Inhalt

VGH München, Beschluss v. 23.02.2023 – 19 ZB 21.1371
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung in einem ausländerrechtlichen Verfahren (Ausweisung)

Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
StGB § 57
AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, § 53, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1 lit. b, Nr. 4
Leitsätze:
1. Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar; von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (Anschluss an BVerfG BeckRS 2021, 40836). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen kann trotz einer Straf(rest)aussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein, wenn entweder eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts gegeben ist oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers vorliegen, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel ist wesentlich geringer als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose (Fortführung von. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Katalogisierung von Bleibeinteressen in § 55 AufenthG schließt es nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, Straf-/Maßregelvollzugsaussetzung zur Bewährung, Wiederholungsgefahr, Zäsur, Deutsches Kind, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Betäubungsmittel, Handeltreiben, Aussetzung zur Bewährung, deutsches Kind
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 17.03.2021 – AN 11 K 19.457
Fundstelle:
BeckRS 2023, 4269

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 17. März 2021 bleibt ohne Erfolg.
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1. Der Kläger wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 17. März 2021 (Az.: AN 11 K 19.00457), durch welches seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2019 (in der geänderten Fassung vom 17.3.2021) abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Kläger (nach Anhörung) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. I des Bescheides) sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf acht Jahre ab der Ausreise bzw. Abschiebung befristet (Nr. II des Bescheides). Die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wurde von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 17. März 2021 auf fünf Jahre herabgesetzt.
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1.1 Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger, geboren am ... 1995, reiste am 2. November 2015 gemeinsam mit seinem Vater und seinem älteren Bruder erstmals in das Bundesgebiet ein. Der Asylantrag des Klägers vom 8. Februar 2016 wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt – vom 30. Dezember 2016 abgelehnt, der Bescheid ist bestandskräftig geworden (Klageabweisung durch VG Ansbach, U.v. 14.9.2018 – AN 1 K 17.30089, rechtskräftig geworden mit Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung durch BayVGH, B.v. 22.8.2019 – 14 ZB 19.30019). Am 10. Januar 2020 schloss der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen die Ehe, welche am 2. Juni 2022 rechtskräftig geschieden wurde. Der Kläger ist Vater eines am ... 2020 geborenen Sohnes mit deutscher Staatsangehörigkeit, für den er gemeinsam mit der Mutter des Kindes das Sorgerecht ausübt. Eine Berufsausbildung hat der Kläger nicht durchlaufen, er ging bislang im Bundesgebiet auch keiner Erwerbstätigkeit nach. Am 31. März 2021 erhob der Kläger eine auf Duldungserteilung gerichtete Klage (Az.: AN 11 K 21.00585) und beantragte einstweiligen Rechtsschutz nach § 123 VwGO (Az.: AN 11 E 21.00584). Den Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (sowie die zugleich gestellten Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für das Klage- und Eilverfahren) lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. April 2021 ab, das hiergegen von dem Kläger angestrengte Beschwerdeverfahren (Az.: 19 C 21.1258) wurde nach Duldungserteilung durch die Beklagte am 12. Oktober 2021 mit Beschluss vom 2. November 2021 eingestellt (ebenso die Beschwerdeverfahren bezüglich der Ablehnungen der PKH-Bewilligung, Az.: 19 C 21.1260, 19 C 21.1261).
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1.2 Den Anlass für die streitgegenständliche Ausweisung bildete eine rechtskräftige Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Nürnberg-Fürth vom 1. März 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB angeordnet wurde. Dem lag zugrunde, dass der Kläger und drei Mittäter – darunter der Vater sowie der ältere Bruder des Klägers – in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken bei mehreren Gelegenheiten Heroin erwarben und weiter veräußerten bzw. zum Eigenkonsum in Besitz nahmen. Im Einzelnen stellte das Strafgericht folgende Sachverhalte fest: Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt zwischen August 2016 und dem 30. April 2017 bewahrte der Kläger im Stadtgebiet von N. einen Heroinstein mit einem Gewicht von 64g auf. Des Weiteren bewahrte er zwischen dem 11. Februar und dem 3. März 2017 in N. bei einem Dritten mindestens 57g vorher von einem unbekannten Verkäufer erworbenen Heroins auf, welches er jeweils zur Hälfte weiter zu veräußern bzw. zum Eigenkonsum