im Religionsunterricht habe sie bemerkt, dass eine Freundin nach der anderen verschwunden sei, bis eines Tages auch Laila verschwunden sei. Gleich nach der Demonstration habe sie ihre Wohnung verlassen, weil sie Angst gehabt habe, mitgenommen zu werden. Sie sei zur Tante ihres Ehemannes in Aleppo geflohen. Etwa einen Monat nach der Demonstration seien sie ausgereist. Auf Frage, wie sie dann den Religionsunterricht noch habe besuchen können, erklärte die Klägerin, sie habe den Religionsunterricht noch etwa zwei- oder dreimal besucht und in der Zeit seien die Gruppenmitglieder verschwunden. Schon nach dem ersten Treffen hätten einige Mitglieder gefehlt, sie hätten gedacht, dass es dafür private Gründe gebe. An eine Festnahme hätten sie nicht gedacht. Sie hätten die Leute auch nicht per Handy anrufen wollen, weil sie Angst vor Abhören und Nachfragen gehabt hätten. Sie wisse nicht, von wem die Freundinnen entführt worden seien. Die Entführer müssten aber logischerweise von der Regierung sein. Zu dieser Zeit sei jeder irgendwann demonstrieren gegangen, auch Frauen. Es habe immer wieder Demonstrationen gegeben. Sie habe sich aber lediglich an dieser friedlichen Demonstration beteiligt und weiter nichts gemacht. Ihre konkreten Ausreisegründe seien folgende gewesen: Angst davor, dass ihr Name wegen der Demonstrationsteilnahme unter Druck preisgegeben werde, dass sie verhaftet und getötet werde, Angst um ihre Kinder und Angst, weil sie Sunnitin sei.“
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Das Bundesamt erkannte die Klägerin mit Bescheid vom 17. November 2017 als subsidiär Schutzberechtigte an und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab.
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2. Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg. Das Verwaltungsgericht hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Beklagte mit Urteil vom 5. März 2018 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
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3. Die Beklagte hat die mit Beschluss vom 26. Februar 2019 zugelassene Berufung insbesondere unter Bezugnahme auf die Senatsrechtsprechung begründet.
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Zu einem Anspruch der Klägerin nach § 26 Abs. 5 i.V.m Abs. 1 AsylG hat die Beklagte sich dahingehend geäußert, dass Familienschutz nicht gewährt werden könne, da die Antragstellung nicht zügig nach Einreise erfolgt sei. Die Klägerin berufe sich zwar auf „Unwissenheit“, dies sei aber angesichts der Tatsache, dass sie bewusst im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland gekommen sei, nicht glaubhaft. Zudem habe sich der Ehemann der Klägerin schon seit Ende 2015 in Deutschland aufgehalten, so dass die Klägerin somit über die Vorgehensweise im Asylverfahren hinreichend informiert gewesen sein dürfte.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung abzuweisen.
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Die nicht anwaltlich vertretene Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
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Die Landesanwaltschaft Bayern als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat sich nicht geäußert.
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5. Die Beteiligten wurden mit gerichtlichem Schreiben vom 26. Januar 2023 unter Übersendung der Erkenntnismittelliste Syrien zu einer Entscheidung durch den Senat nach § 130a VwGO angehört.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten und auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.
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Der Senat trifft diese Entscheidung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss (§ 130a Satz 1 VwGO), weil er die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen sind in der Senatsrechtsprechung seit längerem geklärt. Die Klägerin hat auch keine Gesichtspunkte vorgetragen, die eine mündliche Verhandlung geboten erscheinen lassen.
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. März 2018 ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und 1 AsylG aus eigenem Recht (1.), noch aus abgeleitetem Recht (2.) (§ 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG; § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 und 1 AsylG aus eigenem Recht.
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Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer – soweit hier von Interesse – Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin weder im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Arabischen Republik Syrien vor (1.1), noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat (1.2).