zu verwenden beabsichtigte. Die zum Weiterverkauf bestimmte Teilmenge veräußerte der Kläger, in kleine Verkaufsportionen aufgeteilt, sodann im März und April 2017. Des Weiteren bewahrte der Kläger am 14. Mai 017 im Stadtgebiet von N. eine Menge von 50,23g Heroin zum Zweck des Weiterverkaufs auf, welches er kurz zuvor von dem anderweitig rechtskräftig verurteilten T. zum Preis von 2.000,00 EUR gekauft und übernommen hatte. Dieses Heroin verkauften der Kläger und der Mittäter R. jeweils mit Gewinnerzielungsabsicht in zwei Teilmengen von 1,13g und 49,1g noch am selben Tag bzw. am Folgetag in N. an einen V-Mann der Polizei zu einem Preis von 50,00 EUR bzw. 3.000,00 EUR. Die Übergabe erfolgte jeweils durch den Mittäter, der hierfür vom Kläger eine Entlohnung in Höhe von 250,00 EUR erhielt, während der Kläger jeweils absprachegemäß die Übergabe beobachtete und absicherte. Nach erfolgreicher Abwicklung der geschilderten Drogengeschäfte fassten der Kläger und der vorgenannte Mittäter R. – trotz anfänglicher Bedenken hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit des Abnehmers bestärkt durch den Zuspruch des Vaters sowie des älteren Bruders des Klägers – jeweils in Gewinnerzielungsabsicht den gemeinsamen Entschluss, 1 kg Heroin von dem anderweitig rechtskräftig verurteilten T. anzukaufen und aus dieser Menge 600g gewinnbringend an den Abnehmer vom 14. und 15. Mai 2017 zu verkaufen. In Ausführung dieses Tatentschlusses übergaben der Kläger sowie der Mittäter R. entsprechend dem mit dem Vater und dem Bruder des Klägers ausgearbeiteten Tatplan am 24. Mai 2017 dem V-Mann zunächst einen in Papier und Klebeband gewickelten Stein und, nachdem kein polizeilicher Zugriff erfolgte, das von dem Vater in Anwesenheit des Bruders des Klägers in der Nähe des Übergabeortes verwahrte Heroin in einer Menge von 596,5g zum Preis von 34.800,00 EUR, wovon R. tatplanmäßig 3.000,00 EUR erhalten sollte. Unmittelbar nach der Übergabe des Rauschgiftes erfolgte der polizeiliche Zugriff, welcher die Festnahme des Klägers und seiner Mittäter sowie die Sicherstellung des verkauften Heroins zur Folge hatte. Der Kläger befand sich seit diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft bzw. nach rechtskräftiger Verurteilung im Maßregelvollzug. Mit Beschluss des Landgerichts Regensburg – Strafvollstreckungskammer – vom 25. Mai 2020 wurde die Vollstreckung der weiteren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie des Restes der Gesamtfreiheitstrafe unter verschiedenen Weisungen zur Bewährung ausgesetzt, die Dauer der Führungsaufsicht und Bewährung wurde auf fünf Jahre festgesetzt.
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2. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor. Maßgeblich für die Beurteilung dieses Zulassungsgrundes ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7).
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2.1 Zur Begründung seines Zulassungsantrags ließ der Kläger mit Schriftsatz vom 18. Juni 2021 unter Vorlage u.a. einer eidesstattlichen Versicherung seiner (damaligen) Ehefrau vortragen, die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass von ihm eine Wiederholungsgefahr der Begehung von Straftaten ausgehe, sei rechtsfehlerhaft. Der Kläger habe seine Therapie erfolgreich beendet (m.V.a. die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte und der Bewährungshilfe). Gleichzeitig lasse auch das bisherige Verhalten des Klägers seit seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug positive Rückschlüsse zu, so habe er sich laut den Stellungnahmen der Therapieeinrichtung und der Bewährungshilfe bisher beanstandungsfrei verhalten. Sofern das Verwaltungsgericht in der Ehefrau des Klägers einen erheblichen Risikofaktor sehe, da diese selbst Drogenkonsumentin gewesen sei und nunmehr substituiert werde, werde dies den tatsächlichen Umständen nicht gerecht. Die Ehefrau des Klägers lebe seit fast vier Jahren drogenfrei. Auch sei es seit der Entlassung des Klägers aus dem Maßregelvollzug zu keinen Komplikationen im Hinblick auf die Substituierung der Ehefrau gekommen. Es sei unrichtig, die Umgangskontakte der Ehefrau des Klägers zu dem Vater ihrer Tochter als Kontakte in die Drogenszene von N. zu bezeichnen, zumal sie sich von dem Vater ihrer Tochter und dessen Verhalten losgesagt habe.
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Zudem gehe das Verwaltungsgericht zu Unrecht davon aus, dass die Geburt seines Sohnes keine Zäsur in der Lebensführung des Klägers darstelle. Der Zeitpunkt der Geburt habe bereits nach dem erfolgreichen Abschluss der Therapie gelegen. Der Kläger sei bereits auf Bewährung entlassen gewesen und verhalte sich seither straffrei. Bisher habe der Kläger keine Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die darauf schließen ließen, dass ihm die Begehung von Straftaten bzw. das Konsumieren von Betäubungsmitteln wichtiger sei als sein Kind. Im Gegenteil wiesen sämtliche vorgelegten Stellungnahmen darauf hin, dass der Kläger sich trotz der widrigen Umstände aufopferungsvoll um sein Kind kümmere. Daher könne hier neben dem erfolgreichen Therapieabschluss von einer weiteren Zäsur gesprochen werden.