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1.1 Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne von § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, liegen nicht vor. Die Klägerin hat keine gegen sie selbst gerichtete Verfolgungshandlung geltend gemacht. Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin durch ihre geschilderte einmalige Teilnahme an einer friedlichen Demonstration, an der ca. 300 Personen teilgenommen hätten und bei der ihr, nachdem syrische Sicherheitskräfte zur Auflösung der Demonstration erschienen seien, unerkannt die Flucht gelungen ist, ins Visier der syrischen Sicherheitskräfte geraten sein könnte. Soweit die Klägerin ausgeführt hat, dass die Religionslehrerin, die die Demonstration organisiert haben soll, sowie einige ihrer teilnehmenden Freundinnen verschwunden seien, handelt es sich schon nach ihren eigenen Ausführungen um Vermutungen, dass diese von Regierungsleuten verhaftet worden seien. Sie gab an, dass sie nicht wisse, von wem die Freundinnen verhaftet worden seien. Schließlich gab sie an, dass sie bei den zwei- bis drei Treffen, die sie nach der Demonstration bis zu ihrer Ausreise noch besucht haben will, geglaubt hätten, die Gruppenteilnehmerinnen fehlten aus privaten Gründen. An eine Festnahme hätten sie nicht gedacht. Sie hätten nicht per Handy nachgefragt. Die Informationen will die Klägerin von Familienangehörigen der verschwundenen Freundinnen erhalten haben, die ihr auf der Straße über den Weg gelaufen seien. Letztlich ist dem Vortrag der Klägerin zu entnehmen, dass sie keine konkrete Kenntnis über den Verbleib der Freundinnen erlangt hat, sondern dass insoweit ihre Einschätzung auf Vermutungen und nicht auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruht.
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1.2. Die Klägerin kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nichts daraus für sich ableiten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht nicht.
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Davon wäre nur dann auszugehen, wenn der Klägerin bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohte, so dass ihr nicht zuzumuten wäre, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Klägerin nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
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Nach diesem Maßstab und nach der Erkenntnislage im maßgeblichen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) Zeitpunkt hat der Senat unter Berücksichtigung des Charakters des syrischen Staates (1.2.1) die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle allein wegen ihrer Ausreise, ihres Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland eine politische Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (1.2.2). Für die Klägerin besteht auch unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft für eine Militärdienstentziehung eines nahen Angehörigen (Ehemann) keine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (1.2.3). Schließlich ist eine politische Verfolgung der Klägerin auch nicht im Hinblick auf ihre Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet oder ihrer Zugehörigkeit zur sunnitischen Religion beachtlich wahrscheinlich (1.2.4).
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1.2.1 Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich unter erheblichen Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht – Essay“ vom 19. Februar 2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet im Ganzen betrachtet zielgerichtet und ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update VI, März 2021, S. 95 – im Folgenden UNHCR International Protection Considerations 2021; siehe auch Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 8 – im Folgenden: UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Mittlerweile sollen bislang über 14.500 Menschen in syrischen Gefängnissen durch Folter oder aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen gestorben sein. Das syrische Regime macht in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten, sondern benennt zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und ähnliches (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29.11.2021, S. 20 u. 21).
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1.2.2 Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle mit äußerster Härte vorgehen, ist es zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin allein wegen ihrer Ausreise, ihres Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (ebenso mit zum Teil abweichender Begründung: VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 24.3.2021 – 2 LB 123.18; OVG Hamburg, U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17.A; HessVGH, U.v. 23.8.2021 – 8 A 1992/18.A; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147.18; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A; OVG RhPf, U.v. 12.4.2018 – 1 A 10988.16; OVG Saarl, U.v. 14.11.2018 – 1 A 609.17; SächsOVG, U.v. 21.8.2019 – 5 A 50/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 – 5 LB 34.19; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 – 3 KO 155.18 – alle juris).
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Insoweit wird zur Darlegung der maßgebenden Erwägungen auf die bisherige Rechtsprechung des Senats Bezug genommen (vgl. etwa U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 37 ff.; U.v. 8.12.2021 – 21 B 19.33948 – juris Rn. 21ff.). Der Bericht des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 über die Lage in der Arabischen Republik Syrien gibt keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Darin ist unter anderem ausgeführt, immer wieder seien Rückkehrer, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt seien oder auch nur als solche erachtet würden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen bis hin zu unmittelbarer Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt; selbst bislang als regimenah geltende Personen könnten aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29.11.2021, S. 27). Diese Ausführungen sind zu allgemein gehalten, um daraus die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung jedweden Rückkehrers ableiten zu können (so bereits OVG NW, U.v. 18.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris Rn. 37 zum insoweit inhaltsgleichen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 20.11.2019).
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Weitere hinzugekommene Erkenntnisse bestätigen die bisherige Rechtsprechung des Senats. So ist nach den Feststellungen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (EZKS) davon auszugehen, dass an den internationalen Flughäfen Syriens über bestimmte, als regimekritisch wahrgenommene Personen computergestützt Informationen vorliegen. Deshalb drohen einem Rückkehrer, der nicht explizit als politischer Oppositioneller aufgefallen ist, keine Repressionen (vgl. EZKS, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11.3.2019). Das entspricht den Erkenntnissen der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde. Danach wird eine Person, die auf einer Fahndungsliste steht, bei der Einreise am Flughafen verhaftet, während Syrer, die nicht in einer Fahndungsliste angeführt sind, im Allgemeinen unbehelligt bleiben (Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests SYR106356.E, 9.9.2019, S. 3). Nach den dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vorliegenden Informationen kann die Aufnahme in die Listen der Personen, die als regimefeindlich angesehen werden, aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zu den als regimefeindlich erachteten Personen gehören nach einigen dem österreichischen Bundesamt zur Verfügung stehenden Quellen unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten, Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffen der Regierung verbreitet haben, sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 14.1.2022, S. 150). Angesichts dieser konkreten Aufzählung von Personen, die seitens der syrischen Regierung als oppositionell oder regimefeindlich erachtet werden, ist eine vollkommen willkürliche Aufnahme in die Liste der regimefeindlichen Personen zur Überzeugung des Senats nicht der Regelfall. Die Tatsache, dass der syrische Staat nicht unterschiedslos jeden Rückkehrer als regierungsfeindlich betrachtet, zeigt sich zudem daran, dass die illegale Ausreise im Falle einer Rückkehr für sich genommen im Regelfall von den syrischen staatlichen Stellen nicht geahndet wird. Vielmehr haben nur solche Personen Probleme bei der Rückkehr, die anderweitig in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind (vgl. Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 21; Accord – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Syrien: Information zur Anwendung des Gesetzes Nr. 18 von 2014 bezüglich der illegalen Ausreise, 9.8.2019; The Danish Immigration Service, Syria – Consequences of illegal exit, consequences of leaving a civil servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, Juni 2019, S. 7).
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Soweit Amnesty International im September 2021 davon berichtet, dass der syrische Geheimdienst Rückkehrer rechtswidrig und willkürlich verhafte, foltere oder in sonstiger Weise misshandle und (zumindest vorübergehend) verschwinden lasse, weil wegen der Flucht aus Syrien oder des Landes, in dem sie Schutz gefunden hätten, generell eine Zugehörigkeit zur Opposition unterstellt werde, stützt sich diese Annahme auf die Ermittlung der Schicksale von 66 Personen, die im Zeitraum von Mitte 2017 bis Frühjahr 2021 nach Syrien zurückgekehrt sein sollen, wobei die Recherche von Juli 2020 bis Juni 2021 erfolgte (vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ – Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, 9/2021, S. 5, 9f., 23ff.). Die sich auf eine so geringe Zahl von Rückkehrern beziehenden Erkenntnisse können zumindest vor dem Hintergrund, dass auch nach Angaben von Amnesty International im Zeitraum von 2016 bis Mai 2021 jedenfalls mehr als 280.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt sind (vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ – Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, 9/2021, S. 11f.), nicht als repräsentativ angesehen werden und sind allein deshalb ungeeignet, die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung jedes Rückkehrers nur wegen seiner (illegalen) Ausreise, seines Asylantrags und seines Aufenthalts in Deutschland zu rechtfertigen. Dies gilt umso mehr, als die im Amnesty-Bericht erwähnten 24 Fälle, in denen Rückkehrern allein wegen ihrer Flucht eine Unterstützung der Opposition unterstellt worden sein soll, und die 15 Fälle, in denen Rückkehrern wegen des Ortes, an den sie geflüchtet seien, vorgeworfen worden sein soll, Terroristen zu sein, nicht näher und damit nicht nachvollziehbar geschildert werden. Hinzukommt, dass – wie in anderen Erkenntnisquellen (vgl. The Danish Immigration Service, Syria. Security clearance and status settlement for returnees, 12/2020, S. 5) – von sog. wanted lists als Anknüpfungspunkt für eine Verfolgung von Rückkehrern die Rede ist (vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ – Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren, 9/2021, S. 18ff., 33) und gleichzeitig nicht ersichtlich ist, dass alle ins Ausland bzw. alle nach Deutschland Geflüchteten automatisch auf solchen Listen geführt werden.