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Richtigerweise gehe das Verwaltungsgericht von einer schützenswerten Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Kläger und seinem deutschen Kind aus und nehme daher auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse i.S.d. § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG an. Allerdings räume es sodann zu Unrecht der Ausreise des Klägers einen höheren Stellenwert ein als seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Der (zum damaligen Zeitpunkt) acht Monate alte Sohn des Klägers werde einen nur vorübergehenden Charakter der räumlichen Trennung nicht begreifen, sondern diese rasch als endgültigen Verlust erfahren. Hiermit verbundene nachteilige Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ließen eine auch nur kurzfristige Trennung von seinem Vater unzumutbar erscheinen (mit Verweis auf BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08). Die Erwägungen des Verwaltungsgerichts, dass die Ehefrau den Kläger gemeinsam mit ihren Kindern im Iran besuchen könne, seien unrichtig und trügen dem Kindeswohl nicht ausreichend Rechnung. Die Ehefrau des Antragstellers lebe von Arbeitslosengeld II. Hiervon könne sie gerade so den Lebensunterhalt der Familie sichern, weshalb keine finanzielle Möglichkeit gegeben sei, hiervon regelmäßig (Langstrecken-)Flugtickets für drei Personen zu erwerben. Auch würden regelmäßige, längerfristige Besuche im Iran die beiden Klein- bzw. Kleinstkinder stets aus ihrer gewohnten Umgebung in der eigenen Wohnung und im Kindergarten bzw. der Kinderkrippe herausreißen, was nicht dem Kindeswohl entspräche. Gleiches gelte für die dann stets wiederkehrenden Situationen der Trennung von dem Kläger. Zudem bestehe die Schwierigkeit, dass das ältere Kind nicht die leibliche Tochter des Klägers sei. Somit hingen (längere) Aufenthalte im Iran auch von der Zustimmung des leiblichen Vaters des Kindes ab, der die elterliche Sorge gemeinsam mit der Mutter ausübe. Sofern das Verwaltungsgericht darauf verweise, dass der Kontakt zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau bzw. seinem Kind mittels Videotelefonie aufrechterhalten werden könne, lasse dies außer Acht, dass eine derartige Interaktion den persönlichen Kontakt des Kindes zu seinen Eltern, der gerade aufgrund des damit verbundenen Aufbaus und der Kontinuität emotionaler Bindungen in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes diene; nicht ersetzen könne (unter Verweis auf BVerfGE 56, 363/384; 79, 51/63 f.). Gefühle und Befindlichkeiten würden über innerliche und äußere Regungen übertragen, welche für einen Säugling bzw. ein Kleinstkind nicht über Videotelefonie auf Abruf transportierbar seien. Es entspreche nicht der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, einen Trennungszeitraum von fünf Jahren als absehbar und damit zumutbar zu erachten (mit Verweis auf BVerfG, B.v. 22.2.2019 – 2 BvQ 9/19). Das Verwaltungsgericht hätte deshalb in seiner Gesamtabwägung dem Interesse des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet den Vorrang einräumen müssen, wie es insbesondere der grundrechtliche Schutz der Familie gemäß Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gebiete.
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Aus den genannten Gründen erweise sich zumindest das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot von fünf Jahren als rechtswidrig.
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Mit Schriftsatz vom 12. Januar 2023 wurde ergänzend vorgetragen, die Ehe des Klägers sei seit dem 2. Juni 2022 rechtskräftig geschieden. Versuche der Ex-Ehefrau des Klägers, diesem den Umgang mit seinem Sohn zu verwehren, seien mittlerweile im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens abgewehrt worden. Der Umgang werde nun jedes Wochenende, und zwar jeweils im wöchentlichen Wechsel zwischen sonntags ganztags und Freitag bis Sonntag, in der Asylbewerberunterkunft, in welcher der Kläger wohne, wahrgenommen (vgl. die mit Schriftsatz vom 20.2.2023 vorgelegte Umgangsvereinbarung vom 3.2.2022, welche die o.g. Angaben zum Umgang bestätigt). Kontakte des Klägers mit seiner Ex-Ehefrau fänden nur bei den kurzen Übergaben des Kindes statt. Wegen der Scheidung und des nahezu vollständigen Abbruchs von Kontakten zu seiner Ex-Ehefrau sei die vom Verwaltungsgericht als „höchst problematisch“ eingestufte Nähe zur Drogenszene nicht mehr vorhanden. Zudem wäre im Falle einer Rückführung des Klägers ein vollständiger Abbruch des Kontaktes zu seinem Sohn zu befürchten, da die Ex-Ehefrau bereits kurze Zeit nach der Trennung versucht habe, den Umgang des Klägers mit seinem Sohn zu unterbinden und dem Kläger das Sorgerecht zu entziehen. Eine Rückführung des Klägers würde es der Ex-Ehefrau erleichtern, den von ihr erwünschten Kontaktabbruch zu verfestigen. Des Weiteren sei der Kläger ab sofort ehrenamtlich für das Bayerische Rote Kreuz als Übersetzer tätig. Im Rahmen der Führungsaufsicht sei es weiterhin zu keinen Auffälligkeiten oder Beanstandungen gekommen.
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2.2 Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen nur dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente schlagen jedoch nach dem Rechtsgedanken des § 144 Abs. 4 VwGO nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 9).
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2.2.1 Aufgrund des Zulassungsvorbringens bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts.
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Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens und der aktuellen Entwicklung ist nach dem persönlichen Verhalten des Klägers weiter von einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach § 53 Abs. 1 AufenthG auszugehen. Der Kläger hat sich durch den illegalen Handel mit Heroin in einer beträchtlichen Größenordnung schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte strafbar gemacht. In Anbetracht dieser Umstände ist die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass von dem Kläger auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht und aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung nicht darauf zu schließen ist, dass seine durch die vergangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit beseitigt ist, nicht zu beanstanden. Dies gilt vorliegend auch in Anbetracht der zwischenzeitlich erfolgten Strafaussetzungsentscheidung vom 25. Mai 2020 sowie der weiteren aktuellen Entwicklungen.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der eigenständig zu treffenden Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 11 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 3.3.2016 a.a.O.; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18).
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Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – juris Rn. 18; U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 17). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen und schließt auch eine positive Entscheidung über die Straf(rest) aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können; das Bundesverfassungsgericht anerkennt insoweit den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts und fordert für den Fall einer aufenthaltsrechtlich abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr eine substantiierte, eigenständige Begründung (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 24). Das Bundesverfassungsgericht erkennt mithin bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen zwei alternative Konstellationen an, in denen trotz einer Straf(rest) aussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: Eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. ebenso OVG Bremen, B.v. 28.9.2021 – 2 LA 206/21 – juris Rn. 27).
16
Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.): Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund. Es ist zu ermitteln, ob der Täter das Potential hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Anordnung dieser Maßregel genügt die hinreichend konkrete Aussicht (ein vertretbares Risiko ist einzugehen, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 67d Rn. 11), dass durch sie der Verurteilte über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt wird (§ 64 Satz 2 StGB), wobei „eine erhebliche Zeit“ in der Regel bereits ab einem Jahr angenommen werden kann (Schöch in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2008, § 64 Rn. 136 und in Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 705). Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil dann entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als freiheitsentziehende Maßnahme darf jedoch nach § 67 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich (vorbehaltlich des Satzes 3 der Bestimmung) zwei Jahre nicht übersteigen, muss in jedem Fall verhältnismäßig sein (§ 62 StGB) und insoweit umso strengeren Voraussetzungen genügen, je länger die Unterbringung dauert (BVerfG, B.v. 19.11.2012 – 2 BvR 193/12 – StV 2014, 148 ff.). Die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, ist somit bereits dann vorzunehmen, wenn für eine – im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont – relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht. Nichts Anderes gilt für die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.).
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Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potential, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 8 m.w.N.). Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich geringer als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die geringste Resozialisierungschance genutzt werden muss. Das Strafrecht unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25).
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Gemessen daran kann im vorliegenden Fall bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände auch unter Berücksichtigung der positiven Entwicklungen nicht der Schluss gezogen werden, dass durch die Bewährungsaussetzung der jeweiligen Vollstreckungen die vom Kläger ausgehende Gefahr soweit entfallen ist, dass dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gefährdet. Die in der Vergangenheit begangenen, schwerwiegenden Straftaten des Klägers aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz führen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Bewährungsphase noch andauert, zum Fortbestehen der konkreten Gefahren für höchste Rechtsgüter.
19
Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-149/09, „Tsakouridis“ – NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts – wie hier vorliegend – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, U.v. 30.11.1999 – Nr. 3437-97 „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401; U.v. 17.4.2013 – Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8).
20
Nach diesen Maßgaben hat sich der Kläger mit dem mehrfach verübten Drogenhandel schwerwiegend strafbar gemacht, er wurde mit Urteil vom 1. März 2018 u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das hohe Maß der Freiheitsstrafe spiegelt die Schwere der Schuld wider. Hinsichtlich der verhängten Strafrahmen für die Einzeltaten ist jedoch hervorzuheben, dass beim Kläger bereits für die Tat vom 24. Mai 2017 eine gravierende Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten angesetzt wurde. Insgesamt lassen die abgeurteilten Taten des Klägers insbesondere in Anbetracht der gehandelten Mengen an Drogen und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Größenordnung sowie in Anbetracht der überlegten, planvollen Vorgehensweise insbesondere bei der Tat vom 24. Mai 2017 eine besondere kriminelle Energie erkennen, die über herkömmliche Beschaffungskriminalität weit hinausgeht.
21
Die Ursache für die Begehung der genannten Straftaten bildete nach den – auf dem Sachverständigengutachten der Frau Dr. med. W.-L. vom 8. Oktober 2017 beruhenden – Feststellungen der Strafkammer und den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch die Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers, für den nach den gutachterlichen Feststellungen tatzeitbezogen eine Abhängigkeit von Opiaten, aber auch von Metamphetamin und Cannabis sowie ein Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, festgestellt wurden, weshalb gemäß § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde. Im Sachverständigengutachten vom 8. Oktober 2017 wurde festgestellt, dass der Kläger nach eigenen Angaben bereits in seiner Jugend ambulante fachpsychiatrische Hilfe in Anspruch genommen habe; maßgeblich sei – soweit retrospektiv beurteilbar – wahrscheinlich eine Anpassungsstörung mit vermutlich depressiven Verstimmungen und auch Ängsten gewesen; nicht ausschließbar habe die Problematik seine Drogenaffinität begünstigt sowie seine Primärpersönlichkeit beeinflusst (vgl. Sachverständigengutachten v. 8.10.2017, Bl. 52 der Strafvollzugsakte). Der Kläger blicke auf einen mehrjährigen Suchtmittelkonsum zurück und seine „vermutlich auch dem Suchtmittelkonsum geschuldete“ Delinquenzentwicklung impliziere eine soziale Gefährdung. Sollte er die Suchtmittelproblematik nicht beherrschen, so besteht nach gutachterlicher Einschätzung auch künftig ein erhöhtes, wenngleich mit den Mitteln der forensischen Psychiatrie nicht exakt quantifizierbares, Risiko für erneute Verstöße gegen das BtMG. Der Kläger habe sich in der Untersuchungssituation therapiebereit gezeigt; psychische oder physische Erkrankungen, welche ein grundsätzliches Therapiehindernis darstellen könnten, seien nicht bekannt, weshalb eine Therapie hinreichende Erfolgsaussicht habe (vgl. Sachverständigengutachten v. 8.10.2017, Bl. 52/53 der Strafvollzugsakte). Die Stellungnahme des Bezirksklinikums Regensburg vom 25. November 2019 (Bl. 54 der Strafvollzugsakte) bestätigt die Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms durch Opioide (ICD-10: F11.2). In dem durch das Landgericht Regensburg – Strafvollstreckungskammer – eingeholten Sachverständigengutachten des Herrn Dr. med. St. vom 18. März 2020 (Bl. 58 ff. der Strafvollstreckungsakte) wird die Diagnose einer Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2) gestellt. Der Opiumkonsum habe nur dadurch beendet werden können, dass eine Suchtverlagerung auf Heroin erfolgt sei. Aufgrund körperlicher Entzugssymptome habe die Abhängigkeit nicht beendet werden können, erst durch die Inhaftierung sei es zu einer Beendigung des multiplen Drogenkonsums gekommen.