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1.2.3 Der Klägerin droht auch unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft keine politische Verfolgung.
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Zur Überzeugung des Senats ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass männliche Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Militärdienstpflichtige, Reservisten) allein deshalb in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung eine Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben. Zur Darlegung der insoweit maßgebenden Erwägungen wird auf die Rechtsprechung des Senats Bezug genommen (vgl. insbesondere BayVGH: U.v. 3.1.2022 – 19.32835 – juris Rn. 25f.; U.v. 8.12.2021 – 21 B 19.33948 – juris Rn. 25ff.; U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn.40ff.; im Ergebnis ebenso VGH BW, U.v. 4.5.2021 – A 4 S 468.21; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 – 1 Bf 81/17.A; OVG MV, U.v. 26.5.2021 – 4 L 238.13; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147.18; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A; OVG RhPf, U.v. 24.1.2018 – 1 A 10714/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 26.4.2018 – 1 A 543.17; SächsOVG, U.v. 22.9.2021 – 5 A 855/19.A und v. 28.5.2021 – 3 B 42.18; OVG LSA, U.v. 1.7.2021 – 3 L 154.18; HessVGH, U.v. 23.8.2021 – 8 A 1992/18.A – BeckRS 2021, 23668; OVG SH, U.v. 7.3.2019 – 2 LB 29.18 und U.v. 10.7.2019 – 5 LB 23/19; a.A. OVG Berlin-Bbg, U.v. 29.1.2021 – 3 B 109.18; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 – 3 KO 155.18 – alle juris).).
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Muss ein syrischer Mann im militärdienstpflichtigen Alter allein wegen seiner Militärdienstentziehung nicht beachtlich wahrscheinlich mit einer politischen Verfolgung rechnen, hat die Klägerin eine solche erst Recht nicht deshalb zu befürchten, weil sich ein naher Angehöriger (insbesondere Ehemann) dem Militärdienst entzogen hat. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass die vom Dänischen Einwanderungsdienst befragten Auskunftspersonen überwiegend bekundeten, es hätte für die Familien keine Folgen, wenn sich ein Familienmitglied dem Militärdienst entzogen habe (The Danish Immigration Service, Syria: Military Service, May 2020, S. 36; The Danish Immigration Service, Syria. Security clearance and status settlement for returnees, 12/2020, S. 11). Dies entspricht auch der bisherigen Einschätzung des Senats (vgl. BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 40 ff; U.v. 12.4.2019 – 21 B 32459 – juris Rn. 76 ff.; U.v. 21.9.2020 – 21 B 19.32725 – juris Rn. 67). Vor diesem Hintergrund kann eine eventuelle Militärdienstentziehung eines nahen Angehörigen der Klägerin auch nicht als zusätzlicher signifikanter gefahrerhöhender Umstand angesehen werden (vgl. BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30338 – juris Rn. 70, 83; U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris Rn. 35, 39; U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30643 – juris Rn. 44, 48), der im konkreten Einzelfall dazu führte, dass die Klägerin wegen ihrer Ausreise, ihres Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Oppositionelle betrachtet würde und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hätte.
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1.2.4 Es ist zur Überzeugung des Senats auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte die Klägerin im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien im Hinblick darauf menschenrechtswidrig behandeln werden, dass sie aus Aleppo stammt und der sunnitischen Religion zugehörig ist.
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Die Klägerin hat in Bezug auf ihren Herkunftsort keine konkreten Umstände vorgetragen, die sich in ihrem konkreten Fall als risikoerhöhend darstellen. Nach Auswertung der Erkenntnislage besteht für einen Rückkehrer allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel keine Rückkehrgefährdung (vgl. Urteile des Senats vom 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 82 ff.; 21.9.2020 – 21 B 19.32725 – juris Rn. 68 ff.; ebenso VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; BayVGH, B.v. 30.6.2020 – 20 B 19.31187; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 20.2.2019 – 2 LB 122.18; OVG Hamburg, U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17.A; HessVGH, U.v. 23.8.2021 – 8 A 1992/18.A, 23668; OVG MV, U.v. 26.5.2021 – 4 L 238.13; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147.18; OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A; OVG RhPf, B.v. 6.2.2018 – 1 A 10849/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 25.7.2018 – 1 A 621.17; SächsOVG, U.v. 6.2.2019 – 5 A 1066/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 – 5 LB 34.19 – alle juris).