22
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Erfolgschancen einer Therapie im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% liegen (vgl. Fabricius in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 35 Rn. 46 ff.: nur 25% der beobachteten Personen blieben strafrechtlich unauffällig und dürften eine Chance der sozialen Reintegration und der gesundheitlichen Stabilisierung erreicht haben; „bescheidene Erfolge“; nach Klos/Görgen – Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2020, S. 18 ff. – sind Rückfälle eher die Regel als die Ausnahme; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal haben in der bundesweiten Rückfalluntersuchung „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“ für den Zeitraum 2004/2010 bis 2013 – www.bmjv.de – ermittelt, dass nach Delikten gemäß BtMG innerhalb des 1. bis 3. Jahres 45% der Straftäter erneut registriert wurden, mit einer Zunahme von weiteren 11% auf 56% vom 4. bis 6. Jahr und weiteren 4% auf 60% innerhalb des 7. bis 9. Jahres des Beobachtungszeitraums; von der Gesamtpopulation der Straftäter wurden innerhalb von 3 Jahren 36% erneut verurteilt; betreffend Cannabis spricht Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters Universitätsklinikum Hamburg, von bescheidenen Behandlungserfolgen; langfristig abstinent seien nach einer Therapie nur etwa 25% der Patienten, zit. nach aok-Gesundheitsmagazin, 31.5.2021, www.aok.de). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11). Dies bedeutet, dass somit selbst eine im Maßregelvollzug erfolgreich absolvierte Drogentherapie nicht automatisch zu einem Entfallen der Wiederholungsgefahr führt.
23
Gemessen hieran ist vorliegend zwar zu würdigen, dass der Kläger erfolgreich eine stationäre Therapie durchlaufen hat sowie sich seit der Entlassung aus dem Maßregelvollzug am 13. Juni 2020 und somit schon seit mehr als zweieinhalb Jahren drogen- und straffrei geführt hat. In dem Sachverständigengutachten vom 18. März 2020, auf welches die Entscheidung zur Aussetzung des Maßregelvollzugs sowie des Strafrestes zur Bewährung gestützt ist, wird ausgeführt, es sei als günstig bezüglich der historischen Prognosefaktoren zu bezeichnen, dass der Kläger in einem intakten familiären Umfeld aufgewachsen sei und eine gute Schulbildung genossen habe, (im Herkunftsland) gearbeitet habe und sozial gut integriert sei. Die diagnostischen Kriterien für eine dissoziale Persönlichkeitsstörung lägen nicht vor, die depressive Episode sei einmalig gewesen, eine rezidivierende depressive Störung habe sich nicht entwickelt. Eine Alkoholabhängigkeit habe nur vorübergehend bestanden. Im Hinblick auf die Drogenabhängigkeit sei im positiven Sinne festzustellen, dass diese weder zu körperlichen noch zu psychischen Folgeschäden geführt habe. Die Motivation zur Überwindung der Drogenabhängigkeit habe sich bereits während der Untersuchungshaft entwickelt; seit drei Jahren führe der Kläger ein drogen- und deliktfreies Leben; im Maßregelvollzug habe er seine Deutschkenntnisse erheblich verbessern und Zugang zu seinen emotionalen Defiziten sowie Bedürfnissen finden können; es sei ihm gelungen, die Vorteile eines strukturierten Tagesablaufes und einer regelmäßigen sowie sinnvollen Arbeit zu erkennen; die Therapie sei ohne besondere Vorkommnisse und vor allem ohne Rückfälle in den Suchtmittelkonsum verlaufen. Ein protektiver sozialer Empfangsraum habe aufgebaut werden können. Es bestehe keinerlei Kontakt zum früheren Milieu mehr. Der Kläger wohne mit seinem abstinenten und arbeitenden Bruder zusammen. Der telefonische Kontakt zu seinem Vater, welcher seinen Opiumkonsum beendet habe, stelle eine wichtige Unterstützung dar. Bezüglich der eingegangenen Partnerschaft und Ehe sei aus gutachterlicher Sicht festzustellen, dass diese sowohl stützende als auch belastende Anteile habe. Der Kläger werde im Umgang mit seiner Ehefrau aber durch die ärztlichen und psychologischen Gespräche in der Ambulanz des Bezirkskrankenhauses P. bestätigt. Im Rahmen der gutachterlichen Exploration stelle sich der Kläger als stabil und belastbar dar. Er sei dankbar für die ihm zuteilwerdende therapeutische Hilfe und dazu motiviert, diese weiterhin in Anspruch zu nehmen. Zusammenfassend stellt der Sachverständige fest, dass bei dem Kläger bei Einhaltung der empfohlenen Weisungen keine Gefahr mehr bestehe, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs erneut erhebliche rechtswidrige Taten begehe (vgl. Gutachten vom 18.3.2020, Bl. 72/73 der Strafvollzugsakte).
24
Trotz der nachfolgenden Strafaussetzungsentscheidung vom 25. Mai 2020 ergibt sich vorliegend jedoch das Fortbestehen eines weiteren, engmaschigen Therapiebedarfs, so dass allein der formale Abschluss der Therapie im Maßregelvollzug sowie die derzeitige Drogen- und Straffreiheit des Klägers während laufender Bewährung noch nicht die Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens, insbesondere in Anbetracht der gewichtigen Betäubungsmitteldelinquenz und der erst kurzzeitigen Bewährungsphase rechtfertigen.