34
Zwar erwähnt der UNHCR Berichte, die darauf hindeuten würden, dass die syrische Regierung im Allgemeinen solche Zivilpersonen als der bewaffneten Opposition zugehörig betrachte, die in Gebieten wohnen oder aus Gebieten stammen würden, in denen es zu Protesten der Bevölkerung gekommen sei und/oder in denen die bewaffnete Opposition in Erscheinung trete oder (zumindest zeitweise) die Kontrolle übernommen habe (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12). Allerdings wird das lediglich unter Verweis auf die 5. aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ belegt. Diesen wie auch den aktuellen „Erwägungen“ kann jedoch nicht entnommen werden, dass allein die Herkunft aus einem (vermeintlichen) Oppositionsgebiet eine Rückkehrgefährdung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründet, denn darin kommt der UNHCR letztlich zu dem Ergebnis, er sei der Auffassung, dass Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen, die als regierungsfeindlich angesehen würden, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe wahrscheinlich internationalen Schutz benötigten (vgl. UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, November 2017, S. 43; UNHCR, International Protection Considerations 2021, S. 115). Das bestätigt, dass es keinen Generalverdacht gegen alle Rückkehrer aus entsprechenden Regionen gibt.
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Im Einklang damit kann Auskünften des Auswärtigen Amts entnommen werden, dass eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebieten letztlich nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände anzunehmen ist und es deshalb vom Einzelfall abhängig ist, ob Personen, die aus solchen Gebieten kommen, bei ihrer Einreise nach Syrien festgenommen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.2.2019 und Auskunft an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 17.10.2017).
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Die Auskunft von Amnesty International an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 13. September 2018 (S. 2), wonach (allein) wegen der Herkunft aus einem vormals durch die Opposition besetzten Gebiet die Gefahr bestehe, dass die betreffende Person bei der Einreise aufgrund ihrer Herkunft festgenommen oder misshandelt werden könnte, veranlasst keine andere Bewertung. Amnesty International verweist insoweit lediglich auf die Herkunftslandinformationen des UNHCR vom November 2017, die eine solche Einschätzung – wie dargelegt – nicht tragen (so bereits OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17 – juris Rn. 48). Soweit Amnesty International im September 2021 davon berichtet, dass Rückkehrer aus unterschiedlichen Gründen verhaftet würden, u.a. weil sie (vermeintlich) aus einem Gebiet stammten, das unter der Kontrolle der Opposition gestanden habe (vgl. Amnesty International, „Du gehst in den Tod“ – Verletzungen gegen syrische Flüchtlinge, die nach Syrien zurückkehren“, 9/2021, S. 32, 36, 43), sind diese Aussagen – wie dargelegt – nicht als repräsentativ anzusehen und daher ungeeignet, die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung von Rückkehrern allein wegen der (vermeintlichen) Herkunft aus einem oppositionellen Gebiet zu rechtfertigen. Im Übrigen wird die Einschätzung des Senats, wonach allein die Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel nicht beachtlich wahrscheinlich dazu führt, dass die syrischen staatlichen Stellen dem Betroffenen eine oppositionelle Gesinnung zusprechen und ihn deshalb verfolgen, auch durch die Erkenntnisse des Dänischen Einwanderungsdienstes(DIS)/Dänischen Flüchtlingsrats (DRC) bestätigt (Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria – Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.).
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Im Ergebnis besteht zur Überzeugung des Senats eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus bestimmten Gebieten nicht bereits allgemein, sondern nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände, die den Rückkehrer in irgendeiner Weise in „Oppositionsnähe“ bringen. Solche zusätzlichen konkreten Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen.