25
Das Bundesverfassungsgericht hat im Falle eines wegen Handeltreibens mit Marihuana zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilten Ausländers ausgeführt, dass es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend ist, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Im vorliegenden Fall ist demgegenüber unter Berücksichtigung der gehandelten „harten“ Droge Heroin, der sehr hohen Menge gehandelter Drogen, der arbeitsteiligen, organisierten und durchdachten Begehungsweise und der dadurch zum Ausdruck kommenden hohen kriminellen Energie eine Gefährdung höchster Rechtsgüter zu befürchten. Diese besteht trotz der zwischenzeitlich erfolgten Aussetzung des Strafrestes und Maßregelvollzugs fort:
26
In dem Sachverständigengutachten vom 18. März 2020 wird ausgeführt, hinsichtlich der historischen Risikofaktoren und der Persönlichkeitsentwicklung des Klägers seien die jahrzehntelange Opiumabhängigkeit des Vaters und die daraus bei dem Kläger resultierenden Ängste als prognostisch ungünstig zu bezeichnen. Als prognostisch ungünstig sei es auch zu bezeichnen, dass sich bei dem Kläger ab dem 15. Lebensjahr eine dissoziale Entwicklung eingestellt habe, die in Deutschland ihre Fortsetzung im Drogenmilieu von N. gefunden habe. Der Sachverständige benennt damit mehrere Faktoren, welche sich ungünstig auf die Prognose auswirken. Zwar ist aufgrund der mittlerweile erfolgten Ehescheidung der von dem Sachverständigen angeführte und auch von dem Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Gefahrenprognose herangezogene Risikofaktor in der Person der Ehefrau als früherer (mittlerweile substituierter) Drogenkonsumentin mit (angeblich) fortbestehendem Kontakt zur Drogenszene – in der Person des Kindsvaters ihrer älteren Tochter – möglicherweise entfallen. Des Weiteren hat der Vater des Klägers offenbar seine Opiumabhängigkeit überwunden, weshalb ein weiterer Risikofaktor für eine Rückfälligkeit des Klägers künftig entfallen könnte. Auch kommt der Sachverständige zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger bei Einhaltung der empfohlenen Weisungen keine Gefahr mehr bestehe, außerhalb des Maßregelvollzugs erneut erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen, weshalb der bedingten Entlassung zugestimmt werden könne. Diese Prognose des Sachverständigen ist jedoch – wie durch die Bezugnahme auf die vorgeschlagenen Weisungen deutlich wird – auf den für die Aussetzung des Maßregelvollzugs sowie der Vollstreckung des Strafrestes maßgeblichen Bewährungszeitraum bezogen, mithin auf den hier festgesetzten Zeitraum von fünf Jahren. Hinsichtlich der Gefahrenprognose einer Ausweisungsverfügung ist jedoch – wie ausgeführt – ein längerer Zeitraum anzusetzen, da es insoweit nicht um die Verwirklichung des strafrechtlichen Resozialisierungsgedankens, sondern um Gefahrenabwehr geht. Bezogen auf diesen längeren Zeitraum fehlt es an einer Prognose des Sachverständigen.
27
Auch unter Berücksichtigung des (möglichen) Entfallens einiger – von dem Sachverständigen benannter – Risikofaktoren bleibt festzuhalten, dass der Sachverständige eine dissoziale Persönlichkeitsentwicklung des Klägers festgestellt hat. Des Weiteren haben sowohl der Sachverständige als auch – diesem folgend – die Strafvollstreckungskammer die Notwendigkeit der Anordnung von Führungsaufsicht und Maßgaben für die Bewährung des Klägers gesehen. Nach dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 25. Mai 2020 steht der Kläger weiterhin unter dem nicht unerheblichen Druck der Bewährung und Führungsaufsicht. Die Strafvollstreckungskammer hat die zulässige Dauer der Bewährungszeit von maximal fünf Jahren vollends ausgeschöpft und sie nicht verkürzt (vgl. § 56a Abs. 1 Satz 2 StGB). Für die gesamte Dauer der Führungsaufsicht und Bewährungszeit wurde der Kläger der Aufsicht durch einen Bewährungshelfer unterstellt. Die Bewährungshilfe zeichnet sich zudem durch eine engmaschige Betreuung und eine intensive Überwachung aus (mindestens einmal im Monat, höchstens dreimal im Monat persönliche Vorsprache beim Bewährungshelfer; mindestens einmal und höchstens viermal im Quartal Kontrollen des Abstinenzgebots; zweimal pro Monat nach näherer Absprache mit den behandelnden Therapeuten, Vorstellung in der forensisch-psychiatrischen Ambulanz des Klinikums). Die Strafvollstreckungskammer hat die Dauer der Führungsaufsicht gemäß §§ 67d Abs. 2, 68c Abs. 1 StGB nicht verkürzt, um nachhaltig auf die zukünftige Lebensführung des Verurteilten einwirken zu können. Als strafbewehrte Weisungen wurden neben einem Abstinenzgebot und dessen Kontrolle durch Urin- bzw. Speichelkontrollen mindestens einmal und höchstens viermal im Quartal bei der forensisch-psychiatrischen Ambulanz des Klinikums auch festgesetzt, dass der Kläger sich zweimal pro Monat nach näherer Absprache mit den behandelnden Therapeuten in der forensisch-psychiatrischen Ambulanz des Klinikums vorzustellen hat. Der fortbestehende Behandlungsbedarf des Klägers wird auch in der Weisung der Strafvollstreckungskammer nach § 68b Abs. 3 StGB deutlich, wonach er sich u.a. durch die forensisch-psychiatrische Ambulanz des Klinikums behandeln zu lassen hat. Der Kläger befindet sich mithin im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt noch mitten in der bis 25. Mai 2025 andauernden, fünfjährigen Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit und der Unterstellung unter die Bewährungshilfe, so dass trotz des positiven Therapieverlaufs im nunmehr ausgesetzten Maßregelvollzug noch nicht ohne Weiteres von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Änderung der Verhaltensmuster in Freiheit ohne den genannten Druck, die angeordneten Kontrollen und die für erforderlich erachtete fortwährende therapeutische Behandlung ausgegangen werden kann.
28
Die Geburt des Kindes und die elterliche Verantwortung haben keine „Zäsur“ in der Lebensführung des Klägers dargestellt, die eine straffreie Lebensführung erwarten ließe (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16 u. 23, B.v. 10.5.2008 – 2 BvR 588/08 – juris Rn. 11 ff. jeweils m.w.N.). Die genannten Umstände rechtfertigen angesichts der in der Vergangenheit massiven Straffälligkeit des Klägers und der fortdauernden Führungsaufsicht und Bewährung für sich genommen noch nicht die Annahme eines künftig straf- und drogenfreien Lebenswandels des Klägers. Vielmehr müsste sich ein solcher Wandel erst in einer nachhaltigen Verhaltensänderung manifestiert haben, um von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr ausgehen zu können.
29
Zusammenfassend besteht aus den dargestellten Gründen die konkrete Wiederholungsgefahr auch in Anbetracht des bereits verstrichenen Bewährungszeitraums von mehr als zweieinhalb Jahren und der bisher beanstandungsfreien Führung des Klägers fort. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, welche Schlussfolgerungen sich hinsichtlich des Rückfallrisikos des Klägers aus seiner durch den zwischenzeitlichen stationären Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik (der Kläger befand sich vom 5.5. bis 8.7.2021 wegen schwerer depressiver Episode mit – damals – akuter Suizidalität im Bezirkskrankenhaus A. in stationärer Behandlung, vgl. den vorläufigen Entlassungsbericht, Bl. 105 ff. der VGH-Akte, sowie vom 14.7. bis 26.8.2021 in teilstationärer Behandlung im Klinikum N., vgl. Bl. 59, 98, 102 d. VGH-Akte) zutage getretenen psychischen Erkrankung – die zu der Einschätzung im Sachverständigengutachten vom 18. März 2020, dass sich keine rezidivierende depressive Störung entwickelt habe, in einem gewissen Spannungsverhältnis steht – ergeben.
30
2.2.2 Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger auch die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
31
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und allein in den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt/Bauer, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
32
Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der Abwägung die Bleibeinteressen des Klägers zutreffend gewürdigt, ist jedoch in nicht zu beanstandender Weise in Anbetracht des Gewichts der begangenen Straftaten von einem Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses ausgegangen.
33
Nach der gesetzlichen Typisierung hat der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG (aufgrund der Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten) verwirklicht. Auch die Bejahung eines kausalen Zusammenhangs zwischen einem Abhängigkeitssyndrom und des den Ausweisungsanlass bietenden strafrechtlichen Schuldspruchs vermag das Gewicht des Ausweisungsinteresses nicht maßgeblich zu reduzieren, zumal dieser Umstand bereits bei der Strafzumessung zu Gunsten des Klägers Berücksichtigung fand, aber gleichwohl eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten zu verhängen war. Diesem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse steht zwar das gleich gewichtige besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG (wegen der familiären Lebens- bzw. Beistandsgemeinschaft mit seinem Kind deutscher Staatsangehörigkeit) gegenüber. Auch nach der Ehescheidung ist weiter von einer familiären Lebensgemeinschaft des Klägers mit seinem minderjährigen Sohn auszugehen, der im Rahmen des Umgangsrechtes im wöchentlichen Wechsel jeweils einen ganzen Sonntag bzw. ein ganzes Wochenende (von Freitag bis Sonntag) bei dem Kläger verbringt. Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20). Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.).
34
Vorliegend führen die besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen, resultierend aus der vom Kläger verübten schweren Drogenkriminalität, dazu, dass das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des Klägers im Rahmen der Abwägung zurückzutreten hat. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls.
35
Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207, Rn. 12). Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22/10 – juris Rn. 4). Selbst gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie hier – die Geburt eines Kindes keine „Zäsur“ in der Lebensführung des betroffenen Ausländers darstellt (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers, in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris). Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sogenannten „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. U.v. 18.10.2006 – „Üner“ – juris Rn. 57 ff.). Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vorzunehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 8.09 – juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR).
36
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021, a.a.O. m.w.N.).
37
Gemessen an diesen Grundsätzen berücksichtigt die von dem Verwaltungsgericht bestätigte Ausweisung angemessen die Bindung des Klägers zu seinem Kind und auch das Kindeswohl. Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen jedenfalls das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte private Interesse an der Aufrechterhaltung einer familiären Beistands- bzw. Begegnungsgemeinschaft. Ebenso lässt unter der Annahme, dass die Ausweisung des Klägers einen Eingriff in sein durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Familienleben bedeutet, Art. 8 Abs. 2 EMRK hier einen solchen Eingriff zu, weil er „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die … öffentliche Sicherheit“. Denn die bei der Abwägung einzustellenden Interessen von Vater und Kind am weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet besitzen erheblich weniger Gewicht als die gegen einen weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet sprechenden Gründe. Festzuhalten ist zudem, dass das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 44).