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Auch allein die sunnitische Religionszugehörigkeit der Klägerin wird die syrischen Sicherheitskräfte nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgungsmaßnahmen veranlassen (vgl. BayVGH, U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris Rn. 45). Der UNHCR hält seine in der 4. aktualisierten Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ (dort S. 26) getroffene sehr weitgehende Wertung nicht mehr aufrecht, wonach Mitglieder religiöser Gruppen einschließlich Sunniten, Alawiten, Ismailis, Zwölfer-Schiiten, Drusen, Christen und Jesiden ein Risikoprofil erfüllten. Stattdessen ist er nunmehr der Ansicht, Mitglieder religiöser und ethnischer Minderheiten in den von der Regierung beherrschten Gebieten benötigten „je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer Religion, ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe gegebenenfalls internationalen Schutz (vgl. UNHCR-Erwägungen März 2021, S. 171, vgl. auch UNHCR-Erwägungen November 2017, S. 63). Das steht im Einklang damit, dass dem syrischen Regime und dessen Streitkräften auch Sunniten angehören und der überwiegende Teil der syrischen Bevölkerung sunnitischen Glaubens ist (ebenso NdsOVG, U.v. 18.4.2018 – 2 LB 101.18 – juris Rn. 68; VGH BW, U.v. 9.8.2017 – A 11 S 710.17 – juris Rn. 48).
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2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus abgeleitetem Recht nach § 26 Abs. 5 Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach hat der Ehegatte eines unanfechtbar anerkannten Flüchtlings unter den dort genannten Voraussetzungen einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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Dem Ehegatten der Klägerin wurde unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt (Bescheid vom 4. März 2016). Der Anspruch der Klägerin scheitert jedoch daran, dass die Klägerin ihren Asylantrag nicht unverzüglich nach ihrer Einreise am 17. Oktober 2016 gestellt hat (§ 26 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 AsylG), sondern erst am 9. August 2017.
41
Gemäß § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG wird dem Ehegatten eines Flüchtlings die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er vor der Zuerkennung von dessen Flüchtlingseigenschaft eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat.
42
„Unverzüglich“ bedeutet nach der Legaldefinition in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB ohne schuldhaftes Zögern (BVerwG, U.v. 13.5.1997 – 9 C 35.96 – juris Rn. 10). Der Antrag muss danach zwar nicht sofort, aber – unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände der Klägerin – alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits der Klägerin eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG verfolgte Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen (BVerwG, U.v. 13.5.1997 – 9 C 35.96 – juris Rn. 10). Ein anderes Verständnis widerspräche dem Zweck des Unverzüglichkeitserfordernisses, den Zusammenhang zu dem Asylverfahren des Stammberechtigten klar- und sicherzustellen. Der Gesetzgeber hat die Wahrung der Familieneinheit über die statusrechtliche Zuerkennung von Familienschutz mit dem Erfordernis eines auch zeitlichen Konnexes zu Verfolgung, Flucht und Schutzbegehren des Stammberechtigten verknüpft. Insoweit durfte er es insbesondere dem nachträglich einreisenden Ehegatten überlassen, ob er durch eine unverzügliche Antragstellung sein Begehren, die Familieneinheit auch statusrechtlich herzustellen und die Berufung auf das gemeinsame Verfolgungsschicksal zu betonen, in einen Zusammenhang zu dem Schutzbegehren des Stammberechtigten stellen will (BVerwG, B. v. 21.12.2021 – 1 B 35/21 – juris Rn. 15).
43
Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen erscheint insoweit eine Frist von 2 Wochen in der Regel angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (BVerwG, U.v. 13.5.1997 – 9 C 35.96 – juris Rn. 10). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
44
Die Klägerin ist am 17. Oktober 2016 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Ihren Asylantrag hat die Klägerin erst am 9. August 2017 – fast 10 Monate nach ihrer Einreise – und mithin nicht unverzüglich gestellt. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 5. September 2017 hat die Klägerin auf die Frage, aus welchen Gründen sie den Asylantrag nicht gleich nach ihrer Ankunft gestellt habe, geantwortet, sie hätten nicht gewusst, dass sie einen Asylantrag hätten stellen müssen. § 26 AsylG sieht jedoch keine diesbezüglichen Hinweis- und Belehrungspflichten vor (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 11.5.2021 – 9 LA 124/20 – juris Rn. 17 m.w.N.; BayVGH, B. v. 17.1.2019 – 20 ZB 18.32762 – juris Rn. 8). Auch auf eine Kenntnisnahme der erforderlichen Umstände kommt es nicht an (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 22.3.2022 – 9 LA 242/21 -juris Rn. 13).
45
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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5. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.