38
In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass die Eheschließung und die Zeugung des Sohnes in Kenntnis der rechtskräftigen Verurteilung des Klägers wegen gravierender Straftaten sowie seiner daraus resultierenden aufenthaltsrechtlichen Situation erfolgt sind. Der Kläger und seine Familienangehörigen konnten daher nicht darauf vertrauen, die in Ansehung der Ausreisepflicht eingegangene familiäre Gemeinschaft im Bundesgebiet ungehindert fortsetzen zu können. Hinzu kommt der Umstand, dass eine Abschiebung des Klägers derzeit nicht sehr wahrscheinlich ist, da die Innenministerkonferenz am 2. Dezember 2022 einen faktischen Abschiebestopp für Rückführungen in den Iran beschlossen hat (vgl. TOP 16 der Beschlüsse der 218. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 2.12.2022, https://www.imk2022.bayern.de/wp-content/uploads/2022/12/Freie B…02.pdf, abgerufen am 22.2.2023). Eine Unterbrechung des persönlichen Umgangs des Klägers mit seinem Sohn entsprechend der vereinbarten Umgangsregelung beruht daher derzeit auf einer nur theoretischen Annahme. Selbst wenn eine Rückführung des Klägers in sein Herkunftsland – gegebenenfalls nach einer in Ziffer 2 des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom 2. Dezember 2022 u.a. bei Straftätern vorbehaltenen Einzelfallprüfung – in absehbarer Zeit durchgeführt werden sollte, wäre es diesem jedoch möglich und zumutbar, trotz räumlicher Trennung die Bindung zu seinem Sohn – zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre – in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr aufrechtzuerhalten, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist. Dabei wird nicht verkannt, dass der Abbruch des persönlich-körperlichen Kontaktes zu seinem Vater für einen längeren Zeitraum einen gravierenden Eingriff in das Recht des (Klein-)Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen darstellt. Wie dargestellt führen jedoch selbst schwerwiegende Eingriffe in das Recht der Familienangehörigen aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zwangsläufig zur Rechtswidrigkeit einer Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers zugunsten der öffentlichen Sicherheit. Vielmehr steht diesen Rechten – wie dargelegt – das für die Aufenthaltsbeendigung sprechende schwerwiegende Ausweisungsinteresse gegenüber. Im Rahmen des verhältnismäßigen Ausgleichs dieser Interessen ist zu berücksichtigen, dass die Beeinträchtigung des Kindeswohls durch die Aufrechterhaltung des Kontaktes aus der Ferne via moderner Kommunikationsmittel abgemildert werden kann. Der Sohn des Klägers ist mittlerweile (beinahe) zweieinhalb Jahre alt ist und damit in einem Alter, in dem ein Kind durchaus auch eine Kontaktaufnahme über Fernkommunikationsmittel wahrnehmen und den vorübergehenden Charakter einer Trennung begreifen kann. Ohne Erfolg wendet der Kläger dagegen ein, dass die Kindesmutter versuchen werde, seine derartigen Kontaktaufnahmen mit seinem Sohn zu unterbinden. Denn es wäre dem Kläger für den Fall eines (erzwungenen) Aufenthaltes im Ausland gegebenenfalls zumutbar, sein Umgangsrecht durch einen Bevollmächtigten im Bundesgebiet – gegebenenfalls auch mit gerichtlicher Hilfe – durchzusetzen, was ihm nach seinem eigenen Vortrag bereits nach der Ehescheidung gelungen ist. Des Weiteren besteht – auch ohne eine behördliche Zusage – gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG die Möglichkeit einer kurzfristigen Betretenserlaubnis, um im Einzelfall unbillige Härten zu vermeiden.
39
2.2.3 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht bestätigte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 AufenthG (i.d.F. vom 17.3.2021) auf die Dauer von fünf Jahren.
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Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des (nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Einzelfall anzuordnenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ändert das Erfordernis einer Ermessensentscheidung nichts am behördlichen Prüfprogramm. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben aus Art. 7 EU-GR-Charta und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern es bedarf nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23).
41
Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 20.6.2017 – 10 B 17.135 – juris). Daher sind die Ermessenserwägungen, die die Beklagte ihrer Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung ihrer behördlichen Befristungsentscheidung entsprechend während des Zulassungsverfahrens ergänzt hat, vom Senat bei der gerichtlichen Überprüfung mit zu würdigen.
42
Gemessen an diesen Vorgaben hat das Verwaltungsgericht zutreffend Ermessensfehler verneint. Die Beklagte hat das ursprünglich auf die Dauer von acht Jahren festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach erneuter Würdigung der geltend gemachten Umstände in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auf die Dauer von fünf Jahren befristet. Dabei wurde einerseits insbesondere die aus dem Verhalten des Klägers resultierende tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft berücksichtigt, andererseits aber auch zutreffend die familiären Bindungen des Klägers zu seinem sich im Bundesgebiet (als deutscher Staatsangehöriger berechtigt und dauerhaft) aufhaltenden minderjährigen Sohn sowie das Kindeswohl gesehen und wurde beanstandungsfrei eine Befristung von fünf Jahren für angemessen erachtet. Die Ermessenserwägungen wurden seitens der Beklagten unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags in nicht zu beanstandender Weise aktualisiert.
43
Wie ausgeführt führt die Aussetzung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Rahmen des Maßregelvollzugs im vorliegenden Fall weder zu einem Fortfall der Wiederholungsgefahr, noch vermag dieser Umstand das Gewicht des besonders schwerwiegenden öffentlichen Ausweisungsinteresses im Rahmen der Abwägung in maßgeblicher Weise zu verringern. Die aktualisierte Ermessensentscheidung der Beklagten, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre aufrechtzuerhalten, lässt insoweit keine Ermessensfehler erkennen.
44
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
45
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO).
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).